12. November 2013
Auch im Jahre 2013: Schuld war nur Hitler!
Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft und das Massaker von Sant‘Anna di Stazzema
Der 12. August 1944 in Sant‘Anna di Stazzema
560 Tote, Säuglinge, Kinder, Frauen und Alte. Die angebliche "Partisanenbekämpfungsaktion" in den Morgenstunden des 12. August 1944
in dem toskanischen Dorf Sant’Anna di Stazzema war in Wirklichkeit ein grausamer Akt gegen die unbeteiligte Zivilbevölkerung.
Ahnungs- und wehrlos waren sie, als die Einheiten der 16. SS-Panzergrenadierdivision "Reichsführer SS" kamen, um das Dorf und die Bewohner
zu vernichten. Die SS wütete furchtbar und gnadenlos. Jeder dieser gut ausgebildeten SS-Angehörigen wusste, dass keine Partisanen
im Dorf waren. Sie wussten, dass die Division ein Völkerrechtsverbrechen beging.
Der heutige Vorsitzende des Vereins der Opfer von Sant’Anna di Stazzema, der damals zehnjährige Enrico Pieri, verlor an diesem Tag alles:
seine Eltern, seine Geschwister, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, insgesamt 27 Familienmitglieder. Eine amerikanische Militärkommission
der nachrückenden Alliierten erhob kurze Zeit nach dem Massaker Zeugenbeweise, oft präzise Berichte über diesen Augustmorgen. Doch
die Akten wurden in den folgenden Jahren kaum bearbeitet.
Die Remilitarisierung der Bundesrepublik und der "Schrank der Schande"
Nachdem die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1955 die Bundeswehr gegründet hatte, der NATO beigetreten war und das erste Anwerbeabkommen
mit Italien abgeschlossen hatte, waren Kriegsverbrecherprozesse gegen den NATO-Partner nicht opportun. Im Jahr 1960 wurden
695 Akten im sogenannten "Schrank der Schande" im Palazzo Cesi, dem Sitz der Militärstaatsanwaltschaft "vorläufig" archiviert,
einige hundert gegen "Unbekannt" geführte Akten wurden der italienischen Militärjustiz, 20 wurden der Bundesrepublik übergeben.
Danach geschah über Jahrzehnte nichts.
Tatsächlich wusste man in der römischen Militärstaatsanwaltschaft, dass die über die NS-Verbrechen geführten Akten im Keller lagerten und nicht
ganz zufällig suchte man anlässlich des gegen den deutschen Kriegsverbrecher Priebke geführten Verfahrens in diesem Schrank nach Beweismaterial.
Es fanden sich in Rom im Jahre 1994 knapp 700 Ermittlungsvorgänge - Unterlagen über die in der Toskana von SS und Wehrmacht begangenen Massaker.
Während in Italien die Militärstaatsanwaltschaft La Spezia unter Hochdruck mit der Auswertung der ihnen zugeteilten Akten und neuen
Untersuchungen begann, wurde in der Bundesrepublik Deutschland erst Ende 1996 bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen
zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg Ermittlungen aufgenommen. Fahrt nahm das Verfahren erst
2002 auf, als Amtshilfeersuchen aus Italien die deutschen Ermittlungsbehörden aufforderten, Zeugen und Beschuldigte zu vernehmen.
Ende 2002 gab die Zentrale Stelle das Verfahren gegen 14 Beschuldigte an die Staatsanwaltschaft Stuttgart ab. Hier stockte das Verfahren erneut.
Lebenslänglich in Italien im Jahre 2005
Währenddessen kam es in La Spezia zur Anklage und - nach einjähriger Verhandlung - am 22. Juni 2005 zu einem Urteil. Die zehn
Angehörigen der 16. Division der Waffen-SS hatten sich zum Teil durch Pflichtverteidiger, zum Teil durch Wahlverteidiger vertreten
lassen und waren zum Prozess nicht erschienen. In Abwesenheit wurden die Angeklagten wegen hundertfachen Mordes in Sant‘Anna zu
lebenslänglicher Haft verurteilt. Das Militärgericht hatte alle verfügbaren Beweismittel herangezogen, die Soldbücher ausgewertet und
Auskunft bei der Wehrmachtsauskunftsstelle in Berlin und dem sogenannten "Krankenlager" eingeholt. So konnte nachgewiesen werden, in welcher
Funktion und bei welcher Einheit die Verurteilten in Sant‘Anna gewesen waren. Durch Befragung von Zeugen und Historikern, durch
Geständnisse ehemaliger SS-Angehöriger und aufgrund der von den Alliierten erhobenen Beweise konnte nachvollzogen werden,
welche Einheiten vor Ort eingesetzt waren und wer aufgrund seines Ranges die verbrecherischen Befehle zumindest weitergegeben haben
musste. Das Geschehen wurde bis ins Detail aufgeklärt.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart reagierte noch am Tag der Urteilsverkündung öffentlich und erklärte, es handele sich
um einen "Schnellschuss aus der Hüfte". Die 10 verurteilten ehemaligen Angehörigen der 16.
Waffen-SS Panzergrenadierdivision "Reichsführer SS" seien willkürlich herausgepickt und
pauschal verurteilt worden. Der Inhalt des italienischen Urteils wurde ignoriert.
Das Urteil von La Spezia wurde im Jahr 2007 rechtskräftig und vollstreckbar. Die danach von der Staatsanwaltschaft La
Spezia gestellten Anträge auf Auslieferung der Verurteilten wurden zurückgewiesen, weil sich ein deutscher
Staatsangehöriger nicht ausliefern lassen muss. Die in der Folge gestellte Anträge des italienischen
Justizministeriums auf Übernahme der Vollstreckung des Urteils gegen die in der Bundesrepublik
lebenden Verurteilten wurden bis zum heutigen Tage nicht beschieden.
"Mangelnder Tatverdacht" in Stuttgart
Nach zehnjähriger Ermittlung stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Ermittlungsverfahren gegen die
ehemaligen SS-Angehörigen am 26. September 2012 mangels Tatverdachts ein. Zu diesem Zeitpunkt lebten
von den ehemals 14 Beschuldigten nur noch sieben. Die Staatsanwaltschaft ging zwar davon aus, dass
das äußere Tatgeschehen des Massakers aufgeklärt sei und dass es sich um ein Kriegsverbrechen
gehandelt habe. Sie behauptete aber gleichzeitig einen nicht zu behebenden Mangel an Information. In den zehn Jahren
der deutschen Ermittlungen sei es nicht gelungen, einen individuellen Schuldnachweis für den Mordtatbestand
zu führen. Allein die Zugehörigkeit zu einer an dem Massaker beteiligten Einheit genüge nicht, denn
es gebe keine Nachweise einer vorher geplanten und befohlenen Vernichtungsaktion gegen die Zivilbevölkerung.
Möglicherweise sei es "nur" um die Bekämpfung von Partisanen und die Ergreifung arbeitsfähiger
Männer gewesen. Das Massaker wäre dann "spontan" vor Ort "passiert".
Dem widerspricht ein öffentliches Geständnis, das bereits im Jahr 1999 der Beschuldigte und ehemalige SS-Unterscharführer
Horst E. in der Süddeutschen Zeitung abgelegt hatte. Er berichtete, der Befehl zum "Bandeneinsatz" sei schon am Abend vorher
ergangen. Der habe gelautet, man befinde sich im Partisanengebiet und jeder, den man treffe, sei zu erschießen, auch Frauen. Er selbst
habe in Sant‘Anna die Tür zu einem Stall geöffnet, in dem sich 20-25 Zivilisten befunden hätten. Er habe
Kameraden gerufen, die hätten - "drrrr" - mit dem Maschinengewehr in den Stall hineingehalten und alle erschossen.
Nach diesem Geständnis passierte nichts. Erst im Mai 2002 wurde Horst E. vernommen - trotz des Geständnisses
als Zeuge, nicht als Beschuldigter. Im Sommer 2003 ist er verstorben.
Dem widerspricht auch die Aussage des zweiten Geständigen, des ehemaligen SS-Rottenführers Ludwig G.
Er hatte sich 1941 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und gestanden, in Sant‘Anna auf eine Gruppe von über 20 Frauen
und Kindern geschossen zu haben. Gleichwohl wurde dieser Beschuldigte von den deutschen Ermittlern noch bis zum Sommer
2004 als Zeuge und erst danach als Beschuldigter geführt. Er ist Anfang 2011 verstorben, ohne angeklagt worden zu sein.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart war nicht bereit, die Bedeutung der Bandenbekämpfungsbefehle Hitlers aus dem Jahre 1942
und des Oberbefehlshabers der deutschen Truppen in Italien, Generalfeldmarschall Kesselring aus dem Jahre 1944, zu
berücksichtigen. Darin wurde ein rücksichtsloses Vorgehen gegen Zivilbevölkerung, "auch gegen Frauen und Kinder"
ausdrücklich verlangt. Das Massaker von Sant‘Anna di Stazzema entsprach exakt diesen Befehlen. Nach
den Forschungsergebnissen des Historikers Gentile hatte das II. Bataillon der 16. SS-Division vier Tage vor dem Massaker
in geringer Nähe zu Sant‘Anna Verluste durch Partisanen erlitten, so dass Gentile von einem Akt der
Rache und der Vergeltung ausgeht. Denn wo immer die SS Widerstand vermutete, wurden in dieser Zeit Vernichtungsaktionen
durchgeführt. Die 16. SS-Division war die blutrünstigste deutsche Einheit in Italien. In nur zwei Sommermonaten
des Jahres 1944 fielen ihr 2.500 italienische Zivilisten zum Opfer, darunter die Ermordeten von Valla (107 Tote)
und Vinca (200 Tote) im August 1944 und von Marzabotto (770 Tote) Ende September 1944.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart war auch nicht bereit anzuerkennen, dass es sich nicht um verjährten Totschlag,
sondern um nicht verjährbaren Mord handelte. Mit ihrer Einstellungsverfügung versuchte sie zu vernebeln,
dass von jedem Anwesenden erkannt worden sein muss, dass die Massenerschießungen, dass das Verbrennen von Menschen
am lebendigen Leib ein Kriegsverbrechen war und dass die Befehle auf keinen Fall hätten befolgt werden
dürfen. Es muss bei den Mitgliedern der Waffen-SS eine innere Haltung gegeben haben, die diese Befehle befürwortet hat.
Sie müssen einverstanden gewesen sein mit dieser menschenverachtenden, quälenden Behandlung der Kinder, Frauen
und Alten. Die Motivation zum grausamen Töten mit gemeingefährlichen Waffen - Maschinengewehren - und aus einer auf
unterster Stufe stehenden Gesinnung erfüllt drei von dem deutschen Strafgesetz geforderten Mordmerkmale.
Gegen die Einstellungsentscheidung hat der Nebenkläger Enrico Pieri im Oktober 2012 Beschwerde erhoben und hat
den Sachverständigen Gentile mit einer Überprüfung der Einstellungsentscheidung aus historischer Sicht
beauftragt. In einem umfangreichen Gutachten hat Gentile nun den Verlauf des Massakers minutiös nachgezeichnet. Er ist zu
dem zwingenden Schluss gekommen, dass die Aktion in Sant‘Anna in militärisch-operativer Hinsicht sorgfältig
geplant war und dass die Ermordung der Einwohner der sogenannten "gesäuberten Bandengebiete" als "Banditen"
oder "Bandenhelfer" schon vor Beginn des verbrecherischen Unternehmens feststand. Die SS tötete nicht spontan,
sondern begann mit dem Morden schon beim Aufstieg nach Sant‘Anna, als willkürlich die ersten völlig
unbeteiligten Zivilisten umgebracht wurden.
Auf den Vortrag der Beschwerde konnte die Generalstaatsanwaltschaft diesen Sachverhalt nicht mehr bestreiten. Gleichwohl
wies sie die Beschwerde im Mai 2013 zurück - zu diesem Zeitpunkt lebten nur noch fünf der Beschuldigten.
Der Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft folgte inzwischen weitgehend der Argumentation des Nebenklägers
Pieri. Der Mord wurde ebenso wenig bestritten wie die Tatsache, dass militärische Organisation nur
über die Befehlskette funktioniert. Um aber eine Anklage zu vermeiden, erging sich die Generalstaatsanwaltschaft
in Spekulationen zu Gunsten der Beschuldigten: es könne sogar sein, dass es sich um eine geplante Aktion
mit dem Ziel der Vernichtung der Zivilbevölkerung gehandelt habe. Aber mangels eines schriftlichen Befehls
müssten Zweifel bleiben und könne zu Gunsten der Beschuldigten nicht ausgeschlossen werden, dass es
in diesem Fall anders gewesen sei. Nach deutschem Recht reiche der Sachverhalt für den individuellen Schuldnachweis
selbst in dem Fall des Kompanieführers Gerhard Sommer nicht aus: Es könne sein, dass der verbrecherische Befehl
auch vor ihm möglichst lange geheim gehalten worden sei, selbst seine Position reiche nicht für die Annahme aus, er
sei an dem Morden selbst als Täter oder Gehilfe beteiligt gewesen.
Antrag auf Erzwingung der Anklage
Enrico Pieri hat im Juni 2013 beim Oberlandesgericht Karlsruhe Antrag auf gerichtliche Entscheidung und den Antrag gestellt,
die Staatsanwaltschaft zu verpflichten, unverzüglich Anklage zu erheben. Zu der Einstellung des Verfahrens mangels
Tatverdachts selbst gegen den Offizier und Kompanieführer Sommer hat er erklärt, die Ermittlungstatsachen
ließen "nur den Schluss zu, dass der Beschuldigte Sommer - mit seiner Vergangenheit und seiner Funktion - an der
Vernichtung der Zivilbevölkerung teilgenommen hat. Eine andere Interpretation des Sachverhalts hieße in der
logischen Fortführung des Gedankens, dass letztlich nur Hitler, vielleicht noch die verbrecherische
Führungsriege, Schuld auf sich geladen hätten, der Rest aber absichtslose, undolose
Werkzeuge der Verbrecher gewesen wären. Diese Phase der juristischen "Aufarbeitung" sollte überwunden sein."
Am 30. Oktober 2013 hat das Oberlandesgericht Karlsruhe entschieden, dass der Klageerzwingungsantrag gegen die inzwischen nur noch
vier lebenden Beschuldigten gegen drei der Beschuldigten unzulässig sei. Bei dem vierten Beschuldigten, dem ehemaligen
Kompaniechef der 7. Kompanie der SS-Einheit Gerhard S. aus Hamburg, wird derzeit noch geprüft, ob er verhandlungsfähig ist.
12.11.2013, Gabriele Heinecke
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