”Nur wer zahlt, meint es ernst!”

Veranstaltung:
Die Verantwortungsverweigerung der Deutschen Bahn AG für die Beteiligung der Deutschen Reichsbahn am nationalsozialistischen Mordprogramm

Sonntag, 13. Oktober 2024, 18 Uhr
aquarium/Südblock (U-Kottbusser Tor, Berlin)
Eintritt frei, Spende erwünscht

Die Veranstaltung findet am Vorabend der offiziellen Gedenkfeier zum Beginn der Deportationen der Jüdinnen*Juden am Gleis 17 in Berlin statt.

Veranstalter*innen: AK-Distomo, Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e.V. und VVN-BdA Berlin

Tayo Awosusi-Onutor (Künstlerin und Mitbegründerin von RomaniPhen e.V.)
Achim Doerfer (Anwalt, Autor und Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Göttingen)
Martin Klingner (Rechtsanwalt, Aktivist im AK-Distomo)

Wie ernstgemeint ist das Gedenken in der Bundesrepublik Deutschland an die NS-Verbrechen? Die Veranstaltung beleuchtet die Frage, ob der deutsche Staat und seine Institutionen wie die Deutsche Bahn AG ernsthaft Verantwortung für die Beteiligung ihrer Rechtvorgänger/innen am NS-Mordprogramm übernehmen oder ob das Gedenken nur symbolisch bleibt. Wir setzen einen Kontrapunkt zur offiziellen Erinnerungspolitik, bei der Themen wie die Verfolgung von NS-Tätern und die unzureichende Entschädigung der Opfer ignoriert werden.

”Nur wer zahlt, meint es ernst”, sagt Salo Muller, der als jüdisches Kind von Widerständler*innen versteckt wurde und so den Nationalsozialismus in den Niederlanden überlebte. Seine Eltern wurden mit dem Zug nach Westerbork und Auschwitz deportiert und ermordet. Salo Muller forderte erfolgreich die niederländische Bahn (Nederlandse Spoorwegen) dazu auf Entschädigungszahlungen zu leisten. In der Bundesrepublik Deutschland hingegen verweigert die Deutsche Bahn AG Salo Muller und anderen Überlebenden und Angehörigen bis heute jegliches Gespräch.

Die Deutsche Reichsbahn verdiente gut an ihrer Mitwirkung am nationalsozialistischen Mordprogramm: Die Opfer mussten sogar für die Kosten ihrer eigenen Deportation selbst aufkommen. Schätzungen zufolge erhielt die Deutsche Reichsbahn umgerechnet etwa 445 Millionen Euro für diese Fahrten in Sammel-, Konzentrations- und Vernichtungslager.

Eine Diskussion über eine moralische, aber auch rechtliche Pflicht zu Entschädigungszahlungen wird systematisch verweigert. Die Deutsche Bahn AG, Rechtsnachfolgerin der Deutschen Reichsbahn, beteiligt sich zwar an Ausstellungen über ihre NS-Vergangenheit und spendet für die Gedenkstätte in Yad Vashem, weigert sich aber, ihre finanziellen und moralischen Schulden anzuerkennen.

Die deutsche Gedenkkultur wird oft als vorbildlich dargestellt, doch die tatsächliche Verantwortungsübernahme für NS-Verbrechen bleibt aus. Ein Beispiel für die fehlende Sensibilität ist die Planung einer neuen S-Bahn-Strecke der Deutsche Bahn AG in Berlin, deren Tunnel am Denkmal für die im NS ermordeten Roma*Romnja und Sinti*Sintizze entlang verlaufen soll. Bei Bauplanungen wird ein Schaden am Denkmal in Kauf genommen und das Andenken an die Opfer ignoriert und die Überlebenden und Angehörigen wurden nicht in die Planung einbezogen.

Am Tag vor dem offiziellen Gedenken an die Deportationen der Jüdinnen*Juden am Gleis 17 in Berlin wollen wir über das Auseinanderfallen von kulturellen Formen einer Verantwortungsübernahme, die vor allem dem Selbstbild der NS-Nachfolgegesellschaft dienen, und der fehlenden materiellen Haftung im Interesse der Opfer und Angehörigen ins Gespräch kommen. Welche Kritik gibt es an der Gedenkpolitik in Deutschland und welche Perspektiven gehen im öffentlichen Diskurs unter?

Tayo Awosusi-Onutor ist Sängerin, Autorin, Verlagsinhaberin, Filmemacherin, Mitbegründerin von RomaniPhen e.V. und Teil der IniRromnja, zwei feministische Selbstorganisationen. In ihrer Kunst verbindet die Afro-Sintezza den Kampf gegen Diskriminierung mit Erinnerungskultur. Seitdem die Pläne bekannt sind, für den Bau einer neuen S-Bahn das Denkmal für die ermordeten Roma und Sinti Europas zeitweise zu schließen und seine Gestalt zu verändern, engagiert Tayo Awosusi-Onutor sich in der von Roma*Romnja und Sinti*Sintizze getragenen Protestbewegung.

Achim Doerfer ist Rechtsanwalt, promovierter Rechtsphilosoph und Publizist, war lange Jahre Bundesvorsitzender der ”Liberalen Türkisch-Deutschen Vereinigung”, ist Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Göttingen, stellvertretender Vorsitzender des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden Niedersachsens. In seinem Buch ”Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen” thematisiert Achim Doerfer jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, die Defizite von Strafverfolgung und die Dominanz eines christlich geprägten Versöhnungsverständnisses.

Martin Klingner vom Arbeitskreis-Distomo und Rechtsanwalt von Salo Muller wird darlegen, wie sich eine allgemeine politische Haltung in Deutschland in der Verweigerung der Entschädigungspflichten der Deutsche Bahn AG als Nachfolgerin der Reichsbahn spiegelt. Der AK-Distomo kämpft seit vielen Jahren für die Entschädigung von NS Opfern.

Anschließend Diskussion mit allen Anwesenden.

Link zur VVN Berlin

Erinnerung an italienische Militärinternierte 2024

Erinnerung an die NS-Zwangsarbeiter auf dem Sportplatz an der Max-Brauer-Allee
Redebeitrag von Jan Krüger vom 6. September 2024

Michele Montagano ist am 4. August 2024 im italienischen Campobasso im Alter von 102 Jahren gestorben. Er war im II. Weltkrieg Offizier in der italienischen Armee und wurde im September 1943, kurz nachdem Italien einen Waffenstillstand mit den Alliierten vereinbart hat, von deutschen Soldaten gefangen genommen. Die Italiener wurden aufgefordert, mit der Deutschen Wehrmacht weiter zu kollaborieren. Wer das ablehnte, wurde gefangen genommen. Wie die meisten der italienischen Soldaten verweigerte auch Michele Montagano. Er wurde wie ca. 600.000 andere in Lager eingesperrt und musste Zwangsarbeit leisten. Michele Montagano wurde nach Osteuropa transportiert und in Polen und in der Ukraine in Lagern inhaftiert. Im Februar 1944 kam er nach Deutschland wo er u.a. im niedersächsischen Sandbostel war. Bis zum Tag der deutschen Niederlage musste er als Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Von den insgesamt ca. 600.000 gefangenen, italienischen Soldaten starben mehr als 50.000.

Zurück in Italien war seine Situation ebenfalls schwer. In der Öffentlichkeit war das Schicksal der italienischen Militärinternierten als Zwangsarbeiter kaum bekannt. Folglich wurden sie als Verfolgte des NS-Regimes nicht anerkannt. Michele Montagano hat zwar eine Entschädigung erhalten, da er Häftling eines Vernichtungslagers war. (Das Geld hat er der Vereinigung der italienischen Militäinternierten (ANRP) gespendet.) Für die 20 Monate andauernde Gefangenschaft und Zwangsarbeit hat er, wie so viele andere allerdings keine Entschädigung erhalten. Dieser Teil seiner Geschichte ist die einer weiteren Demütigung von deutscher Seite.

Als im Jahr 2000 unter massiven Druck der USA ein Fonds aufgelegt wurde, der die Zwangsarbeiter des NS-Staats entschädigen sollte, gab es auch in Italien Hoffnungen. Der Fonds wurde von der deutschen Stiftung ”Erinnerung, Verantwortung und Zukunft” (EVZ) verwaltet. Auch Michele Montagano stellte einen Antrag bei der EVZ. Doch die deutsche Regierung schloss die IMIs aus und verweigerte ihnen somit selbst eine kleine Entschädigung. Eine Entschädigung aus dem Fonds wurde ihnen verweigert da sie ”normale” Kriegsgefangene gewesen seien, und damit nicht entschädigungsberechtigt. Die Nazis hatten sie allerdings 1943 zu Zivilisten, nämlich zu ”Militärinternierten” erklärt, um ihnen die wenigen Rechte eines Kriegsgefangenen auch noch zu verweigern. Als Zivilisten wären sie damit berechtigt gewesen, Gelder aus dem Zwangsarbeiterfonds zu erhalten. Im Jahre 2000 behauptet die Bundesregierung auf Basis eines Rechtgutachten jedoch, dass die Nazis damals im Jahre 1943 illegal gehandelt haben und die italienischen Zwangsarbeiter somit doch Kriegsgefangene gewesen seien und ihnen somit keine Entschädigung zustand.

Serafino Gesparino, der als IMI in Deutschland Zwangsarbeit leisten musste, erklärte am 25. Juni 2002 dazu: ”Die deutsche Entscheidung halte ich für skandalös. Wenn sie uns als Kriegsgefangene behandelt hätten, dann wäre ja alles okay gewesen. Aber sie haben uns nicht als Kriegsgefangene behandelt. Wir waren Sklaven. Daher ist das deutsche Rechtsgutachten, wonach wir keine Zwangsarbeiter waren, nicht korrekt.”

Und Michele Montagano kommentiert die Abweisung der IMIs so: ”Es hat nie eine Entschädigung gegeben. Das war nie Thema. Dafür aber: »Ja, wir machen eine Bibliothek, ein Museum, ein Denkmal als Erinnerung.« Aber es hat nie eine Aussprache oder eine Abmachung in Bezug auf eine Entschädigung gegeben. Wir haben nie etwas bekommen.” Die materielle Entschädigung war für ihn ein zentraler Punkt, aber er beklagt eindringlich, dass die deutsche Seite nicht einmal auf die IMIs zugegangen ist und eine Aussprache gesucht hat. Stattdessen sollten Versöhnungszeichen in Form von Museen und Bibliotheken gesetzt werden. Es ist ein immer wiederkehrendes Muster: Die Opfer sprechen von Schuld und Entschädigung und die deutsche Seite von Versöhnung.

Den Opfern der NS-Verbrechen blieb nach dieser erneuten Demütigung nur die Möglichkeit Klagen vor italienischen Gerichten einzureichen. In diesen Prozessen wurde Deutschland zu Entschädigungszahlungen verpflichtet, die Urteile wurden von dem höchsten italienischen Gericht, dem Kassationshof in Rom bestätigt. Doch die deutsche Seite erkannte die Urteile nicht an und es folgte ein Prozessverfahren vor dem IGH und ein weiteres Urteil des Kassationshofs in Rom, dass das IGH-Urteil nicht anerkannte. Zu keiner Zeit wollten deutsche Regierungsvertreter auf die Gegenseite zugehen und nach über 20 Jahren endete die Auseinandersetzung mit einem Fonds der italienischen Regierung, der die Opfer der deutschen Verbrechen entschädigen soll. Am 30. April 2022 erlies die italienische Regierung per Dekret einen Fonds, der bis 2026 55,4 Millionen Euro ausschütten soll. Im Jahr 2023 wurde der Fonds um weitere 6 Millionen auf 61 Millionen Euro erhöht. Abgesehen davon, dass die Summe von vielen Experten als zu gering eingeschätzt wird, ist es ein Skandal: Nicht der Nachfolgestaat des NS-Staats, der für die Verbrechen verantwortlich ist, zahlt in den Fonds ein, sondern der Staat der Opfer muss die Gelder aufbringen. Italienische Medien berichten zudem von langwierigen und komplizierten Verfahren, um Zahlungen aus dem Fonds zu erhalten. Vor dem Hintergrund der viel zu geringen Mittel legen die italienischen Behörden strikte Regeln an. Es ist ein unwürdiges Spiel auf Zeit, denn die Antragssteller sind mittlerweile sehr alt.

Deshalb unsere Forderung:
Alle IMIs müssen endlich schnell entschädigt werden und das mit Geldern des deutschen Staats!

Erinnerung an italienische Militärinternierte 2024

Erinnerung an die NS-Zwangsarbeiter auf dem Sportplatz an der Max-Brauer-Allee
Freitag, 6. September 2024, 17 Uhr
Diren-Dede-Platz, Hamburg (Bodenstedtstraße/Ecke Zeiseweg)

Auf dem heutigen Sportplatz, zwischen Max-Brauer-Allee, Bodenstedtstraße und Schnellstraße, befand sich von Ende 1944 bis Anfang 1945 ein Lager für italienische Militärinternierte (IMI). Sie wurden als NS-Zwangsarbeiter von der Stadtreinigung für Trümmerarbeiten eingesetzt. Als Lager diente die Jugendherberge, die sich damals auf dem Platz befand, auf Höhe des Amtsgerichts an der Schnellstraße.

Mit einer Kundgebung wollen wir an die vergessenen NS-Zwangsarbeiter auf dem Sportplatz erinnern.

Wer waren die italienischen Militärinternierten?

Es handelte sich um italienische Soldaten. Sie wurden nach dem 8. September 1943 von der deutschen Wehrmacht gefangen genommen. An diesem Tag wurde ein Waffenstillstand der italienischen Regierung mit den Alliierten verkündet. Mussolini war im Juli 1943 gestürzt worden. Die Wehrmacht besetzte daraufhin Norditalien und stellte die italienischen Soldaten vor die Alternative, entweder an der Seite Deutschlands weiter im Krieg zu kämpfen oder als Zwangsarbeiter nach Deutschland geschickt zu werden. Rund 650.000 sagten ”Nein” und wurden als Zwangsarbeiter verschleppt, davon 17.000 nach Hamburg. Sie wurden nicht als Kriegsgefangene anerkannt, stattdessen gab ihnen Hitler den Status der ”Militärinternierten” (IMI), um sie auch in der Rüstungsindustrie einsetzen zu können.

Warum das Zwangsarbeiterlager auf dem Sportplatz?

Eine halbe Million Zwangsarbeiter*innen wurden insgesamt von 1939 bis 1945 in Hamburger Unternehmen eingesetzt. Sie wurden aus ihrer Heimat verschleppt und genötigt, in Hamburg zu arbeiten. Sie mussten in über 1.200 Lagern in Hamburg leben. Die 1922 auf dem Sportplatz erbaute Jugendherberge war während des Krieges von der Stadt Hamburg übernommen worden, um dort ein Zwangsarbeitslager für 150 italienische Militärinternierte einzurichten.

Warum an die NS-Zwangsarbeit erinnern?

Zwangsarbeiter*innen wurden in der Kriegswirtschaft dringend benötigt. Der Abzug der deutschen Arbeitskräfte an die Front musste ausgeglichen werden. Sie hielten aber nicht nur die Produktion aufrecht, sondern steigerten auch die Umsätze und Gewinne der in der Kriegswirtschaft tätigen Firmen.

Jeden Tag bewegten sich in den Kriegsjahren bis 1945 Zehntausende Zwangsarbeiter*innen durch Hamburg. Zwangsarbeiter*innen aus anderen Ländern wurden eingesetzt in einer Fischräucherei in der Haubachstraße, im Lager in der heutigen Max-Brauer-Allee, in der Harkortstraße bei Appel Feinkost und weiteren Betrieben im Umfeld. Sie waren das sichtbarste Zeichen der Ausbeutung und Verschleppung von Menschen aus anderen Ländern zur Zwangsarbeit in der NS-Zeit.

Die italienischen Militärinternierten waren als Soldaten einst Verbündete Deutschlands. Ihr ”Nein” zum Krieg machte sie in den Augen der Nazis zu Verrätern. Sie wurden in den Lagern und den Betrieben oft besonders schlecht behandelt: Ihre Lebensbedingungen waren von Hunger, unzulänglicher Unterbringung und medizinischer Versorgung sowie Demütigungen und Misshandlungen bis hin zu gezielten Mordaktionen gekennzeichnet. Etwa 60.000 Militärinternierte überlebten die Gefangennahme bzw. Gefangenschaft nicht.

Die NS-Zwangsarbeit und die Ausbeutung der italienischen Militärinternierten sind weitgehend aus dem Bewusstsein über die Verbrechen des NS-Systems geraten. Bis heute wurden die italienischen Militärinternierten nicht entschädigt. Dass es ein Zwangsarbeitslager auf dem Sportplatz gab, ist in Vergessenheit geraten. Mit unserer Kundgebung richten wir den Blick auf die italienischen Militärinternierten. Wir möchten an ihr Leid erinnern, ihre Anerkennung einfordern und uns für ihre Entschädigung einsetzen. Vergessen wir nicht, zeigen wir Haltung zu den Verbrechen des NS-Systems und zu aktuellen Rechtsentwicklungen.

Weitere Informationen: https://imiinhamburg.wordpress.com/
Das Programm als Pdf-Dokument: Programm Erinnerung an italienische Militärinternierte 2024

Zwangsarbeit und Sportstätten
Mittwoch, 4. September 2024, 19 Uhr
ETV Bundesstraße 96, 20144 Hamburg

Zwangsarbeit im Nationalsozialismus war alltäglich und sichtbar. Die Firmen setzten Zwangsarbeiter*innen ein. Orte und Gebäude in Hamburg wurden als Unterbringungslager umfunktioniert. Auf einigen von ihnen waren oder sind heute Sportstätten zu finden. So auf dem Gelände des heutigen Sportplatzes des SC Teutonia von 1910 in Altona an der Max-Brauer-Allee. Im Volksparkstadion war in den Umkleidekabinen 1943 - 1945 ebenfalls ein Zwangsarbeitslager.

Was wissen wir über IMI aus den Lagern auf Hamburger Sportstätten? Und wie gehen die jeweiligen Sportvereine heute mit ihrem Erbe um? Ein Gespräch über gesellschaftliche Verantwortung im Fußball und Leerstellen in der Erinnerungsarbeit.

Weitere Informationen: Zwangsarbeit und Sportstätten

Stolperstein-Verlegung
Sonntag, 8. September 2024, 15 Uhr
Falkenbergsweg 62, Neugraben

Ein Stolperstein vor dem ehemaligen KZ Außenlager am Falkenbergsweg soll an den einzigen erschossenen italienischen Militärinternierten (IMI) in Hamburg, Cosimo Guinta, erinnern. Er wurde in der Nacht von 26. auf den 27. April 1945 vom Lagerführer erschossen.

Cosimo Guinta wurde am 7. Juni 1920 in Barcellona Pozzo Di Gotto in der Provinz Messina (Sizilien) geboren. Von der deutschen Wehrmacht in Albanien gefangenen genommen, wurde er im September 1943 nach Hamburg verschleppt. Cosmo Guinta musste für das Harburger Bauunternehmen, AUG. PRIEN, arbeiten. Ab März 1945 lebte er im Zwangsarbeitslager am Falkenbergweg.

Weitere Informationen: Stolperstein-Verlegung

Pressemitteilung zur Ausstellung anlässlich des 80. Jahrestages des Massakers in Distomo

11. Juni 2024

Am 10. Juni 2024 gedenken die Bewohner von Distomo zum 80. Mal der 218 Menschen, die dort 1944 von einer SS-Einheit ermordetet wurden. Vertreter*innen des Arbeitskreis Distomo (AK-Distomo) nehmen an den diesjährigen Gedenkfeiern des 80. Jahrestages des Massakers teil. Der AK-Distomo hat aus diesem Anlass eine Ausstellung über seine Aktivitäten der letzten 23 Jahre erstellt, die im Rathaus von Distomo gezeigt werden wird.

Der Arbeitskreis Distomo aus Hamburg wurde im Jahr 2001 gegründet. Der Ak-Distomo ist eine Gruppe von Menschen, die sich dem Kampf gegen den Faschismus und der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus verpflichtet sehen. Ein zentrales Thema war und ist für den Arbeitskreis die Frage der Entschädigung der Überlebenden und Angehörigen der Ermordeten sowie die Verfolgung der Täter.

Für den AK-Distomo sind internationale Zusammenarbeit und Solidarität ein wichtiger Ansatz für die politische Arbeit. Die Ausstellung zeigt den gemeinsamen Kampf mit vielen Menschen und Organisationen in Deutschland, Griechenland, Italien und anderen Ländern um Gerechtigkeit. Antifaschismus kennt keine Grenzen. Der Arbeitskreis fordert, dass Deutschland seine Pflicht gegenüber den Opfern und Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechen erfüllt.

Die Ausstellung dokumentiert die Begleitung der Prozesse um Entschädigung vor den nationalen Gerichten in Griechenland, Italien und Deutschland, sowie vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag. Sie zeigt Bilder und Texte von Demonstrationen und Veranstaltungen in Athen, Berlin, Den Haag und vielen weiteren Orten wie in Kassel bei der Eröffnung der documenta 2017.

Gabriele Heinecke vom Arbeitskreis Distomo aus Hamburg erklärt: ”Wir widersprechen mit unserer Arbeit der Behauptung der deutschen Bundesregierungen, das Thema der Entschädigung für NS-Kriegsverbrechen sei seit 1990 rechtlich und politisch abgeschlossen. Wir widersprechen der Erzählung, die Aufarbeitung des Nationalsozialismus sei Deutschland vorbildlich gelungen. Die deutsche Berufung auf den Grundsatz der Staatenimmunität für NS-Kriegsverbrechen, die Verweigerung der Entschädigung der Betroffenen der Barbarei, fördert die Vorstellung, solche Menschheitsverbrechen könnten für den Aggressor ohne Folgen bleiben. Es ist eine Haltung, aus der sich in Europa Nationalismus, Rassismus und rechte Gewalt speist. Sie fördert eine Politik, die erneut Unmenschlichkeit zu ihrer Grundlage macht.”

Der Arbeitskreis schenkt der Gemeinde Distomo die Ausstellung als Dokument des gemeinsamen Kampfes der letzten zwei Jahrzehnte.

Die folgenden Links führen zu der Ausstellung als pdf-Dateien:
Selbstdarstellung (deutsch)
Selbstdarstellung (griechisch)
Chronik (griechisch)
Chronik (deutsch)
St. Anna (deutsch/griechisch)
Mittenwald (deutsch/griechisch)
Documenta 2017 (deutsch/griechisch)
Distomo (deutsch/griechisch)
Athen (deutsch/griechisch)
Gerichtsverhandlungen (deutsch/griechisch)

Deutschland verliert vor italienischen Gerichten
Der Fall Distomo ist noch nicht zu Ende

11. April 2024

Anfang März 2024 veröffentlichte das Berufungsgericht in Rom seine Entscheidung, wonach der Fall Distomo in Italien noch nicht abgeschlossen ist und fortgeführt werden kann. Das Berufungsgericht folgte damit einer Entscheidung des Vollstreckungsgerichts in Rom in erster Instanz, dass ebenfalls zu Gunsten der Betroffenen aus Distomo entschieden hatte. Dies ist ein großer Erfolg, nachdem es zuletzt so aussah, als sei das Verfahren auch in Italien beendet.

Eine Vollstreckung des rechtskräftigen griechischen Urteils des Landgerichts Levadia aus dem Jahr 2007 (!) scheint in Italien weiterhin möglich. Mit dieser Entscheidung war die BRD verurteilt worden, an die Opfer des Massakers im griechischen Distomo ca. 28 Mio. Euro als Entschädigung zu zahlen. Da eine Zwangsvollstreckung aus dem Urteil in Griechenland derzeit nicht möglich ist, weil hierfür bis heute die Zustimmung der griechischen Regierung fehlt, kann die Durchsetzung des Urteils nur über die Zwangsvollstreckung im Ausland erfolgen.

Rechtsanwalt Joachim Lau aus Florenz kämpft seit vielen Jahren darum, die Ansprüche der Opfer und Angehörigen der von der SS am 10. Juni 1944 Ermordeten vor italienischen Gerichten durchzusetzen. Diese Bemühungen sabotiert Deutschland seither immer wieder mittels juristischer und politischer Interventionen. Trotz rechtskräftiger Urteile verweigert Deutschland die Zahlung unter Berufung auf den Grundsatz der Staatenimmunität. Vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) erwirkte Deutschland 2012 ein Urteil, das die Bundesrepublik - Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs - vor Schadensersatzklagen aus dem Ausland bewahren sollte. Der IGH entschied, dass der Grundsatz der Staatenimmunität auch im Fall von NS-Kriegsverbrechen gelte und Deutschland vor Gerichten im Ausland nicht verklagt werden könne.

Dies sahen italienische Gerichte allerdings anders. Das italienische Verfassungsgericht hatte in einer Grundsatzentscheidung schon 2014 das Urteil des IGH aus 2012 als nicht mit der italienischen Verfassung vereinbar angesehen und zugunsten der Rechte der Opfer Nazi-Deutschlands geurteilt. Es hatte das Grundrecht auf Zugang zu den italienischen Gerichten betont und die Anwendung des von Deutschland reklamierten Grundsatzes der Staatenimmunität für NS-Kriegsverbrechen abgelehnt. Das Verfassungsgericht sah den Rang des Menschenrechtsschutzes als höherwertiger an als das Prinzip der Staatenimmunität. Daher konnte das Verfahren in Italien fortgeführt und in deutsches Staatseigentum vollstreckt werden.

Zuletzt schien es aber so als hätte Deutschland es geschafft, diese Möglichkeit zu vereiteln. Deutschland klagte im Frühjahr 2022 erneut vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen Italien, um Vollstreckungen in deutsches Staatseigentum in Italien zu verhindern. Deutschland nahm einen Eilantrag auf vorläufige Beendigung aller Zwangsvollstreckungsmaßnahmen erst zurück, nachdem Italien Ende April 2022 zunächst ein Regierungsdekret und dann ein Gesetz verabschiedete, durch das alle gegen Deutschland gerichteten Entschädigungsprozesse und Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gestoppt werden sollten. Gleichzeitig stellte die italienische Regierung einen Fonds in Aussicht, aus dem italienische NS-Opfer Zahlungen erhalten sollten und der mit der Verabschiedung des Gesetzes auf ca. 60. Mio. Euro dotiert wurde.

Tatsächlich entschied das italienische Verfassungsgericht in einem Urteil aus Juli 2023 im Sinne Deutschlands, dass dieses ”Schlussstrich-Gesetz” verfassungsgemäß sei. Zwar stelle es einen erheblichen Eingriff in die Rechte der Betroffenen dar, der wegen der möglichen Zahlungen aus dem Fonds jedoch hinzunehmen sei. Damit, so das Gericht, seien die Rechte der Opfer ausreichend gewahrt.

Dies bedeutet, dass Hunderttausende italienische Opfer von NS-Kriegsverbrechen, ehemalige NS-Zwangsarbeiter sowie Opfer von Massakern, von Deutschland keine Entschädigung erhalten, ihnen bleibt der Rechtsweg nun auch in Italien verwehrt. Sie erhalten nur die Almosenzahlungen aus dem italienischen Fonds.

Offen blieb in dieser Entscheidung, was dies für den Fall Distomo bedeutet. Hier haben nun das Vollstreckungsgericht in Rom und das Berufungsgericht für Klarheit gesorgt. Das Gesetz betrifft nach Auffassung der Gerichte nicht das Distomo-Verfahren, es gilt nur für Verfahren italienischer Opfer. In verfassungskonformer Auslegung entschied das Vollstreckungsgericht, dass ausländische Klägerinnen und Kläger nicht betroffen seien. Diese können nun weiterhin die Zwangsvollstreckung in Italien betreiben. Zur Begründung führten die römischen Gerichte vor allem an, dass es für griechische Opfer keine Entschädigungsregelung gebe, wie sie im Gesetz für italienische Opfer vorgesehen sei. Damit sei nur eine Auslegung des ”Schlussstrich-Gesetzes” verfassungskonform, die zu einer Nichtanwendung für ausländische Opfer führe.

Deutschland hat es also bisher nicht geschafft, sich vollständig aus der rechtlichen und moralischen Verantwortung für die Menschenrechtsverbrechen der Nazis zu ziehen. Es besteht nun wieder die Chance, dass die Pfändung eines Kontos der Deutsche Bahn AG in Italien zugunsten der Opfer von Distomo doch noch zu einem Erfolg führt. Zu befürchten ist allerdings, dass Deutschland weiter versuchen wird, Italien politisch unter Druck zu setzen, um das Verfahren doch noch zu stoppen. Außerdem bleibt das erneute Verfahren in Den Haag vor dem Internationalen Gerichtshof abzuwarten. Allerdings könnte sich auch hier die Lage ein wenig zu Gunsten der Opfer von Kriegsverbrechen verschoben haben. Denn zuletzt entschieden sowohl der oberste Gerichthof Südkoreas als auch Gerichte in Brasilien und der Ukraine für eine Einschränkung des Prinzips der Staatenimmunität in Fällen schwerer Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen. Sollten diese Beispiele Schule machen, könnte es mit dem deutschen Anspruch auf einen Schlussstrich bald vorbei sein.

Der AK Distomo fordert:
Deutschland muss alle Opfer des Nationalsozialismus entschädigen!
Nazi-Verbrechen nicht vergeben, den antifaschistischen Widerstand nicht vergessen!
Gemeinsamer Kampf gegen den wiedererstarkenden Faschismus in Europa!

Pressemitteilung und Resolution der Veranstaltung ”Gegen das Vergessen” vom 21. Januar 2024

Eine Veranstaltung des Auschwitz-Komitees i.d. BRD e.V. und des AK Distomo zum 79. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945
Die Veranstaltung fand im Centralkomitee in Hamburg statt, das bis auf den letzten Platz besetzt war.

Auf der Veranstaltung ”Gegen das Vergessen” vom 21.1.2024 berichtete Salo Muller über seine Geschichte und den Kampf um Entschädigung. Salo Muller wurde 1936 in Amsterdam geboren. Seine Eltern wurden während der Besatzung der Niederlande durch die NS-Truppen nach Auschwitz deportiert und ermordet. Bekannt wurde Salo Muller als Physiotherapeut von Ajax Amsterdam sowie durch seine vielfältigen Bücher. Im Jahr 2018 erreichte er eine Vereinbarung mit der niederländischen Bahngesellschaft (Nederlandse Spoorwegen) über Entschädigungszahlungen an Opfer der Shoah, die durch deren Mithilfe deportiert wurden.

Im ersten Teil der Veranstaltung berichtete Salo Muller über seine Kindheit während der deutschen Besatzung. Nur durch die Unterstützung des niederländischen Widerstands, deren Mitglieder dabei ihr Leben riskierten, konnte er überleben. Im zweiten Teil berichteten Salo Muller und sein Anwalt Martin Klingner über die Verhandlungen mit der niederländischen Bahngesellschaft, die zu Entschädigungszahlungen an die Überlebenden und deren Angehörigen führten. Salo Muller und sein Anwalt, Martin Klingner, verdeutlichten die zahlreichen Herausforderungen, die sich in der Debatte um Entschädigungszahlungen durch die Deutsche Bahn AG ergeben. Sie kritisierten scharf, dass das Unternehmen, als Hauptverantwortliche und Rechtsnachfolgerin der historischen Deutschen Reichsbahn, sich ihrer Verantwortung entzieht, während andere Beteiligte wie die Nederlandse Spoorwegen ihre Verantwortung anerkennen. Salo Muller will heute erreichen, dass die Deutsche Bahn AG ebenfalls ihre historische Verantwortung übernimmt und die Opfer der Deportationen endlich entschädigt werden.

Die Teilnehmer:innen der Veranstaltung unterstützen Salo Muller und verabschiedeten die folgende Resolution, die sich an die Deutsche Bahn AG und die Bundesregierung richtet:
Wir bedanken uns bei Salo Muller für seinen Bericht über die nationalsozialistische Verfolgung, über seine Geschichte und die seiner Familie während der Shoah.
Wir erinnern an den niederländischen Widerstand, dem Salo Muller sein Überleben verdankt.
Wir gedenken der 70 Familienangehörigen von Salo Muller, die in Auschwitz ermordet wurden.

Wir unterstützen die Forderung von Salo Muller nach Anerkennung des Leids und Entschädigung durch die Deutsche Bahn AG.
Wir teilen die Ansicht von Salo Muller ”Nur wer zahlt, meint es ernst.”
Wir bewundern Salo Muller für seinen erfolgreichen Kampf um Entschädigung durch die niederländische Bahn.

Wir fordern die Deutsche Bahn AG als Rechtsnachfolgerin der Deutschen Reichsbahn auf, die moralische und materielle Verantwortung für die Beteiligung am Holocaust durch die Deportation von Millionen Menschen in die Vernichtungs- und Konzentrationslager zu übernehmen.
Wir fordern die Bundesregierung und den Vorstand der Deutschen Bahn AG auf mit Salo Muller sowie seiner rechtlichen Vertretung in Verhandlungen einzutreten und eine angemessene Entschädigungsregelung zu vereinbaren.

In Gedenken an die Opfer des Holocausts.


Hamburg, den 25. Januar 2024
Auschwitz-Komitee i.d. BRD e.V. und AK Distomo

Den Krieg verloren, aber das Geld bleibt hier
Deutschlands Sieg in Italien über die Opfer der NS-Verbrechen

Deutschland hat es geschafft. Das Verfassungsgericht Italiens entschied im Juli 2023 im Sinne der Bundesregierung. Hunderttausende italienische Opfer von NS-Kriegsverbrechen, ehemalige NS-Zwangsarbeiter sowie Opfer von Massakern, erhalten von Deutschland keine Entschädigung, ihnen bleibt der Rechtsweg in Italien verwehrt.

Seit vielen Jahren klagen vor allem ehemalige italienische NS-Zwangsarbeiter in Italien gegen Deutschland, um endlich eine Entschädigung für das erlittene Leid und Unrecht zu erhalten, dass ihnen Nazideutschland angetan hatte. Hunderttausende - Zivilisten und Soldaten - waren vom ”Dritten Reich” nach Deutschland verschleppt worden, um Zwangsarbeit zu leisten. Vor italienischen Gerichten bekamen sie Recht, ihnen wurden Beträge bis zu Euro 100.000,- pro Person zugesprochen.

Doch trotz rechtskräftiger Urteile verweigerte Deutschland die Zahlung unter Berufung auf den Grundsatz der Staatenimmunität. Vor dem Internationalen Gerichtshof erwirkte Deutschland 2012 ein Urteil, das die Bundesrepublik vor Klagen aus dem Ausland bewahren sollte. Der IGH entschied, dass der Grundsatz der Staatenimmunität auch im Fall von Kriegsverbrechen gelte und Deutschland im Ausland nicht verklagt werden dürfe.

Dies sahen italienische Gerichte allerdings anders. Das italienische Verfassungsgericht hatte in einer Grundsatzentscheidung schon 2014 gegen den IGH und zugunsten der Rechte der Opfer von Nazi-Deutschland geurteilt, das Grundrecht auf Zugang zu den italienischen Gerichten betont und die Anwendung des von Deutschland reklamierten Grundsatzes der Staatenimmunität für NS-Kriegsverbrechen abgelehnt. Das Verfassungsgericht sah den Rang des Menschenrechtsschutzes als höherwertig an als das Prinzip der Staatenimmunität. Daher konnten die Prozesse in Italien fortgeführt und gegen deutsches Eigentum vollstreckt werden.

Dies ist nun nicht mehr möglich. Das italienische Verfassungsgericht entschied in seinem jüngsten Urteil im Sinne Deutschlands.

In zwei Fällen ehemaliger NS-Zwangsarbeiter, die rechtskräftige Urteile gegen Deutschland erwirkt hatten, drohte Deutschland die Beschlagnahme bzw. die Versteigerung deutschen Staatseigentums in Rom. Darauf strengte Deutschland im Frühjahr 2022 ein Eilverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag an, um die Vollstreckung zu verhindern. Deutschland nahm den Antrag erst zurück, als Italien unter diesem Druck Ende April 2022 erst ein Regierungsdekret und dann ein Gesetz verabschiedete, durch das alle gegen Deutschland gerichteten Entschädigungsprozesse und Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gestoppt wurden.

Das Landgericht in Rom setzte daraufhin die Vollstreckung in deutsches Staatseigentum im November 2022 aus und legte das Verfahren dem italienischen Verfassungsgericht vor, weil es dieses Schlussstrich-Gesetz für verfassungswidrig hielt. Das Verfassungsgericht entschied nunmehr Ende Juli 2023, dass das Schlussstrich-Gesetz doch verfassungsgemäß sei. Zwar stelle es einen erheblichen Eingriff in die Rechte der Betroffenen dar, wenn Deutschland vor Klagen und Zwangsvollstreckungsmaßnahmen geschützt werde. Dennoch stehe dieses Gesetz im Hinblick auf den Grundsatz der Staatenimmunität im Einklang mit der Verfassung. Grund hierfür sei, dass die italienische Regierung mit dem Gesetz zugleich einen Fonds begründet habe, aus dem italienische Opfer entschädigt werden können. Dieser ist mit ca. Euro 60 Millionen dotiert. Damit, so das Gericht, seien die Rechte der Opfer ausreichend gewahrt. Mit Zahlung aus dem Fonds erlöschen alle Rechte und Ansprüche auf Entschädigung gegenüber Deutschland.

Deutschland hat es wieder einmal geschafft, sich aus der rechtlichen und moralischen Verantwortung für die NS-Opfer zu ziehen. Nicht der Nachfolgestaat Nazideutschlands sondern Italien wird die Zahlungen an die italienischen Opfer der NS-Verbrechen selbst erbringen. Davon profitieren werden aber nur diejenigen Überlebenden oder deren Angehörige, die rechtzeitig bis zu einem Stichtag Klagen gegen Deutschland erhoben hatten. Zudem werden die Zahlungen sehr begrenzt sein und nicht mal einen Bruchteil dessen erreichen was den Betroffenen von italienischen Gerichten zugesprochen worden war.

Das ist das perfide Ergebnis deutscher Machtpolitik in Europa. Mit ökonomischem Druck und politischer Erpressung hat Deutschland erst Griechenland und dann Italien in die Knie gezwungen. Die Leidtragenden sind die Opfer der NS-Verbrechen und deren Angehörige.

Was ist also davon zu halten, wenn die gegenwärtige Bundesregierung über menschenrechts-orientierte Außenpolitik schwadroniert? Nichts. Nur wenn es den eigenen Interessen nützt, werden Menschenrechte in Stellung gebracht. Für die Opfer der NS-Verbrechen hat Deutschland allenfalls warme Worte an Gedenktagen übrig. Doch die Schuld ist nicht beglichen, das Thema der Entschädigung für Menschen- und Völkerrechtsverbrechen ist aktuell. Deutschland hat Macht, eine Rechtfertigung gegenüber den Opfern des deutschen Faschismus hat es nicht.

Der AK Distomo fordert weiterhin:
Deutschland muss alle Opfer des Nationalsozialismus entschädigen!
Nazi-Verbrechen nicht vergeben, den antifaschistischen Widerstand nicht vergessen!
Gemeinsamer Kampf gegen den wiedererstarkenden Faschismus in Europa!

Hamburg, den 17. September 2023 AK-Distomo

Griechenland unter deutscher Besatzung
(1941-1944)

Massaker - Ausplünderung - Holocaust

Für heutige Touristen ist Griechenland vor allem ein schönes Urlaubsziel, bestimmt durch Sonne, Tavernen und die Überreste der griechischen Antike - Akropolis, Delphi oder Olympia. Von der jüngeren Geschichte, insbesondere der deutschen Besatzung Griechenlands während des zweiten Weltkriegs, wissen die meisten nur wenig. Griechische Ortsnamen wie Distomo, Kalavryta und Kommeno standen jahrelang in keinem Reiseführer. Sie stehen jedoch beispielhaft für die nationalsozialistischen Verbrechen an der griechischen Zivilbevölkerung und die Erinnerung an das erfahrene Leid. Am 10. Juni 2023 jährt sich das Massaker von Distomo zum 79. mal, mit einer Gedenkfeier wird auch dieses Jahr den 218 Menschen gedacht werden, die 1944 von einer SS-Einheit ermordetet wurden.

Am 6. April 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht Griechenland. Die militärische Besatzung dauerte bis zum 3. November 1944 an. Kennzeichen war ein allgegenwärtiger Terror gegen die griechische Zivilbevölkerung, die Vernichtung des größten Teils der jüdischen Bevölkerung und die ökonomische Ausplünderung des Landes unter Inkaufnahme tausendfachen Hungertodes. Ca. 15 % der griechischen Bevölkerung kam während dieser Zeit ums Leben. Auf den Partisanenkrieg des griechischen Widerstands reagierten die Deutschen mit wahllosen Greueltaten. Mindestens 30.000 griechische Zivilisten fielen sogenannten Vergeltungsaktionen der deutschen Besatzungstruppen zum Opfer, hunderte von Dörfern wurden zerstört, Tausende starben in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Die jüdische Bevölkerung Griechenlands wurde systematisch erfasst, in die Vernichtungslager deportiert und dort ermordet. 58.000 Jüdinnen und Juden, ca. 83 % der griechischen Juden wurden ermordet, die große jüdische Gemeinde in Thessaloniki fast vollständig vernichtet, ihr Vermögen geraubt.

Die Verbrechen während der deutschen Besatzung Griechenlands sind in der Bundesrepublik Deutschland ohne jede rechtliche Konsequenz geblieben. Vor deutschen Gerichten wurde bis heute nicht einer der Täter verurteilt, die meisten Opfer wurden niemals entschädigt. Die bundesdeutschen Nachkriegsregierungen taten alles, um die Kriegsverbrecher vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen, denn die ehemaligen Wehrmachtsoldaten wurden zum Aufbau der Bundeswehr gebraucht. Gleichzeitig widersetzte man sich den griechischen Forderungen nach Entschädigungsleistungen. Bis heute behauptet die Bundesregierung, mit einer einmaligen Zahlung von DM 115 Mio. im Jahr 1961 sei alles erledigt. Dieser Betrag deckte aber noch nicht einmal im Ansatz die Schulden der BRD gegenüber Griechenland ab.

Die griechischen Opfer der Massaker von Wehrmacht und SS wie auch die meisten Überlebenden des Holocausts haben bis heute keine Entschädigungsleistungen erhalten. Sie fordern von der deutschen Regierung die Anerkennung der Verbrechen und eine angemessene Entschädigungsleistung. Von der gegenwärtigen Bundesregierung wird zwar ”Trauer und Scham” bekundet (Bundespräsident Rau in Kalavryta), an der Haltung der Bundesregierung zur Entschädigungsfrage hat sich indes bis heute nichts geändert. Aus Berlin kommt stets dieselbe monotone Antwort: Es wird nicht gezahlt!

Deutschland ist verpflichtet, allen Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen eine angemessene Entschädigung zu zahlen. Die Weigerung der Bundesregierung stellt eine permanente Demütigung der Opfer und eine Nichtanerkennung der Verbrechen dar. Nach über 70 Jahre nach dem Ende der deutschen Besatzung muss den Überlebenden und Hinterbliebenen endlich Gerechtigkeit widerfahren.

Diese kategorische Weigerung auch nur in Verhandlungen einzutreten, führte zu einer Welle von Klagen gegen die Bundesrepublik Deutschland, vor allem vor griechischen Gerichten. Im Fall Distomo gelang dabei ein spektakulärer Erfolg. Deutschland wurde im April 2000 vom obersten griechischen Gerichtshof (Areopag) rechtskräftig zur Zahlung von ca. 28 Mio. Euro verurteilt, dennoch hat Berlin bis heute keinen Cent gezahlt. Mit politisch-diplomatischem Druck wurde die griechische Regierung erfolgreich genötigt, die Vollstreckung gegen Deutschland aus dem Distomo-Urteil zu unterbinden.

Eine Durchsetzung des Urteils in Griechenland wurde somit unmöglich. Die Kläger aus Distomo wandten sich nach Italien und beantragten vor italienischen Gerichten die Vollstreckung der griechischen Urteile. Sämtliche italienischen Gerichte bis hin zum Kassationsgerichtshof in Rom bestätigten die Vollstreckbarkeit der griechischen Urteile. Der Immunitätseinwand Deutschlands wurde zurückgewiesen, da dieser auf Verbrechen gegen die Menschheit nicht anwendbar ist.

Doch Deutschland wollte sich den italienischen Urteilen noch immer nicht beugen und erhob am 23.12.2008 Klage gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Bei einem Gipfeltreffen im Herbst 2008 in Triest hatten die deutsche und die italienische Regierung (Merkel/Berlusconi) einvernehmlich die Einleitung des Verfahrens vor dem IGH beschlossen, um die Durchsetzung der berechtigten Entschädigungsansprüche von NS-Opfern gegenüber Deutschland auf diese Weise zu vereiteln.

Am 3.2.2012 verkündete der Internationale Gerichtshof in Den Haag seine Entscheidung im Fall Deutschland gegen Italien. Er gab der Klage Deutschlands statt und gewährte der Bundesrepublik Immunität gegenüber Klagen von NS-Opfern in Italien. Mit diesem Urteil wurde der Klageweg für NS-Opfer in deren Herkunftsländern versperrt und bedeutet eine Kapitulation des Rechts vor der Macht. Das Ergebnis ist eine faktische Beseitigung des Individualrechtsschutzes für die Opfer von Kriegs- und Menschheitsverbrechen. Selbst schwerste Staatsverbrechen sollen keine Ausnahme mehr vom Prinzip der Staatenimmunität erlauben.

In Italien wurde das Urteil des IGH in italienische Gesetze umgewandelt, nach denen Klagen gegen deutsche Verbrechen während des II. Weltkriegs abzuweisen sind. Allerdings widerspricht dieses Gesetz dem in Italien verbürgten Grundrecht auf Zugang zu den Gerichten. Folglich erklärte am 22.10.2014 das italienische Verfassungsgericht dieses Gesetz für verfassungswidrig!
Die Prozesse von italienischen NS-Opfern gegen Deutschland vor italienischen Gerichten werden bis heute geführt. Derzeit ist ein Konto der Deutschen Bahn AG zugunsten der NS-Opfer aus Distomo gepfändet und ein Vollstreckungsgericht muss entscheiden, ob das gepfändete Geld frei gegeben wird.

Für die sofortige Entschädigung aller griechischen Opfer des Nationalsozialismus!