16. März 2015

Die deutsche(n) Schuld(en) und Griechenland:
Unwille zur Verantwortung

Ein Beitrag zur Klarheit in der gegenwärtigen Debatte über die griechischen Entschädigungsforderungen

Es ist paradox. Griechenland braucht Geld. Dabei hat es Guthaben. Das Guthaben liegt in Deutschland und – als deutsches Staatseigentum im Ausland – in verschiedenen (europäischen) Ländern. Deutschland schuldet Griechenland seit ca. 70 Jahren eine Summe, die heute auf bis zu 575 Milliarden EUR geschätzt wird (so das Mitglied des französischen Sachverständigenrates für ökonomische Analysen, Jacques Delpla, in Les Echos vom 23.06.2011) für:

1. Die Zahlung der auf der Pariser Reparationskonferenz von 1946 festgelegten Reparationen. Die Bundesregierung behauptet, die Reparationen seien bereits im Rahmen eines "Globalabkommens" in den 60er Jahren gezahlt worden. Im deutsch-griechischen Vertrag vom 18. März 1960 war vereinbart worden, dass die Bundesrepublik Deutschland 115 Millionen DM "zugunsten der aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffenen Staatsangehörigen" an Griechenland zahlt. Diese Zahlung erfolgte für die grausame Verfolgung der griechischen Juden. Allein in Thessaloniki starben ca. 50.000 Menschen jüdischen Glaubens durch Mord und Deportation. Die Zahlung aus dem sog. "Globalabkommen" hatte nichts mit den Verpflichtungen zur Reparationszahlung zu tun. Das ergibt sich schon aus dem Wortlaut des Vertrages. Auf die 1946 bestimmte Reparationssumme wurde bis heute nichts gezahlt.

2. Die Rückzahlung der "Zwangsanleihe". 1942 wurde die Bank von Griechenland von den NS-Besatzern gezwungen, ihre Devisenreserven als "Zwangsanleihe" abzugeben. Bei Kriegsende betrug die Summe – nach Angaben des Auswärtigen Amtes des Deutschen Reiches aus April 1945 – 476 Millionen Reichsmark und sollte nach Beendigung des Krieges zurückgezahlt werden. Die Rückzahlung der Zwangsanleihe ist keine Zahlung von Reparationen, sondern eines Darlehens. Gezahlt wurde nichts.

Völlig unabhängig von diesen Ansprüchen schuldet Deutschland

3. Entschädigungssummen, die in ihrer Gesamtheit bisher noch gar nicht berechnet worden sind, an die Überlebenden und Angehörigen der während der Besatzung begangenen NS-Massaker, denen mindestens 30.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Darüber hinaus wurde(n) persönliches Eigentum und ganze Ortschaften zerstört, oft bis auf die Grundfesten niedergebrannt, tausende von Existenzen vernichtet. Für diese Verbrechen wurde bis zum heutigen Tag kein Cent gezahlt.

Die Überlebenden und Angehörigen des griechischen Dorfes Distomo, das in jährlichen Zeremonien noch heute der 218 Opfer des NS-Massakers vom 10. Juni 1944 gedenkt, erstritten bis zu dem höchsten Gericht Griechenlands – dem Areopag – eine Entschädigungssumme von 28 Millionen Euro. Seitdem ist die Summe zu verzinsen. Denn trotz des im Jahre 2000 rechtskräftigen und vollstreckbaren Urteils weigert sich die Bundesrepublik Deutschland zu zahlen. Die Gläubiger aus Distomo betreiben die Vollstreckung ihrer Ansprüche in deutsches Staatseigentum inzwischen in Italien – gegen den hinhaltenden deutschen Widerstand, aber mit Zustimmung des italienischen Verfassungsgerichts.

Die rechtskräftig festgestellten Entschädigungsforderungen könnten auch in Griechenland selbst vollstreckt werden. Und nur darum geht es aktuell. Bereits im Jahr 2000 hatte der griechische Anwalt der NS-Opfer, Ioannis Stamoulis, das Goethe-Institut, das deutsche Archäologische Institut und die deutsche Schule in Athen sowie die deutsche Schule in Thessaloniki gepfändet, um es zu Gunsten der Gläubiger aus Distomo zu versteigern. Im Jahr 2001 war die Realisierung der Ansprüche daran gescheitert, dass auf den massiven politischen Druck aus Berlin und die Drohung, die Aufnahme Griechenlands in die Euro-Zone zu verhindern, der damalige Justizminister die notwendige Zustimmung zur Vollstreckung nicht erteilt hatte.

Der jetzige Justizminister, Nikos Paraskevopoulos, hat in der letzten Woche lediglich erklärt, er werde – anders als sein Vorgänger - den Vollstreckungsmaßnahmen der Gläubiger aus Distomo zustimmen. Es handelt sich um eine Selbstverständlichkeit, die Deutschland deshalb so sehr fürchtet, weil das Beispiel Distomo Schule machen könnte. Die Entschädigungsansprüche aus Nazi-Kriegsverbrechen sind vererblich und können noch viele Jahre und in all den Ländern, die von Nazi-Deutschland überfallen worden sind, durchgesetzt werden. Allerdings klang diese Ankündigung so, als könnte sie auch wieder fallen gelassen werden, wenn Deutschland andere Zugeständnisse an Griechenland macht. Dies wäre allerdings ein Fehler. Forderungen individueller Opfer dürfen nicht gegen andere Forderungen verrechnet werden.

Die Bundesregierung behauptet, mit dem 2+4-Vertrag habe sich die Reparationsfrage erledigt – weil sie in diesem Vertragswerk nicht geregelt sei (!). Die Argumentation ist rechtlich abwegig und moralisch verwerflich. In den letzten Jahren sind Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, an die Orte der größten NS-Massaker gereist (Oradour, Frankreich, Sant’Anna di Stazzema, Italien und Lyngiades, Griechenland) und haben die deutsche Schuld teils in bewegenden Worten beteuert. Doch mit der Behauptung, der 2+4-Vertrag vom 12. September 1990 wirke als Vertrag zu Lasten Griechenlands und vernichte auch die Entschädigungsansprüche der Geschädigten, beweisen sich die schönen Worte als reine Lippenbekenntnisse und wirken als Verhöhnung der Opfer der faschistischen Untaten.

Abgesehen davon, dass Verträge zu Lasten Dritter – Griechenland war nicht Vertragspartner – im Vertragsrecht (auch im Völkervertragsrecht) unwirksam sind, handelt es sich bei den Entschädigungsforderungen der Opfer der NS-Terrorherrschaft in Griechenland nicht um Reparationsforderungen, sondern um individualrechtliche Forderungen, die jede/r einzelne Betroffene gegen den deutschen Staat erheben kann, ohne von völkerrechtlichen Vereinbarungen begrenzt zu sein.

Der AK Distomo sieht in der Ankündigung der Zulassung der Vollstreckung von rechtskräftig bestehenden, individuellen Entschädigungsansprüchen kein Affront gegen Deutschland, sondern einen Akt der Gerechtigkeit und eine Warnung an heutige Kriegstreiber, dass Völkerrechtsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit nicht mit noch so gefälligen Worten erledigt werden können, sondern der Schädiger – so mächtig er inzwischen sein mag – auch finanziell für das angerichtete Unrecht gerade stehen muss und das auch noch nach 70 Jahren.

Der AK Distomo fordert weiterhin:
Sofortige Entschädigung aller griechischen Opfer des Nationalsozialismus!
Nazi-Verbrechen nicht vergeben, den antifaschistischen Widerstand nicht vergessen!
Gemeinsamer Kampf gegen den wiedererstarkenden Faschismus in Europa!

AK Distomo, Hamburg, den 16.03.2015

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