Kundgebung am 23. Januar 2016 (Sonnabend) um 11.00 Uhr
Neue Wache - Unter den Linden 4 - 10117 Berlin

Deutsche Schulden müssen bezahlt werden: NS-Opfer entschädigen!

Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz durch die Rote Armee befreit. Befreit wurden etwa 7600 zurückgelassene Menschen, die krank und schwach waren und von der SS nicht auf den sogenannten Evakuierungsmarsch, ein Todesmarsch Richtung Westen, getrieben worden waren. Wie kein anderer Ort wurde Auschwitz zum Sinnbild für die Verbrechen der Nationalsozialististen gegen Juden, gegen Sinti und Roma und gegen andere Bevölkerungsgruppen im Deutschen Reich und in den besetzten Ländern. Seit 1996 ist der 27. Januar ein bundesweiter gesetzlich verankerter Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, seit 2005 wird der Tag auch international begangen. Deutschland führte den Gedenktag ein, als es 50 Jahre nach Ende von Krieg und Holocaust einen geschichtspolitischen Strategiewechsel vornahm: Nicht mehr das Verdrängen der Verbrechen, sondern das Bekenntnis dazu sollte ein positives Selbstbild schaffen. Auch dieses Jahr wird das offizielle Deutschland den Gedenktag wieder dazu nutzen, um sich als Land, das aus seiner Vergangenheit gelernt und sich grundlegend verändert habe, in Szene zu setzen. Doch die Tatsachen sprechen gegen diese Deutung.

Die Neue Wache als Symbol deutscher Geschichtspolitik

Kein Ort in Deutschland symbolisiert in besserer Weise den Umgang mit der deutschen Geschichte als die Neue Wache in Berlin. Diese dient seit 1993 als nationale Gedenkstätte. Die Vorgabe für die Geschichtsdeutung durch die Bundesrepublik liefert der Schriftzug unter der Pieta von Kollwitz "Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft". Alle waren Opfer: Diejenigen, die ermordet wurden, genau wie die Soldaten, die ihnen vielleicht als Mörder gegenüber gestanden hatten. Täter war offenbar niemand. Wenn aber alle gleich waren, dann muss anscheinend über die Verantwortung für die Mörder und ihre Taten nicht mehr gesprochen werden. So versucht sich das "wiedervereinigte" Deutschland seiner Verantwortung für die Vergangenheit zu entledigen.

Die notwendigen Konsequenzen aus den Verbrechen des Nationalsozialismus hat Deutschland dementsprechend bis heute nicht gezogen. Eine strafrechtliche Verfolgung der Täter ist weitgehend ausgeblieben. Die meisten Mörder blieben in der Bundesrepublik unbestraft und konnten ihre Karrieren ungestört fortsetzen. Auch die bundesdeutsche Entschädigungspolitik gibt wenig Anlass, auf die Aufarbeitung stolz zu sein, im Gegenteil. Die meisten Opfer deutscher NS-Verbrechen haben bis heute keinen Cent Entschädigung erhalten. Stellen sie Forderungen, werden die Überlebenden der Naziverbrechen von deutschen Regierungsvertretern gedemütigt und als Friedensstörer denunziert. Am Fall Distomo (Griechenland) wird dies wie in einem Brennglas sichtbar.

Argyris Sfountouris und sein Jahrzehnte währender Kampf um Entschädigungen

Viele Menschen kennen Argyris Sfountouris seit seinem Auftritt in der Ende März 2015 im ZDF ausgestrahlten Satiresendung "Die Anstalt" oder haben den Dokumentarfilm "Ein Lied für Argyris" gesehen. Er war noch nicht vier Jahre alt, als deutsche Besatzungssoldaten am 10. Juni 1944 seine Eltern und 216 andere Bewohner jeden Alters und Geschlechts im griechischen Dorf Distomo grauenhaft hinmetzelten. Seit seiner Jugend kämpft Argyris Sfountouris für eine wahrheitsgetreue Geschichtsschreibung und die Aufarbeitung deutscher Kriegsverbrechen in Griechenland.

In einem Brief der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Athen vom 23. Januar 1995: "Sehr geehrter Herr Sfountouris, im November des vergangenen Jahres hatten Sie bei der Botschaft vorgesprochen und angefragt, ob Entschädigungen irgendwelcher Art für die Opfer der Vergeltungsaktion der deutschen Wehrmacht im Jahr 1944 gegen das Dorf Distomo vorgesehen sind oder beantragt werden können. (...) Nach Auffassung der Bundesregierung sind Vergeltungsaktionen wie gegen das Dorf Distomo nicht als NS-Tat zu definieren (...), sondern als Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung."

Das Gerichtsverfahren

Argyris Sfountouris wollte und konnte sich mit dieser Leugnung des Verbrechens und der Haltung Deutschlands in der Entschädigungsfrage nicht abfinden. Er und seine drei Schwestern klagten in Deutschland und in Griechenland auf Entschädigungen. Vor deutschen Gerichten unterlagen sie. Die deutsche Justiz wollte einen Präzedenzfall verhindern und sprach damit den Opfern von Kriegsverbrechen jedes individuelle Recht auf Entschädigung ab. Doch vor griechischen Gerichten hatten die Überlebenden und Angehörigen der Opfer - 296 Klägerinnen und Kläger aus Distomo - Erfolg. Das Landgericht Levadia verurteilte Deutschland im Jahr 1997 zur Zahlung einer Entschädigungssumme in Höhe von umgerechnet ca. € 28 Mio. Seit dem Jahr 2000 ist das Urteil rechtskräftig. Doch gezahlt hat Deutschland bis heute keinen Cent.

Bis heute hat es Deutschland geschafft, die Vollstreckung des Urteils mit allen Mitteln zu verhindern. Mit einer Armada von Juristen bekämpft die deutsche Regierung die berechtigten Forderungen der Opfer. Im Jahr 2001 drohte die deutsche Regierung (Schröder/Fischer) der griechischen sogar mit einem Veto gegen den Beitritt zur Eurozone, wenn sie die Vollstreckung zulasse. Bis heute hat sich aus Angst vor deutschen Sanktionen keine griechische Regierung getraut, die Vollstreckung in Griechenland zu erlauben.

Zwar besteht noch immer die Chance, dass Argyris Sfountouris und die anderen Menschen aus Distomo zu ihrem Recht kommen. Denn der oberste italienische Gerichtshof (Kassationshof) hat die Zwangsvollstreckung in deutsches Eigentum in Italien, das heißt die Vollstreckung des Urteils aus Griechenland, für zulässig erklärt. Doch wird die deutsche Regierung nichts unversucht lassen, eine Auszahlung der geschuldeten Summe auch in Italien zu verhindern. Ob dies gelingt, wird auch davon abhängen, wie die Öffentlichkeit sich verhält.
Deutschland will nicht zahlen, weil es einen Präzedenzfall fürchtet. Und es will nicht für zukünftige Kriegsverbrechen zahlen müssen.

Wir sagen: Es darf nicht dabei bleiben, dass der deutsche Staat die Opfer von NS-Verbrechen rechtlos stellt. Deutschland muss seine Schulden bezahlen.

Wir fordern die sofortige Auszahlung der gerichtlich festgestellten Entschädigungssumme an die Klägerinnen und Kläger aus Distomo!
Wir fordern die Entschädigung aller Opfer des Nationalsozialismus!
Nazi-Verbrechen nicht vergeben, den antifaschistischen Widerstand nicht vergessen!

AK-Distomo
Hamburg, den 17. Januar 2016

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