Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz durch die Rote Armee befreit. Befreit
wurden etwa 7600 zurückgelassene Menschen, die krank und schwach waren und von der SS nicht auf den
sogenannten Evakuierungsmarsch, ein Todesmarsch Richtung Westen, getrieben worden waren. Wie kein anderer
Ort wurde Auschwitz zum Sinnbild für die Verbrechen der Nationalsozialististen gegen Juden, gegen Sinti
und Roma und gegen andere Bevölkerungsgruppen im Deutschen Reich und in den besetzten Ländern. Seit 1996
ist der 27. Januar ein bundesweiter gesetzlich verankerter Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus,
seit 2005 wird der Tag auch international begangen. Deutschland führte den Gedenktag ein, als es 50
Jahre nach Ende von Krieg und Holocaust einen geschichtspolitischen Strategiewechsel vornahm: Nicht mehr
das Verdrängen der Verbrechen, sondern das Bekenntnis dazu sollte ein positives Selbstbild schaffen. Auch
dieses Jahr wird das offizielle Deutschland den Gedenktag wieder dazu nutzen, um sich als Land, das aus
seiner Vergangenheit gelernt und sich grundlegend verändert habe, in Szene zu setzen. Doch die
Tatsachen sprechen gegen diese Deutung.
Die Neue Wache als Symbol deutscher Geschichtspolitik
Kein Ort in Deutschland symbolisiert in besserer Weise den Umgang mit der deutschen Geschichte als
die Neue Wache in Berlin. Diese dient seit 1993 als nationale Gedenkstätte. Die Vorgabe für die
Geschichtsdeutung durch die Bundesrepublik liefert der Schriftzug unter der Pieta von Kollwitz
"Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft". Alle waren Opfer: Diejenigen, die ermordet wurden,
genau wie die Soldaten, die ihnen vielleicht als Mörder gegenüber gestanden hatten. Täter war offenbar
niemand. Wenn aber alle gleich waren, dann muss anscheinend über die Verantwortung für die Mörder und ihre Taten
nicht mehr gesprochen werden. So versucht sich das "wiedervereinigte" Deutschland seiner Verantwortung
für die Vergangenheit zu entledigen.
Die notwendigen Konsequenzen aus den Verbrechen des Nationalsozialismus hat Deutschland dementsprechend bis heute
nicht gezogen. Eine strafrechtliche Verfolgung der Täter ist weitgehend ausgeblieben. Die meisten Mörder blieben
in der Bundesrepublik unbestraft und konnten ihre Karrieren ungestört fortsetzen. Auch die bundesdeutsche
Entschädigungspolitik gibt wenig Anlass, auf die Aufarbeitung stolz zu sein, im Gegenteil. Die meisten Opfer
deutscher NS-Verbrechen haben bis heute keinen Cent Entschädigung erhalten. Stellen sie Forderungen, werden die
Überlebenden der Naziverbrechen von deutschen Regierungsvertretern gedemütigt und als Friedensstörer denunziert. Am
Fall Distomo (Griechenland) wird dies wie in einem Brennglas sichtbar.
Argyris Sfountouris und sein Jahrzehnte währender Kampf um Entschädigungen
Viele Menschen kennen Argyris Sfountouris seit seinem Auftritt in der Ende März 2015 im ZDF ausgestrahlten
Satiresendung "Die Anstalt" oder haben den Dokumentarfilm "Ein Lied für Argyris" gesehen. Er war noch nicht
vier Jahre alt, als deutsche Besatzungssoldaten am 10. Juni 1944 seine Eltern und 216 andere Bewohner jeden
Alters und Geschlechts im griechischen Dorf Distomo grauenhaft hinmetzelten. Seit seiner Jugend kämpft
Argyris Sfountouris für eine wahrheitsgetreue Geschichtsschreibung und die Aufarbeitung deutscher Kriegsverbrechen
in Griechenland.
In einem Brief der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Athen vom 23. Januar 1995: "Sehr geehrter Herr Sfountouris,
im November des vergangenen Jahres hatten Sie bei der Botschaft vorgesprochen und angefragt, ob Entschädigungen irgendwelcher
Art für die Opfer der Vergeltungsaktion der deutschen Wehrmacht im Jahr 1944 gegen das Dorf Distomo vorgesehen sind
oder beantragt werden können. (...) Nach Auffassung der Bundesregierung sind Vergeltungsaktionen wie gegen das Dorf
Distomo nicht als NS-Tat zu definieren (...), sondern als Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung."
Das Gerichtsverfahren
Argyris Sfountouris wollte und konnte sich mit dieser Leugnung des Verbrechens und der Haltung Deutschlands in der
Entschädigungsfrage nicht abfinden. Er und seine drei Schwestern klagten in Deutschland und in Griechenland auf
Entschädigungen. Vor deutschen Gerichten unterlagen sie. Die deutsche Justiz wollte einen Präzedenzfall verhindern und sprach
damit den Opfern von Kriegsverbrechen jedes individuelle Recht auf Entschädigung ab. Doch vor griechischen Gerichten
hatten die Überlebenden und Angehörigen der Opfer - 296 Klägerinnen und Kläger aus Distomo - Erfolg. Das Landgericht
Levadia verurteilte Deutschland im Jahr 1997 zur Zahlung einer Entschädigungssumme in Höhe von umgerechnet
ca. € 28 Mio. Seit dem Jahr 2000 ist das Urteil rechtskräftig. Doch gezahlt hat Deutschland bis heute keinen Cent.
Bis heute hat es Deutschland geschafft, die Vollstreckung des Urteils mit allen Mitteln zu verhindern. Mit einer
Armada von Juristen bekämpft die deutsche Regierung die berechtigten Forderungen der Opfer. Im Jahr 2001 drohte die
deutsche Regierung (Schröder/Fischer) der griechischen sogar mit einem Veto gegen den Beitritt zur Eurozone, wenn sie
die Vollstreckung zulasse. Bis heute hat sich aus Angst vor deutschen Sanktionen keine griechische Regierung getraut, die
Vollstreckung in Griechenland zu erlauben.
Zwar besteht noch immer die Chance, dass Argyris Sfountouris und die anderen Menschen aus Distomo zu ihrem Recht
kommen. Denn der oberste italienische Gerichtshof (Kassationshof) hat die Zwangsvollstreckung in deutsches
Eigentum in Italien, das heißt die Vollstreckung des Urteils aus Griechenland, für zulässig erklärt. Doch wird die
deutsche Regierung nichts unversucht lassen, eine Auszahlung der geschuldeten Summe auch in Italien zu verhindern.
Ob dies gelingt, wird auch davon abhängen, wie die Öffentlichkeit sich verhält.
Deutschland will nicht zahlen, weil es einen Präzedenzfall fürchtet. Und es will nicht für zukünftige Kriegsverbrechen
zahlen müssen.
Wir sagen: Es darf nicht dabei bleiben, dass der deutsche Staat die Opfer von NS-Verbrechen rechtlos stellt. Deutschland
muss seine Schulden bezahlen.
Wir fordern die sofortige Auszahlung der gerichtlich festgestellten Entschädigungssumme an die
Klägerinnen und Kläger aus Distomo!
Wir fordern die Entschädigung aller Opfer des Nationalsozialismus!
Nazi-Verbrechen nicht vergeben, den antifaschistischen Widerstand nicht vergessen!
AK-Distomo
Hamburg, den 17. Januar 2016
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