Reader zur Veranstaltungsreihe der antirassistischen Gruppe Leipzig
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Generalverdacht gegen MigrantInnen und UnterstützerInnen

strukturell rassistisch, datenschutzrechtlich bedenklich, unzweckmäßig

Der Entwurf der rot-grünen Bundesregierung für ein “Terrorismusbekämpfungsgesetz” ist nicht weniger als eine allgemeine Verdachtserklärung gegen Flüchtlinge, MigrantInnen und deren UnterstützerInnen. Zur Verdeutlichung dessen dokumentieren wir hier zunächst Auszüge aus den stellungnahmen verschiedener Flüchtlingsräte und PRO ASYL zum Terrorismusbekämpfungsgesetz:

Schon jetzt ist die Beobachtungsdichte des Verfassungsschutzes bei AusländerInnen 20 mal so hoch, wie bei Deutschen. Dieser Multiplikator wird laut dem Kieler Vorsitzenden der Deutschen Vereinigung für Datenschutz, Dr. Thilo Weichert, auf Grundlage des geplanten Terrorismusbekämpfungsgesetzes noch gesteigert werden. Mit dem Gesetz werden grundlegende Freiheits- und Bürgerrechte beschnitten erklärt auch die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge Pro Asyl und bezweifelt, dass sich dieMaßnahmen des geplanten Gesetzes überhaupt zur Bekämpfung von Terrorismus eignen.“Stattdessen droht ein Klima, in dem willkürliches staatliches Vorgehen gegen ausländische ‚Sündenböcke’ auf der einen Seite und politische Gewalt gegen Andersdenkende und Menschen anderer Herkunft auf der anderen Seite vortrefflich entwickeln können.” erklärt Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein. Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein kritisiert mit den anderen Landesflüchtlingsräten und Pro Asyl das geplante Terrorismusbekämpfungsgesetz in folgenden Punkten:

UNGEHEMMTER DATENFLUSS

Ab jetzt wird hemmungslos vermessen, registriert, gesammelt und verglichen: Im Ausweis dürfen über Foto und Unterschrift hinaus bestimmte “biometrische Merkmale” (von Fingern, Händen oder Gesicht) gespeichert werden. Hier geht es nicht nur um die zweifelsfreie Zuordnung Person–Pass. Zu befürchten ist die Einrichtung einer Referenzdatenbank, in der unverwechselbare Daten jedes Menschen abgespeichert sind und über die jede/r identifizierbar wird. Migranten werden zusätzlich diskriminiert: Für Deutsche werden die genauen Regelungen zu den gespeicherten Daten per Gesetz festgelegt, für Ausländer genügt schon eine Rechtsverordnung des BMI. Im Gegensatz zu Deutschen sind die verschlüsselt angebrachten Daten von Migranten und Flüchtlingen auch nicht an den Zweck der Identitätsfeststellung gebunden, sondern können von allen Behörden verwendet und weitergegeben werden. Bei Ausländern fehlt überdies das für Deutsche vorgesehene Recht zu erfahren, welche Daten gespeichert sind. ([[section]] 4 PassG, [[section]] 1 PersAuswG, [[section]][[section]] 5, 39, 56a AuslG)

MIGRANTEN IM VISIER DER ERMITTLER

Schon heute kann die Polizei bei Vorliegen konkreter Gefahr auf das Ausländerzentralregister (AZR) zugreifen, in dem nicht nur die Migranten gespeichert sind, die schon jahre- oder jahrzehntelangin Deutschland leben, sondern auch Personen, die früher in Deutschland gelebt haben und längst ausgewandert sind. Die Daten von mehr als 10 Millionen Menschen sind im AZR registriert. Zukünftig soll die Polizei den gesamten Datenbestand in einem automatisierten Verfahren per Rasterfahndung auswerten können – auch ohne dass eine konkrete Gefahr erkennbar ist. Die bisherige Erfahrung mit Rasterfahndungen zeigt: Fast immer sind Unschuldige von schweren Eingriffen in ihre Persönlichkeitsrechte betroffen. ([[section]] 12 Abs. 1 AZRG)

FLÜCHTLINGE UNTER GENERALVERDACHT

Flüchtlinge sind heute die am penibelsten erfasste Bevölkerungsgruppe. Im Fingerabdrucksystem AFIS werden ihre Daten gespeichert. Darauf kann die Polizei bislang bei begründetem Verdacht auf eine Straftat zugreifen. Zukünftig sollen die Daten einem automatischen Abgleich mit polizeilichen Tatortspuren unterzogen werden. Auf 10 Jahre soll die Speicherungsdauer ihrer Daten verlängert werden, sogar über die Anerkennung als Flüchtling hinaus. Die geplante zweckentfremdete Verwendung dieser Daten ist datenschutzrechtlich bedenklich und stellt Flüchtlinge unter Generalverdacht.([[section]] 16 Abs. 5 u. 6 AsylVfG)

MISSBRAUCH VON ASYLINFORMATIONEN

Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge soll verpflichtet werden, Informationen aus der Anhörung an den Verfassungsschutz weiterzuleiten. Ein faires Asylverfahren ist aber kaum möglich, wenn Flüchtlinge sich auf die Vertraulichkeit des Gesprächs nicht mehr verlassen können: Denn die persönlichen und teils hochsensiblen Informationen können auf Geheimdienstkanälenin den Verfolgerstaat gelangen. Der Verrat des “Asylgeheimnisses” durch deutsche Behörden kann für Flüchtlinge und deren Angehörige im Herkunftsland lebensgefährlich sein. ([[section]] 18BVerfSchG)

PAUSCHALANGRIFF AUF AUSLÄNDISCHE VEREINE

Vereine von Migranten werden zukünftig noch stärker vom Verfassungsschutz überwacht, wenn sie sich gegen “den Gedanken der Völkerverständigung” oder “das friedliche Zusammenleben der Völker richten”. Darüber hinaus sollen sie leichter verboten werden können, z.B. wenn sie Gewaltanwendung befürworten oder androhen, auch wenn sich dies nicht auf Deutschland, sondern auf ihr Herkunftsland bezieht. Was sich nach Terrorismusbekämpfung anhört, ist in der Praxis hochproblematisch: Exilvereinen, die sich politisch gegen Unrechtsregime in ihren Herkunftsstaaten engagieren, droht die Verbotsverfügung. Soll ein afghanischer Verein, der in Deutschland zum gewaltsamenSturz der Taliban aufruft, verboten werden? Aus der Perspektive von Verfolgerstaaten sind Oppositionelle oft Terroristen. Eine Gleichsetzung zwischen Terrorismus und dem Kampf gegendiktatorische Regime darf es nicht geben! ([[section]] 3 BVerfSchG, [[section]] 14 Abs. 2 VerinsG)

VERSCHÄRFUNG DER AUSWEISUNGSBESTIMMUNGEN

Die Ausweisungstatbestände sollen erheblich verschärft werden. Dabei wird mit unscharfen Generalklauselnhantiert: Gründe für eine Ausweisung sind z.B. schon die Drohung mit Gewalt oder die Unterstützung bestimmter verdächtigter Vereinigungen (s.o.). Eine genaue Abgrenzung zum Terrorismus ist auch hier kaum möglich. Selbst nicht gewalttätige Unterstützer von politischen Exilgruppen könnten betroffen sein. Klagen dagegen stellen nicht automatisch die aufschiebende Wirkung mehr her, d.h. die Betroffenen müssen u.U. die ausländerrechtlichen Folgen tragen, bevor ein Gericht die Entscheidung überprüfen kann. ([[section]][[section]] 8, 47 Abs.2, [[section]] 72 Abs.1 AuslG)

SPRACHANALYSEN

Menschen im Asylverfahren und bestimmte Ausreisepflichtige sollen sich Sprachanalysen “zur Bestimmung der Herkunftsregion” unterziehen. In der Gesetzesbegründung wird erläutert, dass es sich um eine Maßnahme zur Erleichterung der Abschiebung Ausreisepflichtiger handelt. Damit wird eine schon lange als wissenschaftlich fragwürdig kritisierte Praxis aus der rechtlichen Grauzone heraus geholt und in Gesetzesform zementiert. Mit Terrorismusbekämpfung hat dies offensichtlich gar nichts zu tun. ([[section]] 16 Abs. 2 AsylVfG)

VISUMANTRAGSTELLER: BEHANDELT WIE KRIMINELLE

Die Visadatei soll ausgebaut werden, u.a. durch die Speicherung von Fotos. Visumantragsteller müssen unter Umständen auch ihre Fingerabdrücke abliefern, die dann für alle Behörden zugänglich sind. Sogar die Daten derjenigen, die die Menschen nach Deutschland einladen, können registriert und weitergeleitet werden. Das Auswärtige Amt hat die Behandlung von Visumantragstellern als “nicht akzeptabel” beurteilt: Die Vorschrift “kollidiert erheblich mit dem ... Interesse an einer Präsentation Deutschlands als weltoffenes und gastfreundliches Land” und könnte “grundsätzliche politische und wirtschaftspolitische Interessen Deutschlands dauerhaft ... beeinträchtigen.” ([[section]] 29AZRG, [[section]][[section]] 41, 64 a AuslG)

DER BGS: AUF GRENZPATROUILLE IM INLAND

Schon jetzt darf der BGS im 30 km-Raum von der Grenze sowie u.a. an Flughäfen, Bahnhöfen und in allen Zügen Personen kontrollieren und ggf. die Sachen durchsuchen. Zukünftig soll der BGS-Zugriffsbereich im Küstenbereich auf 50 bis 80 km ausgedehnt werden In den Nord-Bundesländer sowie Städte wie Hamburg, Bremen oder Schwerin müssten nun mit permanenter BGS-Präsenz und fast landesweit mit verdachtsunabhängigen Personenkontrollen rechnen. Mit Grenzüberwachung hat das wenig zu tun, wohl aber mit Rassismus. Denn die Auswahl der Kontrollierten orientiert sich nach allen Erfahrungen und den Kriterien des Antiterrorgesetzes an rassistischen Kriterien: Betroffen sind fast ausnahmslos (vermeintliche) Flüchtlinge und Migranten. Für sie ist, z.B. am Bahnhof, das Landesinnere schon längst “Grenzgebiet”. Je dunkler die Hautfarbe, desto verdächtiger. Die in Deutschland lebenden Attentäter von New York hätte man mit Kontrollen an jeder Straßenecke übrigens nicht gefunden: Sie hatten fehlerfreie Papiere. ([[section]] 2 Abs. 2 BGSG) 28.11.01

“Der Staat ergreift im Schatten der Anschläge vom 11. September hier offenbar die Chance, schonlang gehegte Wünsche von Überwachungsdiensten und Sicherheitstechnokraten zu befriedigen.” mutmaßt Martin Link von der Flüchtlingsinitiative Schleswig-Holstein. Doch die hier dokumentierten Verschärfungen müssen auch im Zusammenhang mit der Debatte um ein Zuwanderungsgesetz gesehen werden, der sie unter dem Deckmantel der “Terrorbekämpfung” von vornherein entzogen werden.

VERNACHLäSSIGT WERDEN DARF EBENSO WENIG DIE NEUEINFüHRUNG DES [[section]] 129 B STGB:

Der Text der Neuregelung lautet schlicht: “Die [[section]][[section]] 129 und 129a des Strafgesetzbuches gelten auch für Vereinigungen im Ausland”. Die Voraussetzungen der [[section]] 129 und [[section]]129a StGB haben es aber in sich: wesentliche Merkmale sind

- die Strafbarkeit, ohne tatsächlich Straftaten begangen, sondern die Begehung zukünftiger Straftaten ins Auge gefasst zu haben,

- die Fassung als Organisationsgesetz, also der Verzicht auf individuelle Beteiligung, Kenntnis oder Billigen einer Tat

- und die durch die Ermittlungen durch das BKA und spezielle Staatsschutzsenate der Oberlandesgerichte ermöglichten Sonderbefugnisse der Überwachung und Ausforschung von politisch unliebsamen Szenen oder Gruppen (in Anbetracht einer Einstellungsquote von über 90% liegt der Verdacht mehr als nahe, dass dies die eigentliche Aufgabe dieser Normen ist)

- und nicht zuletzt die Auffangtatbestände des “Werbens” oder “Unterstützens”, also in der Regel reine Meinungsäußerungen in Form von Veranstaltungen, Plakaten, Solidaritätsbekundungen, die aber immerhin 85% der eingeleiteten Ermittlungen ausmachen.

Die Pläne für einen [[section]] 129b im europäischen Rahmen bestanden schon lange (im Dezember 1998 verabschiedete der Rat der Innen- und Justizminister der EU eine entsprechende “Gemeinsame Maßnahme zur Bekämpfung “krimineller und terroristischer Vereinigungen”), der neue [[section]] 129b gilt jedoch über das Territorium der EU hinaus für das gesamte Ausland. Welche ausländischen Gruppen als terroristisch oder als Teil eines berechtigten Widerstands gegen ein Unrechtssystem gelten werden wird aller Voraussicht nach in der Entscheidungsgewalt der Bundesanwaltschaft liegen. Verlassen muss diese sich dabei auf andere Staaten, zu deren regelmäßigen Fahndungsmethoden womöglich die Folter gehört. Die Konzipierung der deutschen Interessenpolitik im Ausland wird bei der Entscheidungsfindung keine untergeordnete Rolle spielen. Auch durch das Fehlen eines Straftatenkataloges kann von objektiv zu beurteilenden Kriterien keine Rede sein. Zu erwarten ist, dass die Regelung zur willkürlichen Verfolgung bestimmter politischer “Ausländervereinigungen” und UnterstützerInnenorganisationen und zu ebenso willkürlichen ausländerrechtlichen Maßnahmen führt. Nicht umsonst will das zweite Anti-Terrorpaket Ausweisungen bereits ermöglichen, wenn gegen eine Person der Hauch eines Verdachts der Unterstützung des (wie und durch wen auch immer zu definierenden) “internationalen Terrorismus” liegt.

mehr Materialien zum Thema: www.cilip.de/terror

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