Für Linksradikale sollte es wichtig sein, gesellschaftliche Prozesse unter feministischen Gesichtspunkten zu analysieren. Der Diskurs über die Überwachungsgesellschaft erfordert eine spezifische Betrachtung der Situation von Frauen, da die Präsenz einer beobachtenden und eingreifenden Normierungsmacht auf Frauen in besonderer Weise wirkt. Frauen werden zum einen als Vorwand benutzt, um Überwachung zu rechtfertigen und andererseits hat Kontrolle auf Frauen spezifische Einflüsse.
Private und staatliche repressive Sicherheitspolitik benötigt für ihre Akzeptanz Begründungen, die in der Gesellschaft präsent sein müssen. Gibt die Kriminalitätsstatistik keine Argumente z.B. in Bezug auf vermeintliche Drogendelikte oder sogenannte organisierte Kriminalität her, werden Frauen zur Rechtfertigung herangezogen. Eine Bedrohung wird konstruiert, Angsträume werden erzeugt.
Frauen wird immer vermittelt, es gäbe sichere und gefährliche Ort. In einer patriarchalen, bürgerlichen Gesellschaft sind die vermeintlich sicheren natürlich im Privaten, wogegen das Gefährliche in der Öffentlichkeit lauert. Soll also ein öffentlicher Ort überwacht werden, wird ein Angstraum konstruiert z.B. müssen Handtaschen von Omas herhalten oder eine Gefährdung von Frauen durch Vergewaltigung wird suggeriert. Vergewaltigungen dienen ebenfalls als Begründung für die Durchführung von Speicheltests und das Anlegen von Gen-Datenbanken in großem Umfang.
Es ist nicht nur die Öffentlichkeit, sondern immer auch der unbekannte Fremde angeblich besonders bedrohlich, bis hin zur rassistischen Behauptung, daß vor allem durch ausländische bzw. schwarze Männer sexualisierte Übergriffe drohen würden. Daß die Realität eine andere ist, wird dabei ignoriert, da die Warnung vor dem "gefährlichen Draußen" und dem "gefährlichen Fremden" Frauen im Haus hält bzw. an einen vermeintlichen Beschützer bindet und damit systemstabilisierend wirkt. In der Regel sind die Täter Freunde, Ehemänner oder Verwandte, die den "Schutz" der Privatheit für ihre Übergriffe nutzen. Eine gesellschaftliche Warnung vor Freundschaften mit Männern oder gar der Ehe werden wir allerdings nicht hören.
Auch Medien spielen die oben genannten Szenarios gerne durch, so werden Angst erzeugt und Gefahren mythisiert. Dabei müssen solche Bilder nicht immer direkt im Sicherheitsdiskurs angesprochen werden, da an gesellschaftlich und medial vermittelte schon "bekannte Bedrohungen" angeknüpft werden kann.
Durch erhöhte Polizeipräsenz, Sicherheitsdienste, Videoüberwachung oder die umfangreiche Erfassung persönlicher Daten wird nicht das Sicherheitsgefühl gestärkt, sondern ein Bedrohungspotenzial multipliziert sich. Die Konstruktion öffentlicher Angsträume soll Frauen einschränken und auf eine abhängige Position zurückwerfen.
Überwachungsmaßnahmen dienen dem System immer nur zur Kontrolle der Beherrschten, führen aber nicht dazu, daß vermeintliche Straftaten verhindert werden. Sie werden höchstens verschoben. Es soll nie darum gehen, Ursachen zu erkennen und irgend etwas grundsätzlich zu verändern. Sexistische Anmache oder sexualisierte Belästigungen werden durch Überwachung nicht verhindert und sollen auch gar nicht verhindert werden.
Frauen für eine repressive Politik zu instrumentalisieren, ist erst recht ein Hohn, wenn man sonstige Politik betrachtet. Frauen zu stärken, kann gar nicht staatliches Interesse innerhalb eines patriarchalen Systems sein. So werden emanzipative Ideen zwar gelegentlich aufgegriffen, aber ins herrschende Konzept eingepaßt oder als symbolischer Hundeknochen angeboten. Frauenparkplätze können in einer konkreten Situation wünschenswert erscheinen, ändern aber natürlich nichts an gesellschaftlichen Verhältnissen. Intentionen feministischer Stadtplanung vermitteln vielleicht vordergründig ein größeres Sicherheitsgefühl. Es ist allerdings nicht wünschenswert, alle Straßen, Plätze und Winkel auszuleuchten und kontrollierbar zu machen, denn solche Bestrebungen laufen auf eine total überwachte Stadt hinaus, in der individuelles Handeln reguliert und normiert wird.
Das Verhalten von Frauen wird in allen Lebensbereichen sowieso stark normiert und eingeschränkt im Sinne der patriarchalen Verhältnisse und Rollenzuschreibungen. Kinder werden geschlechtsspezifisch erzogen. Wobei Mädchen früh lernen sollen, sich zu begrenzen und angepaßt zu verhalten. Ihr Aktionsradius wird eingeengt, nicht nur durch den Zwang, sich wie eine wohlerzogene junge Dame zu verhalten, sondern auch mit dem Spruch, der ein Leben lang begleitet: Was sollen denn die anderen denken? So wachsen Frauen mit dem ständigen Wissen der Beobachtung und Bewertung auf. Das führt schnell zu Selbstkontrolle, um den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden. Der männliche Blick, der das Objekt abschätzt, wird Frauen in der Sozialisation so sehr eingeimpft, daß er beinahe als etwas natürliches empfunden wird. Es ist sicherlich kein Zufall, daß immer wieder von einem "Big Brother" die Rede ist. In einer bürgerlich-patriarchalen Gesellschaft, kann der Blick, der beobachtet und bewertet nur männlich konnotiert sein. Macht, z.B. Gesetze zu erlassen und zu vollstrecken, und öffentlicher Raum sind vorrangig Männern vorbehalten. Genau so funktionieren alltägliche Situationen, Frauen sind es gewohnt von männlichen Autoritäten umgeben zu sein, sichtbar und unsichtbar, und ihr Verhalten an diesen zu orientieren. Dabei macht es keinen Unterschied, wenn in Einzelfällen Frauen Machpositionen inne haben, solange es sich nur innerhalb des Systems abspielt. Vorhandene Strukturen reproduzieren eine patriarchale Männlichkeit. Frauen wie Männer können in Machtpositionen nur aufsteigen, wenn sie sich entsprechend normieren lassen.
In der heutigen Gesellschaft ist männliche Dominanz auf allen Ebenen verankert. Zusätzlich zur Entscheidungsebene sind Männer auf der ausführenden Ebene sowohl abstrakt als auch konkret präsent. Security, Wachschutz, Polizei, Kameramänner: der Überwachungsapparat ist fest in Männerhand. Für Frauen ergibt sich daraus die Spezifik, daß sie nicht nur mit einer alltäglichen Kontrolle sozialisiert werden, sondern durch die Institutionalisierung von männlicher Beobachtung eine Normierung und Einschränkung verstärkt erfahren.
Überwachung unterstützt so die Reproduktion patriarchaler Verhältnisse und trägt patriarchale Werte der bürgerlichen Gesellschaft in einem Maße in die Öffentlichkeit zurück, wie dies seit einiger Zeit nur noch unter den Kontrollbedingungen der Familie möglich schien. So wird auch im Sicherheitsdiskurs auf die Familie Bezug genommen. So sicher, sauber, geordnet und schön, wie in der Familie soll es beispielsweise auch bei der Deutschen Bahn AG sein. Ehemals öffentliche Räume werden analog zur Familie als private, vom Politischen gereinigte Orte des Wohlbefindens präsentiert, wobei eine autoritäre Ordnung gezeigt und beworben wird, die mittels Fürsorge und Zwang normiert und hierarchisiert. Die Beteiligten haben ihre klar zugewiesenen Rollen, deren Einhaltung zum Erwerb bestimmter Leistungen berechtigt, deren Nichteinhaltung hingegen zu Sanktionen bzw. Ausschluß führt. Es gibt auch hier eine väterliche Instanz, die das Hausrecht ausübt, also festlegt, wie sich verhalten werden darf und wie nicht, wer Zugang hat und wer draußen bleiben muß. Permanente Überwachung und die Suggestion von Gefahr und Schutzbedürftigkeit versetzen so Menschen in einen Zustand der Unmündigkeit, der ihre umfassende Regulierung und Verwertung ermöglicht. Dabei werden vorgegebene Strukturen und Normen so stark aufgenommen, daß die Einzelnen sich selbst für die Aufrechterhaltung der Ordnung verantwortlich fühlen.
Wie weit vorgegebene Machtverhältnisse verinnerlicht sind, sieht man auch in Szenestrukturen. Selbst dort, wo vermeintlich eine kritische Auseinandersetzung stattfinden kann, ist ein konsequentes Aufbrechen der Hierarchie nicht möglich.