FrauenRechtsBüro
gegen sexuelle Folter
c/o Forschungsgesellschaft Flucht und Migration e.V.
Gneisenaustraße 2a
10961 Berlin
Fax:
030/ 694 69 67
Mail: juttaprojektJtt@netscape.net
Berlin,
den 19.2.2001
AUFRUF
ZU EINER DELEGATIONSREISE ZWECKS PROZESSBEOBACHTUNG
Seit
nunmehr fast 4 Jahren ist unser Projekt "Rechtliche Hilfe für
Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder
auf andere Weise sexuell mißhandelt wurden" in der Türkei
einschließlich der kurdischen Gebiete aktiv. Das Ziel war und
ist es, Frauen, die in unterschiedlicher Weise sexuell gefoltert wurden,
über ihre Rechte aufzuklären und sie zu stärken, um die
Folterer zur Anzeige zu bringen. Bis Ende 2000 haben sich 132 betroffene
Frauen an uns gewandt und der Mut dieser Frauen, über die an ihnen
begangene sexuelle Folter zu sprechen und die Strafverfolgung der Folterer
einzufordern sowie die gleichzeitige Öffentlichkeitsarbeit des
Projekts haben wesentlich dazu beigetragen, das Tabu bezüglich
dieser weit verbreiteten Realität in der Türkei zu brechen,
die Strafverfolgung der staatlichen Folterer zu verlangen und z.T. durchzusetzen
und eine breite Solidarität insbesondere von Frauengruppen und
-organisationen zu erreichen.
Die Europäische Union hat der Türkei mittlerweile den Kandidatenstatus
für eine Vollmitgliedschaft nach der Umsetzung u.a. in verschiedenen
internationalen Menschenrechtsabkommen festgeschriebener Garantien zuerkannt.
Das entsprechende Programm, welches der Türkei zur Beachtung und
Realisierung übermittelt wurde, enthält kurzfristig, mittelfristig
und langfristig umzusetzende Maßnahmen. Zu den kurzfristig, d.h.
innerhalb eines Jahres, umzusetzenden Maßnahmen gehören u.a.
die Schaffung rechtlicher Strukturen und das Ergreifen aller notwendigen
Maßnahmen für einen effektiven Kampf gegen die Folter sowie
die Stärkung und Unterstützung der Möglichkeiten einer
rechtlichen Widergutmachung für die Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen.
Unsere Arbeit findet genau in diesem Kontext statt.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen hierfür ist es jedoch, daß
die von sexueller Folter betroffenen Frauen und Mädchen den Mut
finden, zu sprechen, Zeugnis abzulegen und ihre Folterer zur Anklage
zu bringen.
Aufgrund der Öffentlichkeitsarbeit des Projekts nahmen sich immer
mehr Kreise, insbesondere Frauenorganisationen, dieser Realität
an und im Juni 2000 fand in Istanbul ein von einer Plattform mehrer
Frauengruppen organisierter Kongreß zu dem "Thema" sexuelle
Folter in der Türkei einschließlich der kurdischen Gebiete
statt. Auf dem Kongreß traten verschiedene Vertreterinnen von
Frauengruppen, so auch eine Anwältin unseres Projekts in Istanbul,
sowie betroffene Frauen als Rednerinnen auf.
Mehrere betroffene Frauen legten hier Zeugnis ab und berichteten von
der an ihnen begangenen sexuellen Folter.
Unabhängig von manchen Kritikpunkten unseres Projektes an der Art
der Durchführung dieses Kongresses halten wir jede Aktivität
zu dieser nach wie vor existierenden Realität für sinnvoll.
Der Kongreß stieß auf breite Resonanz im In- und Ausland.
Am
20.11.2000 klagte die Staatsanwaltschaft Beyoglu/ Istanbul 16 Frauen,
die als Organisatorinnen und Rednerinnen auf diesem Kongreß in
Erscheinung traten, wegen Verunglimpfung und Verleumdung des Staates
und seiner Sicherheitsorgane gem. Art. 159 Abs. 1 Türkisches Strafgesetzbuch
an. Die Strafandrohung beträgt zwischen 1 und 6 Jahren Haft. Unter
den Angeklagten befinden sich drei Frauen, die auf dem Kongreß
über die von ihnen erlebte sexuelle Folter berichteten und auch
die Anwältin unseres Projekts, Fatma Karakas, die eine allgemeine
Auswertung der Projektarbeit vortrug. In der Anlage ist die Übersetzung
der Anklageschrift beigefügt, die vollen Namen der angeklagten
Frauen sind uns bekannt.
Mittlerweile wurde in einem anderen Zusammenhang auch gegen die Rechtsanwältin
des Projekts, Eren Keskin, ein Strafverfahren gem. Art. 159 Abs. 1 Türkisches
Strafgesetzbuch eingeleitet, da sie die Presse im Oktober 2000 über
die von den sogenannten "Friedensmüttern" erlebte sexuelle
Folter informiert hatte.
Diese Entwicklungen machen deutlich, daß die Türkei in keinster
Wiese gewillt ist, die oben erwähnten Bedingungen zur Aufnahme
als Vollmitglied in die Europäische Union umzusetzen. Im Gegenteil.
Statt die Mechanismen zur Strafverfolgung staatlicher Folterer zu stärken,
werden von Folter Betroffene, deren Anwält/innen und Unterstützer/innen
nunmehr mit Strafverfahren überzogen, um sie vom Sprechen abzubringen.
Mit großer Sorge beobachten wir, daß die von unserem Projekt
betreuten Frauen für ihren Mut nunmehr auch noch bestraft werden
sollen. Die Absicht des Staates ist offensichtlich: andere Frauen sollen
abgeschreckt werden, von der erlittenen sexuellen Folter zu berichten
und die Strafverfolgung der staatlichen Täter einzufordern
Diese
Frauen bedürfen unserer vollen Solidarität und Unterstützung.
Daher halten wir es für sinnvoll, mit einer Frauendelegation zum
ersten Prozeßtag gegen die angeklagten 16 Frauen nach Istanbul
zu fahren, um ihnen so zu zeigen, daß sie nicht allein sind.
Der
erste Prozeßtag wird am 21.3.2001 vor dem Strafgericht Beyoglu/
Istanbul um 11 Uhr stattfinden.
Für
Übersetzungen ist gesorgt. Es wird auch die Möglichkeit bestehen
mit den Angeklagten, den Anwältinnen, dem Menschenrechtsverein
IHD und eventuell der Frauenkommission der Anwaltskammer Istanbul Gespräche
und Interviews zu führen. Auf Wunsch werden Termine mit verschiedenen
Frauenorganisationen wie z.B. dem kurdischen Frauenverein "Frauenzentrum
Dicle", der Vereinigung werktätiger Frauen "EKB"
oder den Frauen der Frauenkommission der politischen Partei HADEP organisiert.
Unserer Zweigstelle ist es leider nicht möglich, Kosten zu tragen.
Für diejenigen Interessierten, die von Berlin aus mitfliegen wollen,
bestehen zwei Flugmöglichkeiten und zwar am 19.3.2001 mit Türkisch
Airlines für ca. 490 DM,
am 20.3.2001 mit Beytas Reisen für ca. 350 DM.
Diese
Flüge können von uns reserviert werden, wenn wir spätestens
am 3.3.2001 verbindliche Rückmeldungen interessierter Frauen mit
Namen und Daten der gewünschten Hin- und Rückreise erhalten.
Wir wären allen anderen Frauen, die einen Flug selber organisieren
wollen, dankbar, uns Mitteilung über ihre Teilnahme an der Delegationsreise
zu machen. Wir werden den Teilnehmerinnen sodann ein Programm mit Treffpunkten
und Terminen mitteilen. Soll durch uns eine Hotelunterkunft besorgt
werden, bitten wir ebenfalls um kurze Mitteilung einschließlich
der Angabe einer ungefähren Preisklasse.
Dieser
Aufruf ist zur Verbreitung bestimmt.
Für
das Projekt: Jutta Hermanns, Juristin
Anlagen:
Anklageschrift, Jahresbericht
2000
Übersetzung aus dem Türkischen:
Türkische
Republik
Generalstaatsanwaltschaft Beyoglu
Az. Ermittlungsverfahrens : 2000/29797
Az. Hauptsache : 2000
Anklage : 2000
ANKLAGESCHRIFT
Schwurgericht Beyoglu
Kläger
: Öffentlichkeit
Angeklagte
: 1- H.Y., 2- Ö.H., 3- G.T., 4- S.A., 5- D. A., 6- T. Ç.,
7- B. T. als Organisatorinnen der Veranstaltung "Nein zu sexueller
Mißhandlung und Vergewaltigung".
8.- N.T., 9- F. K., 10- N. K., 11- F. K., 12- S. T., 13- S. S., 14-
Z.O.,
15- T. S., 16- C. G., als Rednerinnen auf der Veranstaltung.
VERBRECHEN:
DATUM DES VERBRECHENS: 17.6.2000
Zur Anwendung gelangende PARAGRAPHEN:
Gegen:
- H.Y., Ö.H., G.T., S. A., D. A., T.Ç. und B.T.: §
159/1 Türkisches Strafgesetzbuch (in fünf Fällen)
- N.T. § 159/1
- F.K. § 159/1
- N.K. § 159/1 (in drei Fällen)
- F.K. § 159/1
- S.T. § 159/1
- Z.O. §159/1 (in zwei Fällen)
- T.S. § 159/1 (in drei Fällen)
- C.G. §159/1
- S.S. § 159/1
Mit
Schreiben des Justizministeriums vom 24.10.2000 zum Aktenzeichen 29178
wurde der Strafverfolgung hinsichtlich der Vergehens der namentlich
bekannten Angeklagten zugestimmt. Wesentliches Ergebnis der Ermittlungen
ist:
Am
10./11. Juni 2000 wurde von den Angeklagten H.Y., ÖH., G.T., S.
A., D. A. und B. T. im Muammer Karaca Theater eine Veranstaltung mit
dem Thema "Nein zu sexueller Mißhandlung und Vergewaltigung"
durchgeführt.
Als
Rednerinnen nahmen die folgenden Personen an der Veranstaltung teil,
die in ihren Redebeiträgen u.a. ausführten:
F.
K.,
(... Durch den Staat werden systematisch Vergewaltigungen an kurdischen
Frauen begangen. Personen, die mit dem Staat zusammen arbeiten und Staateskräfte
üben systematisch sexuelle Gewalt gegen Frauen aus....)
N.
K.,
(... Wir wissen, daß die Folter durch die Konterguerilla als eine
Institution des Staates, angewandt wird. Und in den östlichen Provinzen
werden kurdische Frauen durch Soldaten, Polizeikräfte und Spezialeinheiten
sexuell mißhandelt und vergewaltigt. Nach Festnahmen wird in der
Polizeihaft mit Knüppeln vergewaltigt. Bis heute werden die Täter
von Vergewaltigung an kurdischen Frauen geschützt. Auf den Polizeiwachen
und Polizeipräsidien werden sexuelle Folter und Vergewaltigung
als eine "Arbeitsmethode" eingesetzt....)
F.
K.,
(...in den Gegenden, in denen überwiegend KurdInnen leben, ist
die sexuelle Mißhandlung und Vergewaltigung ein an Frauen verübte
Foltermethode. In Polizeihaft kommt sexuelle Mißhandlung und Vergewaltigung
insbesondere bei politischen Frauen zur Anwendung. Frauen der Guerilla
werden von Soldaten vergewaltigt, nachdem sie getötet wurden...)
S.
T.,
(...Ich war in der Anti-Terror-Abteilung Istanbul in Gewahrsam. Ich
wurde gefoltert und vergewaltigt...)
Z.
O.,
(...die Soldaten und Diensthabenden foltern Frauen systematisch, indem
sie sie vergewaltigen. Diese Vergewaltigungen z.B. in Bosnien, in Tschetschenien
und die Vergewaltigungen der kurdischen Frauen in den östlichen
Provinzen durch Soldaten und Polizisten sind dokumentiert...)
T.
S.,
(...Die Aufgabe der Polizei ist es, zu foltern. Es gibt eine Reihenfolge.
Zweitens sind es die Ärzte und drittens die Justiz. Auch sie sind
Folterer. Dieser Staat hat kein Mitleid...)
C.
G.,
(...Der Staat hat insbesondere organisierte Menschen vergewaltigt...)
S.
S.,
(...Ich war 1997 nach der Festnahme zum Polizeipräsidium in der
Vatan Caddesi gebracht worden. Dort wurde ich von Polizisten vergewaltigt....)
N.
T.,
(... Bei der Festnahme 1992 wurde ich in ein Hinterzimmer des Polizeireviers
gebracht. Sie begannen, mich zu schlagen und mißhandelten mich
mehrmals sexuell. Sie folterten mich mit Elektroschocks an Zehen und
Fingern. Tagelang verabreichten sie mir Elektroschocks an den Fingern,
Zehen und meinem Geschlechtsorgan. Sie vergewaltigten mich mit einem
Knüppel. Manchmal zogen sie mich völlig nackt aus und schütteten
kaltes Wasser über mich...)
Durch
diese Ausführungen haben die Angeklagten den Staat, seine Organe
und das Militär verunglimpft und verleumdet.
Es
wird beantragt, die Anklage zuzulassen und das Hauptverfahren zu eröffnen.
20.11.2000
Mustafa
Gülsoy
Staatsanwalt
Nr. 20815