FrauenRechtsBüro gegen sexuelle Folter
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Berlin, den 19.2.2001

AUFRUF ZU EINER DELEGATIONSREISE ZWECKS PROZESSBEOBACHTUNG

Seit nunmehr fast 4 Jahren ist unser Projekt "Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell mißhandelt wurden" in der Türkei einschließlich der kurdischen Gebiete aktiv. Das Ziel war und ist es, Frauen, die in unterschiedlicher Weise sexuell gefoltert wurden, über ihre Rechte aufzuklären und sie zu stärken, um die Folterer zur Anzeige zu bringen. Bis Ende 2000 haben sich 132 betroffene Frauen an uns gewandt und der Mut dieser Frauen, über die an ihnen begangene sexuelle Folter zu sprechen und die Strafverfolgung der Folterer einzufordern sowie die gleichzeitige Öffentlichkeitsarbeit des Projekts haben wesentlich dazu beigetragen, das Tabu bezüglich dieser weit verbreiteten Realität in der Türkei zu brechen, die Strafverfolgung der staatlichen Folterer zu verlangen und z.T. durchzusetzen und eine breite Solidarität insbesondere von Frauengruppen und -organisationen zu erreichen.
Die Europäische Union hat der Türkei mittlerweile den Kandidatenstatus für eine Vollmitgliedschaft nach der Umsetzung u.a. in verschiedenen internationalen Menschenrechtsabkommen festgeschriebener Garantien zuerkannt. Das entsprechende Programm, welches der Türkei zur Beachtung und Realisierung übermittelt wurde, enthält kurzfristig, mittelfristig und langfristig umzusetzende Maßnahmen. Zu den kurzfristig, d.h. innerhalb eines Jahres, umzusetzenden Maßnahmen gehören u.a. die Schaffung rechtlicher Strukturen und das Ergreifen aller notwendigen Maßnahmen für einen effektiven Kampf gegen die Folter sowie die Stärkung und Unterstützung der Möglichkeiten einer rechtlichen Widergutmachung für die Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen. Unsere Arbeit findet genau in diesem Kontext statt.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen hierfür ist es jedoch, daß die von sexueller Folter betroffenen Frauen und Mädchen den Mut finden, zu sprechen, Zeugnis abzulegen und ihre Folterer zur Anklage zu bringen.
Aufgrund der Öffentlichkeitsarbeit des Projekts nahmen sich immer mehr Kreise, insbesondere Frauenorganisationen, dieser Realität an und im Juni 2000 fand in Istanbul ein von einer Plattform mehrer Frauengruppen organisierter Kongreß zu dem "Thema" sexuelle Folter in der Türkei einschließlich der kurdischen Gebiete statt. Auf dem Kongreß traten verschiedene Vertreterinnen von Frauengruppen, so auch eine Anwältin unseres Projekts in Istanbul, sowie betroffene Frauen als Rednerinnen auf.
Mehrere betroffene Frauen legten hier Zeugnis ab und berichteten von der an ihnen begangenen sexuellen Folter.
Unabhängig von manchen Kritikpunkten unseres Projektes an der Art der Durchführung dieses Kongresses halten wir jede Aktivität zu dieser nach wie vor existierenden Realität für sinnvoll. Der Kongreß stieß auf breite Resonanz im In- und Ausland.

Am 20.11.2000 klagte die Staatsanwaltschaft Beyoglu/ Istanbul 16 Frauen, die als Organisatorinnen und Rednerinnen auf diesem Kongreß in Erscheinung traten, wegen Verunglimpfung und Verleumdung des Staates und seiner Sicherheitsorgane gem. Art. 159 Abs. 1 Türkisches Strafgesetzbuch an. Die Strafandrohung beträgt zwischen 1 und 6 Jahren Haft. Unter den Angeklagten befinden sich drei Frauen, die auf dem Kongreß über die von ihnen erlebte sexuelle Folter berichteten und auch die Anwältin unseres Projekts, Fatma Karakas, die eine allgemeine Auswertung der Projektarbeit vortrug. In der Anlage ist die Übersetzung der Anklageschrift beigefügt, die vollen Namen der angeklagten Frauen sind uns bekannt.
Mittlerweile wurde in einem anderen Zusammenhang auch gegen die Rechtsanwältin des Projekts, Eren Keskin, ein Strafverfahren gem. Art. 159 Abs. 1 Türkisches Strafgesetzbuch eingeleitet, da sie die Presse im Oktober 2000 über die von den sogenannten "Friedensmüttern" erlebte sexuelle Folter informiert hatte.
Diese Entwicklungen machen deutlich, daß die Türkei in keinster Wiese gewillt ist, die oben erwähnten Bedingungen zur Aufnahme als Vollmitglied in die Europäische Union umzusetzen. Im Gegenteil. Statt die Mechanismen zur Strafverfolgung staatlicher Folterer zu stärken, werden von Folter Betroffene, deren Anwält/innen und Unterstützer/innen nunmehr mit Strafverfahren überzogen, um sie vom Sprechen abzubringen.
Mit großer Sorge beobachten wir, daß die von unserem Projekt betreuten Frauen für ihren Mut nunmehr auch noch bestraft werden sollen. Die Absicht des Staates ist offensichtlich: andere Frauen sollen abgeschreckt werden, von der erlittenen sexuellen Folter zu berichten und die Strafverfolgung der staatlichen Täter einzufordern

Diese Frauen bedürfen unserer vollen Solidarität und Unterstützung. Daher halten wir es für sinnvoll, mit einer Frauendelegation zum ersten Prozeßtag gegen die angeklagten 16 Frauen nach Istanbul zu fahren, um ihnen so zu zeigen, daß sie nicht allein sind.

Der erste Prozeßtag wird am 21.3.2001 vor dem Strafgericht Beyoglu/ Istanbul um 11 Uhr stattfinden.

Für Übersetzungen ist gesorgt. Es wird auch die Möglichkeit bestehen mit den Angeklagten, den Anwältinnen, dem Menschenrechtsverein IHD und eventuell der Frauenkommission der Anwaltskammer Istanbul Gespräche und Interviews zu führen. Auf Wunsch werden Termine mit verschiedenen Frauenorganisationen wie z.B. dem kurdischen Frauenverein "Frauenzentrum Dicle", der Vereinigung werktätiger Frauen "EKB" oder den Frauen der Frauenkommission der politischen Partei HADEP organisiert.
Unserer Zweigstelle ist es leider nicht möglich, Kosten zu tragen. Für diejenigen Interessierten, die von Berlin aus mitfliegen wollen, bestehen zwei Flugmöglichkeiten und zwar am 19.3.2001 mit Türkisch Airlines für ca. 490 DM,
am 20.3.2001 mit Beytas Reisen für ca. 350 DM.

Diese Flüge können von uns reserviert werden, wenn wir spätestens am 3.3.2001 verbindliche Rückmeldungen interessierter Frauen mit Namen und Daten der gewünschten Hin- und Rückreise erhalten.
Wir wären allen anderen Frauen, die einen Flug selber organisieren wollen, dankbar, uns Mitteilung über ihre Teilnahme an der Delegationsreise zu machen. Wir werden den Teilnehmerinnen sodann ein Programm mit Treffpunkten und Terminen mitteilen. Soll durch uns eine Hotelunterkunft besorgt werden, bitten wir ebenfalls um kurze Mitteilung einschließlich der Angabe einer ungefähren Preisklasse.

Dieser Aufruf ist zur Verbreitung bestimmt.

Für das Projekt: Jutta Hermanns, Juristin

Anlagen: Anklageschrift, Jahresbericht 2000
Übersetzung aus dem Türkischen:

Türkische Republik
Generalstaatsanwaltschaft Beyoglu
Az. Ermittlungsverfahrens : 2000/29797
Az. Hauptsache : 2000
Anklage : 2000



ANKLAGESCHRIFT
Schwurgericht Beyoglu

Kläger : Öffentlichkeit

Angeklagte : 1- H.Y., 2- Ö.H., 3- G.T., 4- S.A., 5- D. A., 6- T. Ç., 7- B. T. als Organisatorinnen der Veranstaltung "Nein zu sexueller Mißhandlung und Vergewaltigung".

8.- N.T., 9- F. K., 10- N. K., 11- F. K., 12- S. T., 13- S. S., 14- Z.O.,
15- T. S., 16- C. G., als Rednerinnen auf der Veranstaltung.

VERBRECHEN:
DATUM DES VERBRECHENS: 17.6.2000
Zur Anwendung gelangende PARAGRAPHEN:
Gegen:
- H.Y., Ö.H., G.T., S. A., D. A., T.Ç. und B.T.: § 159/1 Türkisches Strafgesetzbuch (in fünf Fällen)
- N.T. § 159/1
- F.K. § 159/1
- N.K. § 159/1 (in drei Fällen)
- F.K. § 159/1
- S.T. § 159/1
- Z.O. §159/1 (in zwei Fällen)
- T.S. § 159/1 (in drei Fällen)
- C.G. §159/1
- S.S. § 159/1

Mit Schreiben des Justizministeriums vom 24.10.2000 zum Aktenzeichen 29178 wurde der Strafverfolgung hinsichtlich der Vergehens der namentlich bekannten Angeklagten zugestimmt. Wesentliches Ergebnis der Ermittlungen ist:

Am 10./11. Juni 2000 wurde von den Angeklagten H.Y., ÖH., G.T., S. A., D. A. und B. T. im Muammer Karaca Theater eine Veranstaltung mit dem Thema "Nein zu sexueller Mißhandlung und Vergewaltigung" durchgeführt.

Als Rednerinnen nahmen die folgenden Personen an der Veranstaltung teil, die in ihren Redebeiträgen u.a. ausführten:

F. K.,
(... Durch den Staat werden systematisch Vergewaltigungen an kurdischen Frauen begangen. Personen, die mit dem Staat zusammen arbeiten und Staateskräfte üben systematisch sexuelle Gewalt gegen Frauen aus....)

N. K.,
(... Wir wissen, daß die Folter durch die Konterguerilla als eine Institution des Staates, angewandt wird. Und in den östlichen Provinzen werden kurdische Frauen durch Soldaten, Polizeikräfte und Spezialeinheiten sexuell mißhandelt und vergewaltigt. Nach Festnahmen wird in der Polizeihaft mit Knüppeln vergewaltigt. Bis heute werden die Täter von Vergewaltigung an kurdischen Frauen geschützt. Auf den Polizeiwachen und Polizeipräsidien werden sexuelle Folter und Vergewaltigung als eine "Arbeitsmethode" eingesetzt....)

F. K.,
(...in den Gegenden, in denen überwiegend KurdInnen leben, ist die sexuelle Mißhandlung und Vergewaltigung ein an Frauen verübte Foltermethode. In Polizeihaft kommt sexuelle Mißhandlung und Vergewaltigung insbesondere bei politischen Frauen zur Anwendung. Frauen der Guerilla werden von Soldaten vergewaltigt, nachdem sie getötet wurden...)

S. T.,
(...Ich war in der Anti-Terror-Abteilung Istanbul in Gewahrsam. Ich wurde gefoltert und vergewaltigt...)

Z. O.,
(...die Soldaten und Diensthabenden foltern Frauen systematisch, indem sie sie vergewaltigen. Diese Vergewaltigungen z.B. in Bosnien, in Tschetschenien und die Vergewaltigungen der kurdischen Frauen in den östlichen Provinzen durch Soldaten und Polizisten sind dokumentiert...)

T. S.,
(...Die Aufgabe der Polizei ist es, zu foltern. Es gibt eine Reihenfolge. Zweitens sind es die Ärzte und drittens die Justiz. Auch sie sind Folterer. Dieser Staat hat kein Mitleid...)

C. G.,
(...Der Staat hat insbesondere organisierte Menschen vergewaltigt...)

S. S.,
(...Ich war 1997 nach der Festnahme zum Polizeipräsidium in der Vatan Caddesi gebracht worden. Dort wurde ich von Polizisten vergewaltigt....)

N. T.,
(... Bei der Festnahme 1992 wurde ich in ein Hinterzimmer des Polizeireviers gebracht. Sie begannen, mich zu schlagen und mißhandelten mich mehrmals sexuell. Sie folterten mich mit Elektroschocks an Zehen und Fingern. Tagelang verabreichten sie mir Elektroschocks an den Fingern, Zehen und meinem Geschlechtsorgan. Sie vergewaltigten mich mit einem Knüppel. Manchmal zogen sie mich völlig nackt aus und schütteten kaltes Wasser über mich...)

Durch diese Ausführungen haben die Angeklagten den Staat, seine Organe und das Militär verunglimpft und verleumdet.

Es wird beantragt, die Anklage zuzulassen und das Hauptverfahren zu eröffnen. 20.11.2000

Mustafa Gülsoy
Staatsanwalt
Nr. 20815