Licht am Horizont
Annäherungen an die PKK
II. Umwälzung der kurdischen Gesellschaft
II.1. Kurzer historischer Abriß
II.2. Struktur und Hintergrund der kurdischen Gesellschaft
II.3. Zur Situation in Ost- und Südkurdistan

II.2. Struktur und Hintergrund der kurdischen Gesellschaft

Wenn man den kurdischen Befreiungskampf, seine Entstehung, sein Wachsen und die gegenwärtige Form zu erfassen sucht, so ist es eine unabdingbare Notwendigkeit, die gesellschaftlichen, sozialen, historischen und politischen Bedingungen zu betrachten, die zu seiner Herausbildung geführt haben. Dieser Kampf, dessen Dynamik immer mehr Menschen erfaßt, hat seine ganz eigene Geschichte: konkrete materielle Gegebenheiten in den 70er Jahren haben zur Herausbildung einer Gruppe geführt, die sich 1978 als Partei konstituierte. Diese hatte das Ziel, eben diese Realitäten umzuwälzen.

An dieser Stelle sollen die beiden wichtigsten Faktoren, die in den 60er und 70er Jahren die Gesellschaftsstruktur bestimmt haben, beleuchtet werden: Feudalismus und Kolonialismus in Kurdistan. Denn nur so ist es für den Außenstehenden möglich, sich der Tiefe des Umwälzungsprozesses anzunähern.

Bis in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts war die Gesellschaftsform Kurdistans in starkem Maße durch den Feudalismus geprägt. Für die Menschen hieß dies, daß sie in ein sehr geschlossenes System hineingeboren wurden und dort lebten. Es war ein bäuerliches Leben bzw. ein Nomadendasein mit fester gesellschaftlicher Hierarchie und einem klar vorgezeichneten Lebenslauf. Die Welt, das war für die Bauern, die Hirten, die Dorfbewohnerinnen die patriarchal strukturierte Familie und der eigene Klan. Das prägte ihr Bewußtsein und Denken. Die Geschlossenheit der Klanstruktur und darin die strenge, scheinbare Unanfechtbarkeit des feudalen Herren drückt ein Kurde, Esad Faraschin, so aus: „Früher gab es strenge, geschlossene Klaneinheiten und feudale Autoritäten. Ein Mitglied des Klans konnte nicht ohne weiteres aus seinen Verhältnissen heraus. Ich habe auch nie gesehen oder davon gehört, daß sich ein Klan-Mitglied gegen den Klan-Chef ausspricht oder sich gegen ihn wendet. Er konnte sich nicht über den für ihn vorgeschriebenen Bewegungsraum hinausbewegen. Diesen Bewegungsraum hatten die Klan-Chefs nach den eigenen Interessen festgesetzt."

In dieser Gesellschaft bildeten die Aghas als Großgrundbesitzer eine eigene Klasse. Ökonomisch war diese Klasse dadurch gekennzeichnet, daß sie die Verfügungsgewalt über das Produktionsmittel Boden besaß. Das Land, ja ganze Dörfer waren Eigentum eines Agha. Der Bauer mußte seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen. So hatte er beispielsweise vier Tage die Woche für den Agha zu arbeiten - natürlich ohne direkte Entlohnung - und konnte nur die restlichen drei Tage für sich und seine Familie nutzen. Die eingebrachte Ernte wurde dann zu einem vorher festgelegten Prozentsatz - 50:50 oder 75:25 für den Agha - aufgeteilt. In jüngerer Zeit wurde nicht mehr die Ernte, sondern der Verkaufserlös dementsprechend aufgeteilt. Die Vormachtstellung der Aghas fand auch ihren Niederschlag im Tragen des Risikos bei Ernteeinbußen und Mißernten: dieses Risiko lastete auf dem Rücken der Bauern.

Das Untertanenverhältnis der Landbevölkerung drückte sich zudem in deren rechtlicher Stellung aus. Sie war gegenüber dem Agha rechtlos. Willkür und Unkontrolliertheit kennzeichneten die Machtstellung des Großgrundbesitzers. Esad Faraschin: „Sie konnten sich das Recht nehmen, sich so diktatorisch, so gewalttätig, so despotisch zu bewegen wie sie wollten. Und der Dorfbewohner bzw. das Klan-Mitglied hatte kein Recht, sich wegen irgendwelcher Maßnahmen gegen ihn zu äußern. Viele Aghas verfügten über eigene Gefängnisse oder Kerker ... Kein Agha hat sich davor gescheut, einen Bauern in jeglicher Form, ob physisch oder psychisch, zu quälen, zu mißbrauchen oder zu foltern. Sogar wenn der Agha sich die Frau oder Tochter eines Dorfbewohners nehmen wollte oder es getan hatte, hatte jener kein Recht, irgendeinen Widerspruch - sei es in Worten oder in der Tat einzulegen."

Agha sein hieß Herrschaft über Land und Leute auszuüben. Die Geschlossenheit der gesellschaftlichen Einheit nahm nach oben hin ab. Sie betraf vor allem die Abhängigen, Niederen, Unterdrückten. Diese Begrenztheit bewirkte auch eine niedergehaltene Persönlichkeit. So drehte sich das Denken der Dörfler nur um die eigene Familie und den eigenen Stamm. Schicksalsergebenheit und In-den-Tag-hineinleben waren und sind Merkmale dieser Dörflermentalität. Es entstand eine Gesellschaft, die sich selbst leugnete, und innerhalb derer keine positive menschliche Entwicklung mehr möglich war.

Gewisse Modifizierungen brachte der Anstieg des Geldverkehrs und Warenaustausches. Besonders ab 1960 wurde die kapitalistische Entwicklung in Kurdistan beschleunigt. Konkret faßbar wird dies in der Einführung von Traktoren, Mähdreschern, Erntemaschinen u.a. Das hatte zur Folge, daß die Feldarbeit, die bis dahin von vielen Händen verrichtet worden war, nun von Maschinen übernommen wurde. Das führte auf den Dörfern wiederum zu einem enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die bisherige Abgeschlossenheit der Lebensräume wurde ganz allmählich durch den Bau von Straßen, die Einrichtung von Infrastruktur und die saisonale Abwanderung von Dorfbewohnern, die in den türkischen Metropolen nach Arbeit suchten, aufgebrochen.

Das Verhältnis des Staates zur Feudalstruktur hat verschiedene Nuancen. Einerseits wußte der türkische Kolonialismus - Parallelen dazu gibt es auch in den anderen Teilen Kurdistans - die Klasse der Großgrundbesitzer für seine Zwecke einzusetzen. So entstand die Klasse der Feudal-Kompradoren, den „treuen Alliierten des türkischen Kolonialismus". (1)
Auf der anderen Seite sah der kemalistische Staat in den Stammes und Klanstrukturen auch eine Gefahr. Besonders in Krisensituationen wurden Schritte zur Zerstörung dieser Strukturen eingeleitet. So z.B. die massiven Deportationen und Umsiedlungen nach der Niederschlagung des Aufstandes von Dersim 1938. (2)

Heval Haydar: „Der Aufstand in Dersim wurde blutig unterdrückt. Über 70.000 Kurden, vor allem wehrfähige Jugendliche und Männer, wurden getötet. Rund 300.000 wurden nach Westen in die Türkei in die Verbannung geschickt. Frauen, Alte und Kinder wurden deportiert und dadurch die Stammesstrukturen zerschlagen. „

Nach 1938 betrieb die damalige Inönü-Regierung in der Region Dersim (3) gegenüber den dort verbliebenen Kurden und Kurdinnen folgende Politik. Heval Haydar: „Zehn Stämme, von denen einige sehr radikal waren, wurden vom Staat gekauft. Sie spielten eine Vorreiterrolle bei der Unterdrückung und der Hetze gegen andere Stämme. Diese Politik ist eng mit dem Namen des türkischen Generals Abdullah Akdogan verbunden. Er hat die verbliebenen Stämme gegeneinander aufgehetzt. „

Die kurdische Bevölkerung ließ sich schnell zum Spielball in der Teile-und-Herrsche-Politik der Türkischen Republik machen. Widersprüche wie Stammesfehden, konfessionelle Unterschiede usw. wurden immer wieder durch die Kolonialisten geschürt. Charakteristisch ist, daß die Bevölkerung dies aufgrund ihres Niedergehalten-Seins noch nicht einmal erkannte und daß sich Wut und Gewalt, die sich in ihnen als den Ausgebeuteten und Unterdrückten aufstauten, nicht nach oben, gegen die Unterdrücker richteten, sondern gegeneinander. Wegen Kleinigkeiten und aus nichtigen Gründen - z.B. wegen einiger Hühner- bekämpften sich Familien, Dörfer, Stämme. Die Geschichte Kurdistans ist voll solcher Beispiele.

Dersim ist ein anschauliches Beispiel für die Politik des türkisch kolonialistischen Staates in Kurdistan. Der türkische Kolonialismus richtete in Kurdistan ein System alltäglicher Unterdrückung ein, das alle Lebensbereiche durchdringen und den Menschen ihre Identität nehmen sollte. Heval Haydar: „ Nach dem Aufstand von 1938 hat man überall in Kurdistan Militärposten errichtet. In der Region Dersim entstanden überall, in den Kreisstädten, Städten und kleineren Ortschaften militärische Garnisonen. Viele dieser Kasernen wurden nach 14 Jahren allmählich in Schulen umgewandelt Diese »Schulen" waren weiterhin eingezäunt und mit Stacheldraht umgeben. Hier wurden die Kinder die Kapazität einer solchen Schulkaserne konnte bis zu 5.000 Schüler umfassen - nach kemalistischer Ideologie erzogen und geformt. Die Schüler dieser Kasernenschulen durften nur einmal im Jahr, manchmal sogar nur alle zwei oder drei Jahre, zu ihrer Familie. „

Von staatlicher Seite wurde eine umfangreiche Assimilierungspolitik in Gang gesetzt(4), die als „weiße Massaker" oder „weiße Vernichtung" bekannt wurde. „ Dersim muß total türkisiert werden" war ein Nahziel der Kemalisten. Die Bevölkerung, eingeschüchtert und verängstigt durch Massaker und Repression, wurde dazu gebracht, „sich ihrem Henker zu unterwerfen und ihre Kinder nach den Namen ihrer Henker zu benennen. So wurden nach kurzer Zeit neugeborene Kinder sehr häufig „Mustafa„, „Kemal„ usw. genannt „ (Heval Sedat).

Ein Ziel der Assimilierung war die Entfremdung von der eigenen Identität und Realität, um sie zu einem Teil der türkischen Nation zu formen. Zu Beginn der 70er Jahre hatten die Kolonialisten vieles erreicht: der Identitätsverlust der kurdischen Menschen und die Ausradierung kurdischer Realität aus der Geschichte waren weit fortgeschritten.

Heval Haydar: »Wir wollten unbedingt die „besten" Türken sein. Kurde zu sein, daß hieß rückständig, ja minderwertig zu sein. Es wurde zu einer Schande. Sie erreichten so, daß eine regelrechte Flucht vor der eigenen kurdischen Identität und eine Hinwendung zum Türkentum einsetzte. Die heranwachsende Jugend hatte sich jede Mühe gemacht, um türkischer Beamter zu werden und als Türke zu gelten. Jugendliche sind auf der Straße nicht zusammen mit ihren Müttern gelaufen. Entweder ist die Mutter einige Schritte voraus oder hinterhergelaufen. Dies geschah aus Scham. Auch die Sprache wurde als rückständig und wild angesehen und kaum gesprochen. In vielen Familien war es so: die Eltern sprachen nur Kurdisch; die Kinder lernten mit der Zeit in der Schule Türkisch. Es wurde immer mehr Türkisch gesprochen. Die Eltern starben und damit wurde die kurdische Sprache auch nicht mehr gesprochen. Dies ist nur ein konkretes Beispiel, wie alles Kurdische, angefangen von der Ablehnung und Verleugnung der eigenen Realität, der Sprache in einer Familie verlorengeht. Dies war die vorherrschende Realität."

Der koloniale Status drückt sich zum einen in der militärischen Besetzung des Landes aus. Dabei ist ein wichtiger Faktor die Struktur der türkischen Armee. Yasar Kaya: „Seit die Türkische Republik gegründet wurde, hat sie ihre Armee außer bei der Invasion auf Zypern, 1974, nur gegen die Kurden eingesetzt. Die Spezialarmee, der Generalstab, alle Armeeinstitutionen sind gegen das kurdische Volk gerichtet. Ferner die Militärgerichte und Assimilierungsinstitutionen, die mittlerweile in Institutionen der Gouverneure für die Ausnahmezustandsgebiete umgewandelt wurden. Und überall gab es früher Militär- und Gendarmerieposten. Dadurch schufen sie eine totale Herrschaft.. „

Der kemalistische türkische Staat war mit seinem Repressionsapparat in ganz Nordwest-Kurdistan präsent. Ökonomisch waren die Grundlagen der türkischen Herrschaft anfangs allerdings sehr schwach. Sie standen in direktem Zusammenhang mit dem Stand der wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei. Bis zur Mitte des Jahrhunderts wurde in Kurdistan die feudale Wirtschaftsform unverändert wie schon seit Jahrhunderten betrieben. Nach 1950 öffnete sich die Türkei stärker dem von den USA dominierten Weltmarkt, parallel zur Einbindung in den westlichen Block (NATO). Der türkische Kapitalismus begann sich unter neo-kolonialen Bedingungen - in Abhängigkeit von den USA - zu entwickeln. „Der zunehmende Bedarf der internationalen Monopole und der türkischen Bourgeoisie an Märkten, Rohstoffen, billiger Arbeitskraft, Agrar- und Tierprodukten machte die Entfaltung eines so reichen und großen Landes wie Kurdistan im Dienste ihres Kapitals notwendig." (5) Nach dem Putsch von 1960 beschleunigte sich die Entfaltung des Fremdkapitals in Kurdistan. Mehr und mehr kurdische Feudalherren nahmen dabei eine wichtige Funktion ein, indem Investitionen über sie getätigt wurden.

Türkischer Kolonialismus in Nordwest-Kurdistan hieß: Ausplünderung der natürlichen Reichtümer und Bodenschätze, Abfluß der Gewinne nach Westen in die Türkei. Nennenswerte Investitionen wurden nicht getätigt. Der nur geringe Ausbau der Infrastruktur diente der Verbesserung der Ausplünderung bzw. hatte militärische Gründe.

Ein von den westlichen Mächten ökonomisch abhängiger Staat, wie die Türkei es ist, installierte seinerseits ein koloniales Ausplünderungssystem auf einem Teil seines Territoriums; mittels staatlicher Unternehmen, damals z.B. TPAO - Aktiengesellschaft des Türkischen Ölvorkommens, TMO - Amt für Agrarprodukte oder TEK - Türkische Elektrizitätswerke, wurde das koloniale Wirtschaftssystem gesteuert. Die kurdische Bevölkerung hatte nicht den geringsten Anteil.

Auf ökonomischem Gebiet liegen die kolonialen Merkmale offen dar. Der wichtige Unterschied zwischen dem türkisch-kemalistischen Kolonialismus in Kurdistan und dem klassischen Kolonialismus liegt auf soziokultureller Ebene. Denn den ausgebeuteten Völkern der klassischen Kolonialmächte wurde nicht auch noch ihre Sprache und Kultur verboten. Dies geschah allerdings in der Türkei. Die herrschende Staatsideologie, der Kemalismus, hatte als Ziel den 'Einheitsstaat und die Einheitssprache'. Das impliziert die Vernichtung einer Sprache, einer Kultur, ja einer ganzen Bevölkerung. Dies wurde dann als 'Zivilisationsbewegung der Republik gegen die wilden Kurden' propagiert.

Als es nach dem Tode Atatürks zur Entwicklung eines Mehrparteiensystems kam, hat sich für die Kurden wenig geändert. Es gab für sie keine Möglichkeit, sich auf legal-demokratischer Plattform auszudrücken. Auf dieser politischen Ebene hatten die kolonialistischen Parteien wiederum die absolute Herrschaft inne. Die legalen kurdischen Vereine wurden nach den Militärputschen geschlossen und so 'aus der Welt geschafft'. Alle Mitglieder dieser Vereine, auch Besucher, wurden von den Gerichten verschärft verurteilt. Ein Ergebnis dieser Verleugnungs-und Unterdrückungspolitik waren dann die illegalen Parteigründungen.

Die bisherige Darstellung das feudal-kolonialistischen Komplexes bezog sich räumlich auf Nordwest-Kurdistan und umfaßte die Zeit bis in die 70er Jahre. Die Dynamik des Befreiungskampfes hat längst auch die anderen Teile Kurdistans ergriffen.

Die sozio-politische Struktur hat sich nach der Teilung von 1923 in den einzelnen Teilen unterschiedlich entwickelt. Im Laufe dieser historischen Entwicklung haben sich Merkmale und Eigenheiten herausgeprägt. Die Trennung der einzelnen Teile ist indes nicht total. So wurden und werden z.B. verwandtschaftliche Beziehungen über die von den Kolonialisten gezogenen Grenzen hinweg gepflegt.
 
 


(1) Arbeiterpartei Kurdistans PKK, Der Weg der Revolution Kurdistans (Manifest), Köln 1986, 77.
(2) Jürgen Roth u.a., Geographie der Unterdrückten. Die Kurden. Bilder und Texte, Über Geschichte, Kultur, Lebensverhältnisse und Freiheitskämpfe einer Minderheit, Reinbek 1978.
(3) Dersim wurde 1938 nach der Niederschlagung des Aufstandes vom Staat in türkisch 'Tunceli', zu deutsch 'Eiserne Faust', umbenannt.
(4) Es erschienen dazu Bücher, z.B.: Ismet Pascha, Wie können wir die Kurden assimilieren?
(5) Arbeiterpartei Kurdistans PKK, ebd., 66.