Licht am
Horizont
Annäherungen an die PKK |
II.
Umwälzung der kurdischen Gesellschaft
II.1. Kurzer historischer Abriß II.2. Struktur und Hintergrund der kurdischen Gesellschaft II.3. Zur Situation in Ost- und Südkurdistan II.4. Emanzipationsprozesse der kurdischen Gesellschaft. |
II.4. Emanzipationsprozesse der kurdischen Gesellschaft
Die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, die sich seit dem Entstehen des Befreiungskampfes vollzogen haben und die sich derzeit vollziehen, sind auf den vorherigen Seiten im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kämpfern und Kämpferinnen der ARGK angeklungen. Sie in ihrer vollen Komplexität, und dabei eingebettet in den historischen Rahmen, genau betrachten zu wollen, würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Wir müssen uns also auf ausgewählte Bereiche beschränken, ohne das Ganze aus den Augen zu verlieren.
Eine der Kernfragen ist: in welche Richtung vollzieht sich dieser Wandel? Durch die weitere Öffnung und Einbindung der neokolonialen Länder - wie z.B die Türkei - in den von den westlichen Industrienationen dominierten Weltmarkt wurde in diesen ein Modernisierungsprozeß in Gang gesetzt. Es stellt sich die Frage, welche Richtung dieser Prozeß einschlägt. Ist es eine Modernisierung, die eine Phase der intensivierten kapitalistischen Ausbeutung einleitet oder gelingt die Abschaffung kolonialen, geknechteten Lebens?
Esad Faraschin: „Mit der Entstehung der PKK sehen wir die Ablehnung der Verleugnungsrealität erschaffen. Je mehr sich die Bewegung, vor allem die Guerilla entwickelt, desto mehr können wir sehen, wie dieser Todeszustand umgewälzt wird ... Man sieht das Greifen einer Bevölkerung nach Wiederbelebung. Wir sehen auch, daß diese Bevölkerung anfängt sich selbst kennenzulernen und beginnt, um die eigene Identität zu kämpfen, ohne sich davor zu scheuen, große Opfer für diesen Kampf zu bringen. „
Der PKK als einer Partei der Praxis gelang es kurz nach ihrer Gründung 1978, Teile der kurdischen Bevölkerung in Bewegung zu setzen. Die kurdische Realität - Verbot der kurdischen Sprache und Kultur, Leugnung der Existenz des kurdischen Volkes - offiziell waren es 'Bergtürken'-, militärische Besetzung des Landes, mittelalterlicher Feudalismus und koloniale Ausbeutung - sollte durch den zu entwickelnden Widerstand des Volkes verändert werden. Als erstes gelang es, die negative Besetzung des Begriffes 'Kurde' umzukehren in eine Bezeichnung, die man erhobenen Hauptes aussprechen konnte. Esad Faraschin: „Ab den 80er Jahren, vor allem nach den 90ern, ist der Punkt erreicht, daß niemand sich seiner kurdischen Identität wegen schämt. Sogar das Gegenteil wurde erreicht. „
Damit war eine Dynamik in Gang gesetzt, die nicht nur einige Regionen Nordwest-Kurdistans erfaßte, sondern auch auf andere Teile der Türkei übergriff. Die Selbstkolonisierung, die besonders unter den Kurden und Kurdinnen in den Metropolen weit fortgeschritten und tief verinnerlicht war, wurde wahrgenommen und in Frage gestellt. Esad Faraschin: „Auch die in den türkischen Metropolen lebenden Kurden spürten das Bedürfnis, wieder zu ihrem Ursprung zurückzugehen, d.h. daß sie wieder die eigene Identität aufgriffen ... Mit der Zeit fingen andere Völker, andere Minderheiten in der Türkei an, Interesse für den kurdischen Kampf aufzubringen. „
Wie wurde die koloniale Stille durchbrochen? Wie sehen die ersten Veränderungsschritte aus?
»Als erstes hat sich die Guerilla selbst verändert. Sie hat sich von Angst, Panik und Verschüchterung freigemacht und in ihrem Kampf als entschlossenes, beharrliches und bewußtes Element eine militante Stufe erreicht ... Zweitens haben die Guerillaaktivitäten das Volk in ihrer Umgebung verändert. Das in Angst, Panik und Einschüchterung gefangene Volk, die unterdrückten Menschen haben begonnen, sich in ein Volk zu verwandeln, das auf sich selbst vertraut, sich erhebt und sein Recht sucht . . Jetzt hat das Volk in manchen Gebieten Kurdistans begonnen, Gleichheit und Demokratie zu fordern. „ (9)
Die Überwindung der Angst ist einer der zentralen Faktoren für
die Entwicklung des Befreiungskampfes. Wichtige Punkte sind ferner das
Entstehen von Vertrauen zwischen den Menschen und das Lernen, auf die eigene
Kraft zu vertrauen. Heval Firat: „Früher brauchte nur ein einziger
Jandarma-Soldat in ein Dorf zu gehen und alle hatten Angst, was er jetzt
machen würde. Keiner wagte etwas zu äußern. Er konnte mit
der Dorfbevölkerung alles anstellen. Mit der Zeit, durch unsere Aktionen,
sahen sie, daß auch wir, die Guerilla, in der Lage sind, Aktionen
gegen Soldaten zu machen. Deswegen haben sie ihren Glauben verändert.
Sie haben ihre Angst verloren. „
Die Parteikader und die Guerilla vermitteln dem Volk Werte. Einer der
wichtigsten ist, daß der Mensch an sich einen hohen Wert darstellt,
daß er zu achten ist - unabhängig von seiner Herkunft. Das alleine
stellt schon einen Schlag gegen das kemalistische Regime dar. Denn dieses
baut auf der Erniedrigung und Mißachtung der Menschen auf. Angst
wird bewußt erzeugt. Die Angst in den Menschen dient dazu, die koloniale
Herrschaft aufrecht zu erhalten und dem Individuum die gegenwärtigen
Verhältnisse als unveränderbar erscheinen zu lassen. Die Methoden
zur Erzeugung von Angst sind Festnahmen, Folter, Überfälle, Todesschwadronen.
Zwischen der Guerilla und dem Volk entsteht eine tiefe Wechselbeziehung. Die Guerilla, ausgebildet und geformt nach den Werten und Prinzipien der Partei, hat die Rolle, Kern und Beispiel zu sein für einen neuen Umgang der Menschen miteinander und für den Aufbau demokratischer Strukturen wie z.B. Selbstverwaltungskomitees auf Dörfern. Diese Arbeit im Volk wird mitgetragen und organisiert von Parteikadern bzw. Komitees der Front (ERNK). Heval Haydar: „Es gibt in jedem Dorf Komitees. Wir kontaktieren diese immer wieder und geben ihnen Material für Schulungen. Oder wir besuchen die Dörfer und führen Versammlungen, Schulungen usw. durch. Die Partei hat der Bevölkerung ein neues Leben gebracht. Und die Menschen haben dieses neue Leben beobachtet und sie sahen die Normen und Grundprinzipien dieses Lebens. Das haben sie für gut befunden. Zum Beispiel wollten sie nicht akzeptieren, daß eine Frau eine Guerilla wird. Mit der Zeit sahen sie, wie ihre moralischen Werte respektiert wurden. Dann haben sie sich mit uns solidarisiert und uns unterstützt. Sie haben vor allem die Moral der PKK gesehen. Das hat großen Eindruck auf sie gemacht. „
Die traditionellen Rollen und Lebensweisen werden durchbrochen. Und das Volk, vielfach verfangen in alten Anschauungen, Gedanken und Vorstellungen, beginnt, diese in Frage zu stellen, sich für Neues zu öffnen. Männer und Frauen wagen den Schritt und lösen sich aus den strengen Klan- und Familienverhältnissen und schließen sich der Befreiungsbewegung an. Anstelle der Einheit des Klans hat die PKK die nationale Einheit geschaffen. Konkret heißt das, daß sie nicht zugelassen hat, daß die Bevölkerung innerhalb der Klan-Einheiten weiter unterdrückt wird. So waren 1979 die ersten Aktionen der Partei Angriffe auf berüchtigte Feudalherren wie z.B. Celal Bucak. Deutlich hat sie ins Bewußtsein gerufen, daß es ein Volk gibt, daß es ein Land gibt und daß die Menschen sich um diese Punkte sammeln müssen. Die Bevölkerung hat dieses Bewußtsein aufgenommen und in der Realität die nationale Einheit geschaffen.
Die Überwindung feudaler Strukturen ist ein wichtiger Moment des Emanzipationsprozesses. Esad Faraschin: „Der Kampf in der Guerilla richtet sich gegen die feudal-kompradorischen Autoritäten und den Feind. Wenn es sein muß, wird dieser Kampf sogar gegen den eigenen Klan und die eigene Familie konsequent geführt. Es gibt sehr viele Beispiele von Militanten, die direkt gegen Familienmitglieder, die mit dem Feind gearbeitet hatten, vorgingen und diese selbst töteten. Das zeigt uns, daß das revolutionäre Bewußtsein so sehr gewachsen ist, daß selbst im Falle von Verrat aus der eigenen Familie es kein Zurückschrecken davor gibt, die eigenen Verwandten zu bestrafen."
Hierin drückt sich eine klare Nicht-Anerkennung der feudalen Autoritäten und der alten, traditionellen Unterdrückungsrollen aus. Es ist nicht nur ein Loslösen von den alten feudalen Klan-Verbindungen, sondern auch von der Familie. Diese hat bis jetzt in Kurdistan einen Hindernisfaktor für neue gesellschaftliche Entwicklungen dargestellt.
Dadurch, daß der Kampf wuchs und sich entwickelte, wurden die Fronten immer klarer. Der Großteil der Bevölkerung hat sich auf die Seite der Befreiungsbewegung gestellt, während sich ein anderer Teil der Kollaboration mit den türkischen Kolonialisten zugewandt hat. Neben der Auflösung feudaler Stammesstrukturen durch die Entwicklung des Kampfes hat sich ferner die alte traditionelle Gesellschaftsformation verändert. Esad Faraschin: „Der Feind mußte feststellen, daß sich mit der Entwicklung unseres Kampfes feudale Strukturen auflösen. Er hat deswegen das Dorfschützersystem eingeführt. Diese Maßnahme war wiederum von einer beschleunigten Veränderung der Gesellschaft begleitet. Das Dorfschützersystem ist hier als eine neue Klasse, als eine Art Kasten-Organisation zu bewerten. Dies ist eines der Produkte der sozio-ökonomischen Veränderungen. Früher konnte von einer Klasse oder Kaste nicht die Rede sein. Diesen Dorfschützern werden Löhne gezahlt. Sie werden als bewaffnete Kraft gegen uns benutzt. Viele reaktionäre Kreise wurden Dorfschützer. Obwohl der Feind auch viele Menschen durch Zwang und unter Androhung von Gewalt gezwungen hat, Dorfschützer zu werden, wurde meistens durch kollaborierende Stammes- bzw. Klanführer bestimmt, daß ihre Stämme oder Klans Dorfschützerfunktion übernehmen. Wir bezeichnen diese als Kriegsgewinnler, denn es sind Aghas, die sich durch den Krieg bereichern und die vom türkischen Staat finanziert werden. Sie ziehen direkt aus dem Krieg Gewinn, durch Schmuggel, Kontrolle des Handels, Plünderungen ... durch den festen staatlichen Lohn. Dadurch besitzen sie einen sozioökonomischen Status."
Wir können beobachten, daß durch das Erstarken des Befreiungskampfes eine weitere für Kurdistan neue Klasse im Entstehen ist. Es bildet sich eine nationale Bourgeoisie. Durch den stetigen Verlust an Autorität des türkischen Regimes in Kurdistan ist der Raum für ihre Entwicklung geöffnet. Sie profitiert vom Rückzug der türkischen Bourgeoisie aus dem Land und beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Finanzabfluß aus Kurdistan.
Ein anderer Bereich, in dem sich die Veränderung des Bewußtseins
ausgedrückt hat, ist die Wahl eigener Parlamentarier in das türkische
Parlament. Heval Dilan: „ln der letzten Zeit sehen wir, daß die kurdische
Gesellschaft ihre eigenen Parlamentarier gewählt hat, was viel bedeutet (10).
Die HEP-, DEP- und ÖzDEP-Beispiele beweisen, zu welchen Ausmaßen
unsere Partei gelangt. Es stimmt, daß diese Parteien mit der PKK
nicht verglichen werden können, aber es zeigt, daß das Volk
zu den türkischen Parteien gar kein Vertrauen mehr hat. Da die PKK
diese Parteien unterstützt hat und mit ihnen solidarisch war, hat
das Volk diesen Parteien seine Stimme gegeben. „
An diesem Beispiel wird die Spannbreite der Entwicklungen deutlich.
Der Befreiungskampf entfaltet sich auf immer neuen Ebenen: sei es der Zusammenschluß
von Künstlern, Sängern und anderen Kulturschaffenden, sei es
die Organisierung der Kurden im Exil bzw. im Ausland, sei es die Entstehung
internationaler Kontakte, einer eigenen Dipiomatie, eines Exilparlamentes.
Oder sei es die Erschaffung des ersten kurdischen Fernsehsenders.
Das Zentrum der Entwicklungen bildet immer noch die Guerilla in den
Bergen Kurdistans. Die kolonialistischen Kräfte haben ihre Einheiten
aus vielen Bergregionen Kurdistans zurückgezogen. In vielen Provinzen
- wie Botan, Behdinan oder Amed - hat die Volksbefreiungsarmee Kurdistans
ARGK die militärische Autorität inne. Den türkischen Sicherheitskräften
fällt es schwer, in diese Gebiete einzudringen. Wenn, dann nur mit
sehr massiven Kräften in der Größenordnung ab 30.000 Mann
mit Panzer-, Artillerie- und Kampfflugzeugunterstützung. Und mit jeder
weiteren militärischen Operation besiegeln sie ihre Niederlage.
In den Regionen, in denen die Guerilla bereits die vollständige
militärische Kontrolle ausübt, stellen sich weitreichende Aufgaben.
Schulen, gemeindeartige Institutionen, Krankenhäuser, Gerichte sind
zum Teil schon eingerichtet oder im Entstehen. Die Bearbeitung des Bodens
wird dort kollektiv organisiert.
Hier hat das Volk zum ersten Mal in seiner Geschichte die Möglichkeit,
über seine Institutionen, ja sein Schicksal selbst zu entscheiden.
Dieser Umwandlungsprozeß, die Revolutionierung der Gesellschaft
ist in sich sehr komplex. Auf unterschiedlichen Ebenen können dabei
Schwierigkeiten auftreten. Was diesen Prozeß so interessant und bedeutsam
macht, ist gerade die in ihm ausgetragene Widersprüchlichkeit, das
Ringen des Neuen mit dem Alten und die daraus erwachsende produktive und
schöpferische Kraft. Dieser Prozeß spielt sich in jedem einzelnen
beteiligten Menschen ab und spiegelt sich in der Gemeinschaft wider.
Die neue Persönlichkeit, die neuen Strukturen entstehen in der
Auseinandersetzung mit dem Alten. Das ist die Dialektik des Kampfes. Es
ist der eigentliche revolutionäre Prozeß. Es ist die eigentliche
Aneignung menschenwürdigen Lebens.
Wichtig für diesen Prozeß der Aneignung menschenwürdigen
Lebens ist dessen stetige Entwicklung. Wo er zum Stillstand kommt, droht
Rückschritt, ein Rückfall ins Alte, es wäre die Niederlage
der hierin handelnden Menschen.