Der Generalstab "empfiehlt" der Regierung demokratische Reformen

"Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht treten die türkischen Streitkräfte entschieden für Demokratisierung, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ein und wünschen Fortschritte auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft in der EU", erklärte ein Vertreter des Generalstabes Anfang Mai 2000 einer überraschten Runde von hohen Regierungsvertretern. "Ich spreche damit für die Befehlshaber." Die bis in die Formulierungsvorschläge für die Verfassungsänderungen bereits ausgearbeiteten "Empfehlungen" sehen u.a. vor:
· die Abschaffung der Todesstrafe und Unterzeichnung des entsprechenden Europaratsprotokolls;
· die Aufhebung der Verfassungsbestimmung, die bisher alle Dekrete und Gesetze der Militärregierung von 1980 der gerichtlichen Kontrolle entzieht;
· die Reform des Nationalen Sicherheitsrats (Milli Güvenlik Kurulu; MGK), also des monatlich tagenden Gremiums, über das die Militärs unmittelbar Einfluss auf die Staatsgeschäfte ausüben und das daher als großer Stolperstein auf dem Weg nach Europa gilt. Der MGK berät über alle aktuellen innen- und außenpolitischen Fragen und "teilt dem Kabinett seine Ansichten zur Beschlussfassung mit", wie es in der Verfassung heißt. Ihm gehören bisher Generalstabschef Kivrikoglu und die Oberkommandierenden der vier Teilstreitkräfte auf der militärischen Seite und der Ministerpräsident sowie die Minister für Äußeres, Inneres und Verteidigung auf der zivilen Seite an; den Vorsitz führt der Staatspräsident und die Geschäftsführung liegt in den Händen eines Generals. Nach den Vorschlägen des Generalstabes soll der Sicherheitsrat in der Verfassung zu einem "beratenden Organ" herabgestuft werden, das dem Kabinett lediglich "Empfehlungen" gibt und die Zahl der Zivilisten darin aufgestockt werden;
· die Änderung der Verfassung bis Ende 2001 und Abschaffung der Einschränkungen von Grundrechten. Bis 2004 soll das Justiz-, Bildungs- und Arbeitswesen demokratisch gestaltet werden.
Die "Empfehlungen" des Generalstabs wurde von der Regierung als "Befehl" verstanden und diesbezügliche Schritte bereits eingeleitet. Und von der Vertreterin der EU in Ankara, Karen Fogg, wurden die Vorschläge des Generalstabes begrüßt und als "ausgesprochen positiv" bezeichnet.
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*14 M, 9.5.; ÖP, FR, Freie Presse, 10.5.; H, Die Welt, SZ, Tagesspiegel, 11.5.; Berliner Zeitung, 15.5.00; NN 2/00

Fazit: Beginn einer neuen Epoche?