|
kolinko | 11/1999
Vorschlag zu einer Untersuchung der Call Center
[english][français][español][zurück]
Liebe GenossInnen,
mit diesem Brief und Fragebogen wollen wir zu einer kollektiven Untersuchung der Ausbeutungssituation in Call Centern aufrufen und zur Wiederaufnahme einer generellen Debatte über die Ziele und Aufgaben von RevolutionärInnen beitragen. Wir wollen, dass ihr uns zum einen eure Kritik zu unseren Fragen und Thesen schickt, und zum anderen durch Infos und Kontakte aus eurer Region an der Untersuchung teilnehmt.
Im ersten Teil dieses Briefes stellen wir kurz unseren politischen Ausgangspunkt dar. Im zweiten erklären wir, warum wir in unserer Region mit einer Untersuchung der Situation in Call Centern beginnen. Im dritten Teil findet ihr unsere Ausgangsfragen und erste Thesen. Im vierten Teil stellen wir unsere Vorschläge zum weiteren Ablauf der Diskussion und zum Austausch der Erfahrungen vor. Am Ende steht der Fragebogen, mit dem ihr Call Center ArbeiterInnen interviewen sollt.
1. Vorstellung von kolinko
Wir wollen dem Kapitalismus ein Ende machen, weil er unser Leben in einen Alltag der Arbeit und des Mangels verwandelt. Weil im Kapitalismus produzierter Reichtum nur Kapital vermehrt und ansonsten Armut schafft. Weil die Entwicklung von Gesellschaftlichkeit und technischen Möglichkeiten im Kapitalismus nicht Befreiung von der Schufterei, sondern nur verschärfte Ausbeutung und Krise bedeutet.
Wenn wir zur Überwindung der gegenwärtigen Blockade im weltweiten Klassenkampf beitragen wollen, müssen wir die materielle Möglichkeit der Befreiung in der täglichen Bewegung der Ausgebeuteten innerhalb des kapitalistischen Produktionsprozesses suchen. Im Rahmen der sich weltweit ausweitenden Produktionsketten, der Migration der ArbeiterInnen und Zirkulation ihres Wissens, der neuen Arbeitsorganisation und Maschinerie entstehen Wut, Macht und Organisierung einer neuen Klassenzusammensetzung. Dort, und nicht in den Programmen der politischen Organisationen, entwickelt sich der Kommunismus als Bewegung.
Wir wollen keine Call Center-ArbeiterInnen in gewerkschaftlichen Gruppen organisieren, keine neuen Vermittlungsformen schaffen. Wir sind auf der Suche nach den revolutionären Tendenzen, nach ArbeiterInnenmacht und Bedürfnis nach Kommunismus. Wir wollen die Kräfte der Selbstorganisierung und Selbstbefreiung stärken. Deswegen bewegen wir uns kollektiv innerhalb der Ausbeutung - einige von uns arbeiten momentan im Call Center - und schlagen diese Untersuchung vor.
2. Warum Untersuchung in Call Centern?
Unternehmer, Politiker und Gewerkschaftsfunktionäre sind sich einig, dass Dienstleistungsboom und neue Informationstechnologien den Kapitalismus aus seiner Krise führen können. Ein zentraler Bereich ist dabei die Ausdehnung der elektronischen Informationsverarbeitung über Telefon- und Datennetze.
Am Beispiel von Call Centern diskutieren sie die Perspektive der Arbeit. Das kapitalistische Management verkündet, dass die Arbeit in Call Centern aufgrund ihrer Flexibilität als generelles Beispiel für "moderne Arbeit" gelten soll. VertreterInnen des Staats betonen, dass Call Center Arbeitsplätze für Leute schaffen, die ansonsten wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Von der bürgerlichen Soziologie werden Call Center als Paradebeispiel für neue Arbeitsformen in der "Dienstleistungs- oder Informationsgesellschaft" gehandelt.
Gewerkschaften kritisieren Call Center als unproduktive Subventionsschlucker oder Vorreiter für prekäre Arbeitsverhältnisse ohne tarifliche Regelungen. Sie versuchen durch verstärkte Organisationsanstrengungen einen Fuß in diesen Bereich zu kriegen, auch um ihre Krise als Vertretungsinstanz der ArbeiterInnen in anderen Bereichen auszugleichen und "tarifliche Errungenschaften" hier einzuführen bzw. zu verteidigen.
Je nach Interessenlage wird ein anderer Mythos produziert, um die eigenen Hoffnungen auf Veränderungen innerhalb der kapitalistischen Grenzen zu begründen.
Wir müssen die kapitalistischen Mythen zerschlagen und die dahinterstehenden wirklichen Tendenzen der Ausbeutung untersuchen. Anhand der Entwicklung der Informationstechnologie müssen wir klarmachen, dass das Kapital (als Klasse) an sich keine innovative Macht besitzt. Es kann uns nur solange als Macht gegenübertreten, wie wir nicht erkennen, dass wir selbst durch unsere gesteigerte gesellschaftliche Kooperation die Produktivkraft entwickeln (und nicht das Kapital). Zudem müssen wir deutlich machen, dass die gesteigerte Produktivität kein Ausweg aus der kapitalistischen Krise ist, sondern sie immer wieder neu schafft und verschärft. Kapital (als Wertmasse) kann sich letztendlich nur durch die Verwertung lebendiger Arbeit vermehren. Die "Errungenschaften" der Informationstechnologie, die Steigerung der Produktivität und damit Verminderung des Aufwands lebendiger Arbeit, drücken sich deswegen für uns in der Zunahme (!) beschissener Maloche in Call Centern oder in der Platinen-Montage aus.
Wir beginnen die Untersuchung der Call Center, weil sie neue ArbeiterInnenkonzentrationen unter veränderter Arbeitsorganisation und daher möglicher Zentralisationspunkt von Kämpfen einer neuen ArbeiterInnenfigur sind. Gerade in unserer Region saugt das Kapital in keinem anderen Bereich mehr junge Arbeitskraft ein. Wir wissen, dass auch in andern Regionen Europas viele Call Center aufgebaut werden, dass ArbeiterInnen von Dublin bis Lissabon dort ähnliche Arbeitserfahrungen machen werden. Darin sehen wir eine Chance, diese Entwicklung europa- bzw. weltweit zu untersuchen. Dies kann auch ein erster Schritt sein, um die gesamte Neuzusammensetzung der Klasse zu verstehen.
Wir wollen gemeinsam die Frage angehen, ob hinter der Herausbildung einer neuen ArbeiterInnenfigur eine umfassendere Tendenz kapitalistischer Entwicklung und Möglichkeiten des Kommunismus liegen.
3. Thesen und Fragen der Untersuchung
Revolutionäre Untersuchung muss auf mehreren Ebenen angreifen und dabei von einer Analyse der Bewegungsgesetze und Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung ausgehen. Wir brauchen einen scharfen Blick, wenn wir uns durch den Dschungel des konkreten Materials, die Statistiken und Propaganda des Call Center-Managements schlagen und selbst die Erfahrungen als lebendige Anrufbeantworter in den Call Centern machen. Unsere Interviews und Diskussionen mit anderen Callboys- und girls werden auf diesem Hintergrund der Frage nach der Herausbildung einer ArbeiterInnensubjektivität nachgehen. Dies ist ein Prozess, in dem wir die Zielrichtung einer revolutionären Intervention ermitteln werden.
Im Folgenden ein erstes Raster von Fragen und Thesen, an dem wir die weitere Untersuchung orientieren und die euch als Anregung zu eigenen Beiträgen dienen soll:
a) Akkumulationszyklus
Welche Bedeutung haben Call Center im gesamten gesellschaftlichen Akkumulationszyklus des Kapitals? Die Stellung und Funktion innerhalb des Akkumulationsprozess ist entscheidend für eine qualitative Unterscheidung der verschiedenen Call Center.
Die meisten Call Center erfüllen eine Funktion innerhalb der Zirkulation des Kapitals. Falls Call Center zu einer Beschleunigung der Umschlagszeit des Geld- und Warenkapitals beitragen, können sie dem tendenziellen Fall der Profitraten entgegenwirken?
Andere Call Center sind als Schnittstelle der Material- und Transportorganisation direkter Bestandteil des unmittelbaren Produktionsprozesses. Welche Auswirkungen hat die Auslagerung dieser Koordinationstätigkeiten aus dem alten Planungsapparat des Kapitals auf den gesamten Produktionsprozess, die Zusammensetzung und die Bedingungen der ArbeiterInnen?
Gegen den Mythos des krisenfreien "Informationskapitals" müssen wir die Frage stellen, ob Call Center nicht ein besonderer Ausdruck der Krise des Kapitals sind, das aufgrund gestiegener Produktivität und organischer Zusammensetzung innerhalb der Fabriken auf "unproduktive" Bereiche niedrigerer organischer Zusammensetzung ausweichen muss?
Daran schließt sich die Frage an, ob viele Call Center nur staatlich subventionierte Job- und Neuzusammensetzungsmaschinen innerhalb de-industrialisierter Regionen oder bloße Aushängeschilder der Service-Bereitschaft von Großunternehmen sind? Bleiben sie dabei ohne eigene "Profitabilität" und historische Bedeutung für die Reproduktion des Kapitals?
für die Diskussion mit anderen ArbeiterInnen ist die Einordnung der Call Center innerhalb der kapitalistischen Entwicklung wichtig, um klar zu machen, dass ihre Entstehung kein Resultat eines "natürlichen" Prozesses, sondern eines besonderen ausbeuterischen und widersprüchlichen Produktionsverhältnisses ist. Die Bedeutung, die ein Call Center für den Akkumulationsprozess hat, bildet eine wichtige Koordinate bei der möglichen Herausbildung von ArbeiterInnenmacht!
b) Region
1. Es ist offensichtlich, dass das Kapital Call Center regional konzentriert. Welche Strategien des Kapitals und des Staats stecken dahinter? Call Center wirken als Rotationsmaschine, durch die eine Masse von SchülerInnen, StudentInnen, "Hausfrauen", "Arbeitslose", JungarbeiterInnen und "prekarisierte" Angestellte geschickt werden. Wie wirkt sich diese Mobilisierung auf den Arbeitsmarkt einer Region aus?
2. Welche materiellen Gründe gibt es (abgesehen von staatlichen Subventionen) für die regionale Konzentration von Call Centern? Das Vorhandensein bestimmter Sektoren, die von einer flexiblen und vernetzten Kommunikationsarbeit abhängen, können ebenso Grund dafür sein, wie die Existenz eines Call Center-Proletariats, das bereits bestimmte Qualifikationen in die Ausbeutung einbringt. Welche Bedeutung hat dabei die Konzentration von Call Centern in Regionen bestimmter Länder wie Irland?
für uns ist besonders interessant, wo hier parallele Entwicklungen im Klassenkampf stattfinden und ob es eine Zirkulation von ArbeiterInnenerfahrungen gibt, die wir unterstützen können.
c) Kapitalzusammensetzung
Ist mit der Auslagerung und Re-Konzentration bestimmter "Bürotätigkeiten" in Call Center eine Verschiebung der Kapitalzusammensetzung verbunden? Hat sich das Verhältnis von konstantem Kapital (Maschinerie, Gebäude etc.) und variablen Kapital (Arbeitskraft) grundlegend verändert? In welchen Sektoren und Branchen erfüllen Call Center "rationalisierende" Funktion? Ein erste These ist, dass gerade im Banksektor das Gefasel von Service- und Kundenorientierung verdecken soll, dass Call Center-Gründungen eine Übergangsphase in einem umfassenderen Umstrukturierungs- und Neuzusammensetzungsangriff gegen die ArbeiterInnen darstellen (Rationalisierung der Kundenbetreuung, "Taylorisierung" der Büroarbeit, Angriff auf die tariflichen Garantien der Filial-ArbeiterInnen, Angriff auf ihre Qualifikation, Umstellung auf elektronischen Handel).
d) Technische Klassenzusammensetzung
Auf den ersten Blick lässt sich feststellen, dass in Call Centern eine in erster Linie junge, mobile, weibliche Arbeitskraft ausgebeutet wird, oft für eine kurze Zeit. Das Kapital hat Schwierigkeiten, die erforderliche gesellschaftliche Qualifikation (Stress- und Kommunikationsfähigkeit etc.) dieser Arbeitskraft in ein bestimmtes formales Berufsbild zu pressen.
Nach unseren bisherigen Erfahrungen hat das kapitalistische Management selbst noch wenig Vorstellungen, wie sich komplexere Abläufe im Call Center organisieren lassen. Es ist davon abhängig, dass sich die ArbeiterInnen im Arbeitsprozess selbst qualifizieren. Kann sich das Management dieses ArbeiterInnenwissen aneignen und der Arbeitskraft in einem neuen Berufsbild als eigenes Wissen gegenüberstellen? Es ist ein Trend zu erkennen, die Qualifizierung von Bank- und VerwaltungsarbeiterInnen in Call Centern weiter zu standardisieren, was durch die Verteilung von Informationen durch die technischen Mittel des Call Centers leichter möglich wird. Dadurch verkürzen sich die Anlernzeiten, was für eine beschleunigte Rotation der Arbeitskraft notwendig ist und zu einer zunehmenden "Proletarisierung" der Angestellten führt.
In der Mehrzahl der Call Center ist keine "spezielle" Qualifikation erforderlich. In der Bestellannahme arbeiten so überwiegend Frauen zu besonders miesen Löhnen. In anderen Call Centern hingegen sitzen qualifizierte, meist männliche Techniker, um z.B. Fragen nach komplexen Problemen der PC-Programmierung zu beantworten. Hier wird die geschlechtliche Arbeitsteilung jeweils aufrechterhalten, während sie aber in vielen anderen Call Centern, in denen Frauen und Männer arbeiten, aufzubrechen scheint.
Wir müssen untersuchen, ob diese unterschiedlichen Bedingungen zu einem gemeinsamen Verhalten der Ausgebeuteten führen. Wo entwickeln sich neue Möglichkeiten für kollektive Kämpfe?
e) Arbeitsorganisation
1. Konzentration
In Call Centern hat die so oft behauptete räumliche "Atomisierung" der Arbeitskraft durch die "Informationstechnologie" nicht stattgefunden. Es wurden im Gegenteil neue ArbeiterInnenkonzentrationen geschaffen. Wir müssen herauskriegen, warum das Kapital auf diese Konzentration setzt, obwohl es um die darin liegenden Gefahren weiß.
Es geht uns zum einen um die Frage, ob die Ausgaben für konstantes Kapital durch eine Konzentration der ArbeiterInnen gesenkt werden können. Wichtiger ist aber, ob das Kapital auf eine (informelle) Kooperation der ArbeiterInnen angewiesen ist, um den technischen Apparat und den Arbeitsablauf produktiver in Gang zu halten, als das mit einer räumlich isolierten Arbeitskraft möglich ist.
2. Arbeitsteilung und Kooperation
Sind Call Center-ArbeiterInnen Teil eines arbeitsteiligen Prozesses, der über das Call Center hinausgeht (also nicht nur mit "Privatkunden" telefonieren, sondern z.B. Informationen einholen und weitergeben oder den Transport von Arbeitsmaterial organisieren)?
Findet innerhalb des Call Centers eine Arbeitsteilung und Kooperation statt und wie ist diese organisiert? Hier müssen wir zwischen einer "offiziellen" Kooperation (nach Arbeitsanweisung) durch die Arbeitsorganisation und einer "informellen" (improvisierten), die durch die ArbeiterInnen selbst organisiert ist, unterscheiden.
Diese Fragen sind wichtig, weil sie wiederum auf die Abhängigkeit des Kapitals von der Arbeitskraft abzielen und damit Schlüsse auf die Macht einer möglichen Organisierung des ArbeiterInnenkampfs zulassen.
3. Maschinerie
Sind Telefon- und Computeranlagen im Call Center kapitalistische Maschinerie? Jede Call Center-ArbeiterIn kann erzählen, dass die Arbeitsmittel gleichzeitig Kontrollmittel über ihre Arbeit darstellen, dass Anrufe statistisch ausgewertet und überwacht werden. Vermitteln die technischen Mittel aber die Zusammenarbeit der ArbeiterInnen und treten sie ihnen dadurch als Macht des Kapitals gegenüber?
Wie kann ArbeiterInnenwissen durch das Kapital enteignet und in technische Weiterentwicklung der Maschinerie umgedreht werden? In vielen Call Centern ist die Arbeitskraft nur eine lebendige Schnittstelle zwischen Telefon- und Computersystem. Kann und wird sie durch eine Verbreitung von Internet und Sprachcomputer technisch ersetzt?
Als RevolutionärInnen müssen wir untersuchen, wie die ArbeiterInnen die Arbeitsmittel auch dazu benutzen, sich eine gewisse Kontrolle über die Arbeitsverausgabung zu erhalten und welche Möglichkeiten bestehen, die Produktionsmittel als Waffe und Organisierungsmittel des Kampfs anzueignen (z.B. das Intranet als "virtuelles Streikkomitee").
4. Hierarchie
Auf den ersten Blick gibt es aufgrund geringer Arbeitsteilung und Qualifikationsunterschiede nur wenige Hierarchieebenen in Call Centern. Welche Mittel hat das Kapital, eine Hierarchie als Spaltung und Aufstiegsanreiz durchzusetzen (z.B. unterschiedlich lange Betriebszugehörigkeit, unterschiedliche rechtliche Verhältnisse, unterschiedliche Arbeitszeitmodelle wie Teil- und Vollzeit und daran gebundene unterschiedliche Entlohnung).
In der Fabrik muss das kapitalistische Management die Hierarchie aus dem Arbeitsprozess erklären, aus der Notwendigkeit, ihn zu organisieren. Wie legitimiert sich die Hierarchie innerhalb der Call Center? Welche "produktiven" und welche Kontrollfunktionen übernimmt sie?
Welche Rolle spielen Betriebsräte und Gewerkschaften innerhalb des kapitalistischen Kommandos? Welche Schwierigkeiten oder Interessen haben sie, eine Arbeitskraft zu organisieren, die sich durch ihre Mobilität nicht so einfach durch gewerkschaftliche (Berufs-)Strukturen vertreten lässt? Es ist kein Wunder, dass sich gerade die gewerkschaftlichen Mobilisierungen in Call Centern einen basisnahen Anstrich geben und oft als "ArbeiterInnenorganisierung" daherkommen (müssen).
5. Arbeitszeit und Lohn
Call Center gelten auch als Experimentierfeld für Arbeitszeit- und Lohnmodelle. Mit Call Centern wird auch im "Angestellten-Bereich" Schicht- und Sonntagsarbeit weiter ausgedehnt. Die Standardisierung von Arbeitsabläufen und die damit mögliche Bewertung individueller Arbeitsleistung ebnet den Weg zur Einführung von fabrikmäßigem Akkordlohn in die Büroarbeit. Wir wissen, dass es an diesen Fragen Konflikte zwischen ArbeiterInnen und Management gibt, die wir kritisch untersuchen müssen. Zum Beispiel führten Lohnforderungen in Call Centern von Banken zur Einführung von Leistungslöhnen und regelmässigen Leistungstest. Damit wurde eine bis dahin nicht vorhandene Lohnhierarchie durchgesetzt.
f) Arbeitsweise und Produkt
Welche konkrete Arbeit verrichtet eine Call Center-ArbeiterIn? Welche Funktionen und Verantwortung muss sie zusätzlich zum "offiziellen" Arbeitsschritt übernehmen, um die Arbeit zu schaffen? Verbessert sie damit den Arbeitsablauf im Sinne des Managements? Welche Qualifikationen eignet sie sich an und wie macht sich das Kapital diese zu Nutze?
Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die "immaterielle" Arbeit und ihr "Produkt"? Wie kann sich in einem "immateriellen" Produkt Wert vergegenständlichen, wie kann es lebendige Arbeit einsaugen und dadurch Kapital vermehren? In der Fabrik vergegenständlicht sich im Produkt die Arbeit von Tausenden von ArbeiterInnen. Es wird von diesen auch als Resultat ihrer Kooperation wahrgenommen. Wie sieht dieses Verhältnis aus, wenn das "Produkt" eine Information bzw. ein zufriedener Kunde ist?
Die Frage nach der Arbeitsweise führt zur materiellen Grundlage der ArbeiterInnensubjektivität, der Frage des Verhältnisses zur Arbeit, zum produktiven Zusammenhang, zur Gesellschaft.
g) ArbeiterInnensubjektivität
1. Konkrete Tätigkeit
Welches Verhältnis haben die ArbeiterInnen zu ihrer eigenen Tätigkeit? Das kapitalistische Management behauptet auf der einen Seite, gute Qualität zu wollen ("Arbeitsprozess"), auf der anderen Seite ist es vor allem an Quantität interessiert ("Verwertungsprozess"). Wie gehen die ArbeiterInnen mit diesem Widerspruch um? Wollen sie "gute Arbeit für ein gutes Produkt leisten"? Wie reagieren sie auf die Intensivierung der Arbeit?
Was macht ihnen Spaß an der Arbeit? Wie gehen sie mit dem Stress um? Welches Verhältnis haben sie zur Hierarchie? Welche Mittel und Wege entwickeln sie, um der Arbeit zu entgehen? Welches Verhältnis zum Job/Beruf haben sie? Wo entspringt die Mobilität auch ihrem eigenen Bedürfnis?
2. Zusammenhang der ArbeiterInnen
Wie stehen die ArbeiterInnen zu ihrem eigenen Zusammenhang? Das Kapital bringt vereinzelte Arbeitskräfte unterschiedlicher Herkunft zusammen und muss diese zur Kooperation bringen. Welches Verhältnis entsteht zwischen diesen ArbeiterInnen, wenn sie zusammenarbeiten müssen? Welche Trennungslinien und Gemeinsamkeiten entwickeln sich? Wie sorgen sie zusammen dafür, dass die täglichen Probleme der Arbeitsteilung gelöst werden? Wo sehen sie darin auch die Möglichkeit, die Zusammenarbeit als Grundlage der eigenen Macht gegen das Kapital zu wenden?
3. Gesellschaft
Wie sehen die Call Center-ArbeiterInnen ihre Arbeit in Bezug auf die gesellschaftliche Reproduktion? Welchen Sinn sehen sie in ihrer Arbeit und ihrem Produkt in Bezug auf die Reproduktion und Bedürfnisse der Gesellschaft? Welches Verhältnis entwickeln sie zur "Dienstleistungsideologie"? Wie nehmen sie sich selbst innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung wahr und wie schätzen sie diese ein?
In diesem Verhältnis von Wahrnehmung der eigenen Tätigkeit als kombinierte ArbeiterInnen einerseits und Bezug zur gesellschaftlichen Arbeit und Entwicklung andererseits wird erkennbar, wie sich das "Bedürfnis nach Kommunismus" heute praktisch ausdrückt.
4. ArbeiterInnendiskussion und Organisierung
In den konkreten Erfahrungen der Ausbeutung müssen wir mitkriegen, welche Diskussionen, Konflikte und Organisierungsansätze es bereits gibt und diese zusammen mit den ArbeiterInnen kritisieren und weiterentwickeln.
h) Streiks und Kämpfe
Welche Kampferfahrungen haben ArbeiterInnen in Call Centern bereits gemacht? Welche revolutionären Tendenzen lagen in den Konflikten? Welche Formen von Organisierung sind entstanden? Wir werden dies u.a. anhand des Konflikts bei der Citibank im Ruhrgebiet untersuchen, bei dem die ArbeiterInnen Ende 1998 gegen die Neugründung eines zentralen Call Centers und damit verbundene Lohnsenkungen und andere Verschlechterungen streikten.
i) ArbeiterInnenmacht und Kommunismus
Anhand von Call Centern wollen wir untersuchen, welche Grundlagen von ArbeiterInnenmacht und revolutionärer Selbstorganisierung existieren. In der Diskussion mit ArbeiterInnen müssen wir ermitteln, welche wirklichen kommunistischen Tendenzen hinter dem ekelhaften Gefasel von "Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft" ablaufen bzw. versteckt werden. Wie nehmen die ArbeiterInnen die zunehmende Ausweitung von kapitalistisch organisierter Arbeit in alle Lebensbereiche wahr, die zunehmende Proletarisierung und Abhängigkeit von gesellschaftlicher Arbeit, die uns als "Dienstleistungsgesellschaft" erscheint? Haben sie Vorstellungen von einer anderen Art von Vergesellschaftung, die uns nicht zu neuen "DienerInnen" macht? Wie schätzen sie die Entwicklung der Informationstechnologie ein, die die Kooperation der ArbeiterInnen auf neuer Ebene möglich macht? Was bedeutet es, wenn Informationen in alle Teile der Erde getragen werden können? Wenn durch die Entwicklung der Produktivkräfte der Beitrag der individuellen Arbeitskraft bei der Schaffung eines Produktes immer weniger mess- und greifbar wird und damit die Grundlage des Kapitalismus tendenziell aufgehoben wird? Sehen sie darüberhinaus Chancen, die "Informationstechnologien" im Klassenkampf gegen ihre kapitalistische Anwendung zu benutzen und dabei die Trennung der ProduzentInnen vom Produktionswissen als Basis der Arbeit(steilung) zu überwinden?
4. Weitere Schritte und Aufruf
Wir werden die oben aufgezählten Schritte der Untersuchung (politische Diskussion, Auswertung des konkreten Materials, Interviews mit anderen ArbeiterInnen etc.) in der nächsten Zeit kollektiv organisieren und dabei ein genaueres Thesenpapier entwerfen, dass als Grundlage der ArbeiterInnendiskussion und zur Bestimmung von Interventionen dienen kann.
Wir wollen, dass ihr euch an der Debatte und - am besten mit direkten Kontakten und Informationen - an der Untersuchung beteiligt. Dieses Papier ist ein Aufruf, die Diskussion über revolutionäre Organisierung zu intensivieren und gesammeltes Material und gemachte Erfahrungen zirkulieren zu lassen.
Anbei findet ihr einen Fragebogen, mit dem ihr KollegInnen oder GenossInnen interviewen könnt, die in Call Centern arbeiten.
Gebt das Papier an andere Kollektive weiter, schreibt oder trefft uns!
Wir können außer Deutsch noch Englisch, Polnisch und Türkisch fließend. Auch französische, spanische und italienische Beiträge können wir lesen. Trotzdem halten wir es für sinnvoll, wenn ihr Beiträge zur Diskussion in Englisch (oder Deutsch) schreibt und zirkulieren lasst, sofern das möglich ist, weil wir sonst mit Übersetzungen überlastet wären.
Viel Leidenschaft und Kraft im weiteren Kampf!
[kolinko@prol-position.net]------[pgp-key kolinko]
|