Quelle: Neues Nebelhorn 11/93 | |
Startseite nnh 11/93 |
Am 1. November dieses Jahres ist das Asylbewerberleistungsgesetz in Kraft getreten. Für die Flüchtlinge bedeutet das nicht nur eine Kürzung von Sozialleistungen. Die Leistungen werden generell in Form von Sachleistungen oder Gutscheine ausbezahlt.
Frank Stein
Sie fragte mich auf dem Bahnhof nach Hilfe mit ihrer Platzreservierung. Sie sei ja erst seit einer Woche in Deutschland. Was die alte Frau mir in jenem altmodischen Deutsch, das auch meine Oma immer gesprochen hatte, erzählte, war nicht die Geschichte ihrer Übersiedlung aus dem Ural in die Bundesrepublik. "Nie vergessen" werde sie ihre Flucht quer durch die Kriegsgebiete des Zweiten Weltkrieges, ihren Fußmarsch vom Schwarzen Meer über Polen nach Frankfurt und wie sie sich nur knapp über die Oder-Brücke retten konnte, die sie noch direkt hinter sich explodieren sah. Wie es sie dann zuerst nach Sibirien und später in den Ural verschlagen hatte. "Das ist alles hier drin", sagt sie entschieden und zeigt auf ihren Kopf, "das brauche ich nicht aufschreiben".
Mehr als 45 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges fliehen auf der ganzen Welt Menschen vor jenen Kriegen, an denen die Waffenexporteure der Industrienationen fleißig mitverdienen. Nicht nur, daß ein Teil unseres Wohlstandes auf diesen Waffenexporten basiert, wir wollen auch so wenig wie möglich von dem wissen, was dort geschieht. Nur ein Bruchteil dieser Flüchtlinge schafft es nach Europa, und die wenigen, die es auch noch schaffen, über die deutsche Grenze zu kommen, sitzen mit ihrem Schicksal in trostlosen, abgeschotteten Sammelunterkünften. Sie haben ihre Familie, ihre Freunde, ihren Arbeitsplatz, ihr Haus, ihre Kultur, ihre Sprache und vieles andere hinter sich zurückgelassen. Sie sitzen in einem fremden Land, dessen Sprache sie meist nicht sprechen, wo sie keine Freunde haben, dessen Kultur sie nicht kennen, und sie wissen nicht einmal, ob sie dort bleiben können. Sie sind Flüchtlinge.
"Asylbewerber" ist der deutsche Name, den wir ihnen geben. Ein Wort, das nicht danach fragt, wo sie herkommen, was sie erlebten, wer sie sind. Ein Wort, das sie zu Antragstellern, zu Rechtsfällen macht. Dieses Kunstwort macht es leicht, von "Asylbetrügern" zu sprechen - von "Fluchtbetrügern" zu sprechen würde denn auch keiner wagen. So werden Schicksale zu Verwaltungsakten. Wir machen aus der Geschichte der Menschen Anhörungen, aus ihrem Hunger Versorgungsfragen, aus ihrer Angst soziale Probleme. Wir sprechen von Kostenfaktoren, Unterbringungsabwicklung und Sozialfällen. Wer politisches Kapital aus ihnen schlagen will, hilft sich mit den Vokabeln wie "Welle" oder "Flut" oder etwas feiner mit "Akzeptanz- problemen".
Haushaltsposten sind sie auch. Und da die PolitikerInnen derzeit nur dort sparen, wo am wenigsten mit Widerstand zu rechnen ist, hat die Bundesregierung ein "Asylbewerber-Leistungsgesetz" eingeführt, das zum ersten No- vember in Kraft tritt. Ignoriert hat sie dabei die entschiedene Ablehnung des Gesetzes durch all jene Verbände, die für die tägliche Versorgung der Flüchtlinge zuständig sind.
Dieses Leistungsgesetz nimmt die Flüchtlinge aus der, bisher durch die Sozialhilfe gewährleisteten, sozialen Grundsicherung der Bundesrepublik heraus und kürzt die "Aufwendungen" um ein Viertel, für Kinder um zehn Prozent. Und selbst diese Aufwendungen sollen dann, bis auf ein Taschengeld, nicht mehr ausgezahlt, sondern nur noch als Sachmittel ausgegeben werden. Außerdem wird eine Arbeitspflicht mit einem Stundenlohn von zwei Mark eingeführt. Mit diesen Maßnahmen will die Bonner Koalition eine Milliarde Mark einsparen und gleichzeitig neue Flüchlinge abschrecken. Denn, so argumentieren die Regierungsvertreterinnen, die "Attraktivität der Geldleistungen" entfalle. Auch seien die Kürzungen angemessen, weil der Aufenthalt der Flüchtlinge nur vorübergehend sei. Deshalb seien auch integrative Leistungen, wie sie die Sozialhilfe für Deutsche vorsieht, für Asylsuchende nicht erforderlich. So gäbe es etwa keinen Bedarf an Bildung.
Zwar hatte schon im August 1991 der damalige Bundesinnenminister Schäuble festgestellt: "Die künstliche Erzeugung von Abschreckungseffekten durch eine gezielte Verschlechterung der Lebensbedingungen, wie etwa das früher verhängte Arbeitsverbot, ist im Ergebnis untauglich." Doch diese Einsicht scheint von den Parteien ignoriert worden zu sein. Die Argumentationslinien zeigen viel- mehr deutlich die Einstellung, mit der die Re- gierungsparteien und die SPD den Flüchtlingen begegnen. Wer, wie zum Beispiel auch der Konstanzer "Sozial"bürgermeister Hansen, glauben machen will, Flüchtlinge "nutzen letztendlich nur das System der bundesdeutschen Sozialhilfe aus", leugnet die Existenz von Krieg, lebensbedrohender Armut und politi- scher, religiöser, rassistischer und sexistischer Verfolgung und auch den bundesdeutschen (Verdienst-)Anteil daran.
Allein das Argument vom vorübergehenden Aufenthalt sticht nicht. Zum einen rechtfertigt auch ein zeitweiliger Aufenthalt nicht eine auch noch staatlich verordnete unwürdige Unterbrin- gung, wie sie schon jetzt der Regelfall ist und sich durch das Gesetz noch verschlimmem wird. Nicht zufällig lassen die zuständigen Be- hörden nur ungern jemanden in die Unterkünfte hineinschauen. Die Bürgerinnen könnten sich ja an solche Werte wie "Gastfreundschaft" er- innern. Zum anderen kann von "zeitweilig" kaum die Rede sein, wenn sich Terrorregimes wie zum Beispiel der Iran, der Irak, die Türkei oder China einer freundlichen Unterstützung (auch schon mal mit Waffen) durch die Bundes- regierung erfreuen können.
Einen besonders üblen Beigeschmack aber erhält nach Rostock, Mölln und Solingen, das Argument, bei Flüchtlingen seien Integrationsmaßnahmen nicht notwendig. Nicht nur, daß hier die Politikerinnen verhindern wollen, daß die Deutschen Fremdenfeindlichkeit und Vorurteile abbauen und eventuell die wahren Fluchtgründe erfahren. Sie wollen offenbar auch nicht, daß die Flüchtlinge die deutsche Kultur kennenlernen, was oft Mißverständnisse vermeiden würde. Die gleiche Ignoranz steht hinter der Behauptung, daß es keinen Bedarf nach Bildung vorhanden sei.
Im täglichen Leben der Flüchtlinge aber dürfte die Umstellung von Geld- auf Sachleistungen die einschneidenste Veränderung bringen. Ihnen wird damit die Möglichkeit genommen, ihre Lebensmittel selbst einzukaufen und sich entsprechend ihrer Kultur zu ernähren. Statt dessen gibt's den genormten Einheitsbrei eines Großlieferanten. Erfahrungen damit konnten schon in den Sammelunterkünften des Landes gemacht werden, wo diese Form der Versorgung bereits lange praktiziert wird. Die genormten Essenspakete führten zu paradoxen Situationen, wie die fünfköpfige Familie, die zwar fünf Dosen Pfeffer bekam, aber für das Kleinkind und den Säugling gab es keine angemessene Nahrung (für Einzelheiten siehe auch das NNH 8/93).
In Radoifzell besah sich der Mediziner Wolf-Dietrich Foerster die Warenkörbe und befand, "H-Milch, Toastbroat bzw. Weißbrot, gezuckerte Billig-Fruchtsäfte, Tiefkühl- und Dosenkost, wenig Frischobst- und Gemüse sind für die körperlich und physisch geschwächten Menschen aus Krisenländern eine nicht zu verantwortende Mangelkost", die vermehrte Erkrankungen vorprogrammiere. Vor allem, wenn im Winter schlecht schließende Türen in den Containern für Zugluft sorgen und sich durch die beengte Wohnsituation Infektionskrankheiten noch schneller übertragen. Im Konstanzer Sammellager gab es mehrere Hungerstreiks gegen das einseitige und minderwertige Essen, das von der Firma RoRi aus Engen geliefert wird, die sich eine goldene Nase daran verdient.
Prozeßkostenhilfe steht den Flüchlingen nicht zu. Die Anwältln, die ihnen durch das deutsche Asylrecht hilft, müssen sie sich vom Mund absparen. Pro Asyl urteilt dazu: "Im Übrigen dient die Vorschrift [...] einem einzigen Zweck: Es soll verhindert werden, daß Asylsuchende aus dem ihnen verbliebenen Schonvermögen Rechtsanwälte bezahlen können. Es handelt sich um eine flankierende Maßnahme zu den restriktiven Regelungen des Rechtsweges nach dem geltenden Asylverfahrensgesetz."
Auch die Kosten für Übersetzungen, Fahrten, Porto, Beschaffung von Dokumenten müssen vom knappen Taschengeld bestritten werden. Damit birgt das Gesetz "die Gefahr einer Entmündigung mit entsprechenden Folgen für die betroffenen Menschen. Die Möglichkeiten zur selbstverantwortlichen Lebensgestaltung werden unangemessen weit eingeschränkt," urteilt auch das Diakonische Werk, eine der Organisationen, die mit der Versorgung der Flüchlinge betraut sind.
Doch nicht nur für die Flüchtlinge, auch für die Kommunen bringt die Versorgung der Flüchtlinge mit Sachmitteln Nachteile. Diese dürfte nämlich deutlich teurer werden als die Ausgabe von Bargeld. Zwar hatte Bürgermeister Hansen in einem Schreiben an den AK Asyl vom Mai das Leistungsgesetz noch mit den Worten begrüßt: "Es ist unbedingt notwendig, die Kosten fiir die öffentliche Hand zu reduzieren." Doch schon im September mußte er von dieser Position abrücken. An den baden-württembergischen Innenminister Frieder Birzele schrieb er:
"Die neue gesetzliche Regelung wird dazu führen, daß Asylbewerber in den gleichen Einrichtungen teils Geldleistungen und teils Sachleistungen erhalten. Dadurch wird die Betreuungssituation in den Sammelunterkünften eher schwieriger werden. Deshalb bitten wir sie nachdrücklich darum, die Betreuungspauschalen [...] so zu erhöhen, daß ein Betreuungsschlüssel von l: 150 Personen anstelle der derzeit l :300 Personen erreicht wird." Damit führt das neue Gesetz allein schon zu einer Verdoppelung der Personalkosten bei der Betreuung. Diese Kosten bleiben bei den Kommunen oder beim Land hängen, da eine soziale Betreuung im Rahmen des Asylbewerber-Leistungsgesetzes ausdrücklich nicht vorgesehen ist.
Dazu kommen Kosten für Einkauf, Lagerung, Verteilung der Lebensmittel, weitere Personalkosten für die Kleiderkammern und auch noch die Profite der damit zu beauftragenden Unternehmen. Alles Dinge, die die Flüchtlinge bei Geldzahlung selber übernehmen und viel effektiver und unbürokratischer bewältigen.
Untersuchungen des Sozialamtes der Stadt Köln vom April 1993 und der Stadt Radoifzell vom Mai 1993 belegen, daß eine Barauszahlung der Sozialhife von den Kommunen wesentlich kostengünstiger abgewickelt werden kann als eine Versorgung mit Sachmitteln. Der Sozialamtsleiter von Köln warnte ausdrücklich vor den Folgen der Gesetzesvorlage:
"Von begründeten Ausnahmen abgesehen, erbringen wir keine Sachleistungen und ich bin fest davon überzeugt, das muß auch in Zukunft so bleiben. Eine Verpflichtung zu Sachleistungen (...) hätte schlimme Folgen. [...] Allein in Bielefeld spart die Sozialverwaltung jährlich 675.000 DM, weil sie auf die Ausgabe von Gutscheinen und sogar l,8 Millionen DM, weil sie auf die Ausgabe von Essen (Sammelverpflegung) verzichtete."
Weniger aus Kosten- als aus generellen Gründen verurteilen die Wohlfahrtsverbände, die durch ihre Tätigkeit in der Betreuung der Flüchtlinge die Situation am besten kennen, einhellig das neue Gesetz. In einer Stellungnahme schreibt das Diakonische Werk der evangelischen Kirche in Deutschland:
"Der vorliegende Gesetzentwurf führt dazu, daß Asylbewerber und bestimmte andere Ausländergruppen pauschal aus der existenziellen Grundsicherung [...} herausgenommen werden. Die unterschiedliche Behandlung ist im Blid auf unser christliches Weltbild und auch ange sichts unserer vom Grundwert der Menschenwürde geprägten Verfassung bedenklich. [..,{ Es ist grundsätzlich zu fragen, ob Einschräkungen der existenziellen Grundsicherung Instrumente einer Politik der Begrenzung und Steuerung von Zuwanderung sein können. Die bisherigen Erfahrungen lassen erwarten, dass solche Maßnahmen dafür nur sehr begrenzt geeignet sind. [So] wird das bisher durch das BSHG [Bundessozialhilfegesetz d. Red.] definierte Existenzminimum unterschritten. Nachteilige soziale Folgen, die bis hin zu verstärkte Ansätzen für kriminelles Handeln reichen könnten, sind absehbar."
Und nach Auffassung von Pro Asyl hätte der Gesetzgeber die Pflicht zu bedenken, daß diskriminierende Gesetze dieser Art geeignet seien, "durch die Stigmatisiemng bestimmter Gruppen Sündenbockmechanismen auszulösen und den aufkeimenden Rassismus zu fördern.
Der DGB und Pro ASYL äußerten in einer gemeinsamen Erklärung die Befürchtung, daß die Bundesregierung vorhabe, auch für Deutsche die Sozialhilfe vom Bedarf abzukoppeln und für andere Ausländergruppen weitere Neuregelungen plane, die deutlich eine "Rausschmißtendenz" belegen würden. Diese Tendenz wird so auch vom Präsidenten des Deutsehen Caritasverbandes gesehen:
"Wäre ein solcher Einbruch in das bisher geltende unterste soziale Netz erst einmal für eine Personengruppe geschaffen, bestünde die Gefahr, daß weitere Personengruppen folgen.
Startseite nnh 11/93 |
sw, 24.5.00