linksrhein Quelle: AZW Nummer 01, erschienen am 11.05.1995
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Bevölkerungspolitik

"Was geht euch die Zahl unserer Kinder an?"

Diese Frage formuliert eine indische Frau in dem Film "Das Erbe von Malthus" (Deepa Dhanraj, Indien 1994), der während der Konstanzer Ökofilmtage gezeigt wurde. Die Filmtage vom 3. bis 7. Mai, veranstaltet vom Zebra-Kino und der Freien Grünen Liste, beschäftigten sich mit dem Thema der sogenannten "Überbevölkerung".

Vor dem Film stellte sich die Konstanzer Arbeitsgruppe Frauen gegen Bevölkerungspolitik vor. Die Gruppe entstand vor etwa einem Jahr nach einem Seminar zur Geschichte und den Hintergründen internationaler Bevölkerungspolitik. Frauengruppen, die sich kritisch mit nationaler und internationaler Bevölkerungspolitik auseinandersetzen und sich dagegen wenden, existieren seit Anfang der 80er Jahre in verschiedenen Ländern. Es gibt regelmäßige internationale Treffen mit Frauengruppen aus Ländern des Südens, die sich gegen bevölkerungspolitische Maßnahmen zur Wehr setzen. Zudem existiert seit Mitte der 80er Jahre ein internationales feministisches Netzwerk gegen Bevölkerungspolitik und Gen und Reproduktionstechnologie (Finrrage). Auch während der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 trafen sich zahlreiche Frauengruppen und Nicht- RegierungsOrganisationen (NGO), um ihrer Kritik gegen Bevölkerungspolitik Ausdruck zu verleihen. Wie zu erwarten war, kamen sie weder bei dem Konferenz-Spektakel zu Wort, noch in den hiesigen Medien, die uns wochenlang Horrorbilder von "Bevölkerungsexplosionen" einflößten. Feministische Kritik an Bevölkerungspolitik ist nicht gefragt - entweder wird sich an den althergebrachten frauenfeindlichen Vatikan- Positionen aufgerieben oder feministische Kritik wird paradoxerweise auch noch damit in einen Topf geworfen.

Die Frauen der Konstanzer Arbeitsgruppe zeigten auf, was unter Bevölkerungspolitik verstanden wird und verdeutlichten ihre kritische Position: Unter Bevölkerungspolitik werden staatliche und überstaatliche Maßnahmen verstanden, die das erklärte Ziel haben, "Bevölkerungsvorgänge" zu steuern. Diese Maßnahmen umfassen die Bereiche der Geburtenpolitik, der Sterbepolitik und der Migrationspolitik, wobei der bevölkerungspolitische Schwerpunkt im allgemeinen auf der Geburtenpolitik liegt. Hauptadressatinnen sind hierbei die Frauen, da ihnen meist die Alleinverantwortung für Verhütung und Fortplanzung zugeschrieben wird.

Wenn es um die Steuerung der Zahl der Bevölkerung eines bestimmten Gebietes, also um die Anzahl von Menschen geht, handelt es sich um eine quantitative Bevölkerungspolitik. Wenn die Zusammensetzung einer Bevölkerung gesteuert werden soll, handelt es sich um eine qualitative Bevölkerungspolitik. Jede Form von Bevölkerungspolitik beinhaltet sowohl quantitative als auch qualitative Aspekte und führt immer zur Auslese von Menschen. Die jeweils nationale Bevölkerungspolitik in den Industriestaaten richtet sich inzwischen vor allem auf die Qualität ihrer Bevölkerung. Als "zuviele" gelten hier alte, chronisch kranke und behinderte Menschen. Als eine der Maßnahmen in der BRD ist beispielsweise die eugenische Indikation des 218 zu nennen. Den entsprechenden Maßnahmenkatalog liefert die Humangenetik, die Kontinuitäten der eugenischen und rassehygienischen Bevölkerungspolitik aufweist: die Unterscheidung in fortpflanzungswürdige und nicht fortpflanzungswürdige Menschen.

Die internationale Bevölkerungspolitik, die von den Industrieländern gegenüber den Ländern des Südens bestimmt wird, richtet sich vor allem auf die Quantität der Bevölkerung, mit dem Ziel, die Geburtenrate in jenen Ländern zu senken. Als "zuviele" gelten arme, indigene und schwarze Menschen. Bevölkerungspolitik ist rassistisch, eugenisch, gegen Arme und gegen Frauen gerichtet und dient als Herrschaftsinstrument zur Aufrechterhaltung der bestehenden Welt(un)ordnung.

Die internationale Bevölkerungspolitik wird seit 40 Jahren betrieben, mit jeweils unterschiedlichen ideologisch- politischen Rechtfertigungen. Das Bevölkerungswachstum in den Ländern des Südens wird zur zentralen Ursache von Hunger und Armut, Umweltzerstörung, Fluchtbewegungen und von Frauenunterdrückung erklärt. Mit Begriffen wie "Bevölkerungsbombe", "Bevölkerungsexplosion", "Zeitbombe Mensch" oder "Sprengstoff Mensch" werden Menschen als Gefahr und Zerstörungspotential definiert. Die einfache Lösung für dieses "Problemfeld Mensch" wird in der Durchführung von Bevölkerungspolitik gesehen. Jedes Problem, sei es ein gesellschaftliches, sozialpolitisches, wirtschaftliches oder ökologisches, wird zum "Bevölkerungsproblem" umdefiniert und zur globalen Menschheitsfrage hochstilisiert. Die herrschenden Strukturen werden dabei als statisch und unveränderbar betrachtet, während die Menschen und ihr Fortpflanzungsverhalten diesen Strukturen angepasst werden sollen. So wurde beispielsweise auf dem Weltsozialgipfel behauptet, das hohe Bevölkerungswachstums sei verantwortlich für die weltweite Arbeitsplatzknappheit.

Mit der Behauptung von "Überbevölkerung" werden Katastrophenszenarien heraufbeschworen und wieder einmal Feindbilder geschaffen, die von den wirklichen Ursachen von Problemen ablenken. Mit der Behauptung von "Überbevölkerung" wird der verarmten Bevölkerungsmehrheit in den Ländern des Südens die Schuld für ihre eigene Armut zugeschrieben. Diese Behauptung ist nicht neu, sondern hat ihren Ursprung in Europa vor etwa 200 Jahren: zu Zeiten der industriellen Revolution stellte der englische Pastor Thomas Malthus eine "Bevölkerungstheorie" auf, nach der sich die Armen "schneller vermehren" als es die Nahrungsmittelproduktion zulasse. Und wenn die wirtschaftliche Lage dieser Menschen verbessert würde, hätte dies zwangsläufige Katastrophen zur Folge. Malthus wollte den von der französischen Revolution inspirierten sozialrevolutionären Bestrebungen Paroli bieten und lieferte mit seiner "Theorie" die wissenschaftliche Rechtfertigung für die Politik des Adels und der Großgrundbesitzer: mit den Folgen der Ausbeutung, Verelendung und Vertreibung der Landbevölkerung.

Die indische Filmautorin Deepa Dhanraj stellt in ihrem 1994 gedrehten Dokumentarfilm "Das Erbe von Malthus" Vergleiche auf zwischen der Situation in Schottland zu Zeiten von Malthus und der heutigen Situation der Landbevölkerung in Indien. Den Ausschnitten aus bevölkerungspolitischen Propagandafilmen werden Aussagen von indischen Frauen gegenübergestellt, die sich gegen Familienplanungsprogramme zur Wehr setzen: "Was kümmern sich die Reichen so sehr um uns? Was geht sie die Zahl unserer Kinder an? Warum sind sie ständig darauf aus, daß wir Menschen zur Sterilisation überreden? Ob Regierungs- oder Steuerbeamte, sogar Dorfschullehrer, sie alle sind scharf auf Sterilisationswillige. Warum sind sie das? Ich glaube, das dient ihrer Karriere."

Der Film räumt auf mit der Ideologie der "Überbevölkerung" und analysiert die tatsächlichen Ursachen von Armut.

Dieser Film ist nochmal zu sehen beim Filmabend für Frauen im belladonna (siehe Veranstaltungshinweise).

Ingrid Augenstein

Literaturtips:

Petra Lambrecht/Heide Mertens: Small family, happy familiy. Internationale Bevölkerungspolitik und Familienplanung in Indien. Münster 1989

Eva Engelhardt/Ingrid Spiller: Bevölkerungspolitik. eXplizit - Materialien für Unterricht und Bildungsarbeit. Bad Honnef 1991

Ingrid Strobl: Strange Fruit. Bevölkerungspolitik: Ideologien, Ziele, Methoden, Widerstand. Berlin/Amsterdam 1991

Cornelia Schlebusch: Bevölkerungspolitik als Entwicklungsstrategie. Historisches und Aktuelles zu einem fragwürdigen Argument. Frankfurt 1994

Christa Wichterich (Hg): Menschen nach Maß. Bevölkerungspolitik in Nord und Süd. Göttingen 1994

Diese und viele anderen Bücher und Broschüren zum Thema Bevölkerungspolitik sind erhältlich im: WELTLADEN, Inselgasse 20, Konstanz.

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