linksrhein Quelle: AZW Nummer 09, erschienen am 14.09.1995
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Kreisgrüne zu Bosnien

Die konkrete Sicht der Dinge ...

Am 22. Juni verabschiedete die Kreismitgliederversammlung der Bündnisgrünen eine Resolution zum Bosnienkonflikt an den Bundesvorstand.
Seit dem Antikriegstag wird nun "die pazifistische Glaubwürdigkeit" und die "meinungsführende Rolle" der Grünen von der Nato herbeigebombt. "Täuschen wir uns nicht über die bewußtseinsmäßigen Folgen für die heranwachsende Generation": Nicht "extremistische Prinzipienreiterei", sondern nur "rückgratlose Schwäche" ist ein "realistisches Entgegentreten" gegen "imperialistische Militäraktionen zum Schutz deutscher oder europäischer Wirtschaftsinteressen".
Mit der Resolution hatte Hendrik Auhagen die Kreismitgliederversammlung überrumpelt. 20 Parteimitglieder, die damit und z.T. mit den Inhalten des Textes nicht einverstanden sind, setzten eine Mitgliederversammlung am 14. diesen Monats zum Thema Bosnien durch. Für die konkrete Sicht der grünen Dinge, dokumentieren wir den Brief an den Bundesvorstand in voller Länge (red).

Der Pazifismus ist in Gefahr, Pazifismus als Eintreten für eine Politik der Verständigung, der Deeskalation von Konflikten und gegen Hochrüstung und nationalistisches Säbelrasseln ist Kernbestandteil Grüner Identität. Und gerade auch für die Zukunft ist es wichtig, daß dieser pazifistische Gedanke immer für den Fall aktionsbereit ist, sollten neue Hochrüstungspläne oder imperialistische Militäraktionen zum Schutz deutscher oder eu- ropäischer Wirtschaftsinteressen geplant werden. Diese Mobilisierungsfähigkeit morgen hängt von der Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft unserer pazifistischen Grundhaltung heute ab.

Diese pazifistische Glaubwürdigkeit ist im höchsten Maße bedroht. Bedroht durch das ratlose Weggucken angesichts des dreijährigen Massakers in Bosnien. Bitten um Hilfe bei der militärischen Notwehr der bedrängten multikulturellen Regierung Bosniens haben wir abgelehnt und nichtmilitärische pazifistische Solidarität an- gekündigt. Aber wo sind - von materiellen Hilfstransporten, die nur bei hohen Tribut an die Aggressoren überhaupt durchgelassen wurden, abgesehen - die internationalen solidarischen Aktionen der sozialen Verteidigung geblieben? Haben sich Tausende von Anhängern der deutschen Friedensbewegung und der Grünen an die Spitze der blokkierten Lebensmitteltransporte für Gorazde gesetzt oder sich vor die serbischen Geschütze über Sarajewo gestellt?

Zum Fehler wird es, wenn trotz dieser Erfahrung, daß auch das Prinzip des Gewaltverzichts auf Grenzen stößt, die uns allen gemeinsame friedenspolitische Grundhaltung in eine extremistische Prinzipienreiterei hineinmanövriert wird. Das ist der Fall, wenn immer mehr gerade derjenigen Menschen, die vor zwölf Jahren die Friedensbewegung getragen haben, das Gefühl beschleicht, daß die pazifistische Grundhaltung die konkrete Sicht auf die Dinge blockiert, die fortgesetzte Gewalt gegen Wehrlose ignoriert, ja aus Verteidigung von Prinzipien möglicherweise zum ungewollten Paktieren mit dem Aggressor wird.

Mit dem Aggressor meinen wir nicht die Serben im allgemeinen. Im Gegenteil: Ein Großteil insbesondere der Serben in Sarajewo ist für ein multi-ethnisches Serbien und steht und kämpft sogar auf Seiten der bosnischen Regierung. Der Aggressor sind die nationalistischen Serben unter der Führung von Radovan Karadzic und sind maßgeblich bestimmt vom Offizierskorps der alten jugoslawischen Armee in Bosnien, die ihre gewaltigen Arsenale von Waffen und Munition gegen das eigenen Volk gerichtet hat und dafür in Pro- gramm und Tat das Ziel der Vertreibung und Ausrottung aller anderen Bevölkerungsbestandteile verfolgt.

Niemand beim Bündnis 90/Grüne ist der Meinung, daß militärische Hilfe im spanischen Bürgerkrieg gegen die Franco-Faschisten, für die Juden im Warschauer Ghetto oder gar überhaupt der militärische Widerstand gegen Hitler-Deutschland falsch gewesen wäre. Den Eindruck solchen undifferenzierten Pazifismusverständnis erweckt aber die bisherige Haltung der Bündnisgrünen zur Aggression gegen das multikulturelle Bosnien.

Richtige Ziele wie "Vermitteln und Verhandeln" werden auch für die Zukunft herabgewürdigt, indem die serbischen Extremisten unter Radovan Karadzic alle diplomatischen Friedensbemühungen als internationale Unterwerfungsgesten vor den geschaffen Tatsachen ihres Terrors mißbrauchen können.

Täuschen wir uns nicht über die be- wußtseinsmäßigen Folgen für die jetzt heranwach- sende Generation: Wenn Friedensliebe sich so als rückgratlose Schwäche vor dem Aggressor darstellt, verlieren wir auf Dauer und auch für die vielen Fälle, in denen der Verzicht auf mi- litärische Gewalt unzweifelhaft richtig ist, unsere meinungsführende Rolle.

Nach drei Jahren Nachgeben gegenüber den serbischen Nationalisten, nachdem sogar Angebote wie dem Teilungsplan der UNO, der um des lieben Friedens willen de facto bis hin zur de facto-Anerkennung der ethnischen Säuberung ging, von den nationalistischen Serben abgelehnt werden, müssen wir bekennen, daß in diesem Fall die Politik des Gewaltverzichts scheitert. Jetzt sind wir es der unsäglich unter dem Terror leidenden Bevölkerung Bosniens und Sarajevos schuldig, auch über die Verstärkung des militärischen Drucks gegen den Aggressor nachzudenken, damit er überhaupt endlich ein echtes Interesse an Verhandlungen entwik- kelt.

In dieser Situation dürfen wir Bündnisgrüne nicht insgeheim darauf hoffen, daß die anderen schon für ein Ende des Terrors sorgen werden, so daß wir bei der Bereitstellung der notwendigen Mittel uns nicht belasten müssen.

In diesem Sinne fordern wir Bundesvorstand und Bundestagsfraktion der Grünen dazu auf, eine Ent- schließung zu formulieren, in der realistisches Entgegentreten gegenüber dem Aggressor mit nichtmilitärischen friedensschaffenden und humanitären Elementen verknüpft werden. Dazu gehört:

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