Als wir, d.h. die Westberliner Friedenskoordination, Anfang 1985 mit den Vorbereitungen zur Gestaltung des 40. Jahrestags des Kriegsendes begannen, bestand Einigkeit, dass die Losung zu diesem Ereignis nur heissen konnte: "Tag der Befreiung. Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg". Es gehörte zur Hochstimmung jener Zeit, dass wir glaubten, damit auf eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung zu stossen. Uns schien, als wäre uns damit endlich ein offensiver Schritt gelungen, mit dem wir die Phase des Reagierens auf die tötlich empfundene Drohung mit der Stationierung der Pershing-Raketen und der Cruise Missiles überwinden könnten. Ich glaube unsere damalige Stimmung richtig wiederzugeben, wenn ich schreibe, dass wir uns kaum einen Menschen vorstellen konnten, der es noch wagen könnte, öffentlich von der "Kapitulation" zu reden.
Der Erfolg dieser Demonstration, zu der wir RednerInnen wie Dorothee Sölle, einen ehemaligen sowjetischen Oberst, der entscheidend zur kampflosen Übergabe der Festung Spandau beigetragen hatte, und den US-amerikanischen Repräsentanten der schwarzen Bürgerrechtsbewegung Jesse Jackson gewonnen hatten, bestärkte uns in unserer optimistischen Haltung. Als dann Jackson spontan eine offenbar sehr bekannte, schwarze Sängerin auf die Bühne hievte, drückte das von ihr intonierte "We shall overcome" genau die Überzeugung aus, von der die Abertausenden um die Gedächniskirche herum und in den angrenzenden Strassen ergriffen waren.
15 Jahre später ist die Erinnerung an diesen grossen Tag immer noch lebendig. Aber "Tag der Befreiung"? Ja natürlich: für die geschundenen Völker Europas, für die Totgeweihten aus den KZ, für die Antifaschisten. Nach den Erfahrungen der seither vergangenen Zeit würde ich heute die Verwendung des Wortes "Freiheit" im Zusammenhang mit dem 8.5. als eine Perversion bezeichnen. Als solche wäre uns damals die Vorstellung erschienen, dass ein Grossdeutschland entstehen könnte, dem es gelingt, praktisch alle Ergebnisse des von uns zu verantwortenden Krieges zu revidieren.
Die Überzeugung, dass "von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen" wird, war eine so festgefügte Erkenntnis, dass der Vergleich mit dem Glaubensbekenntnis eines unerschütterlich in seiner Religion Wurzelnden naheliegt. Der Verlust dieser Überzeugung ist ja nicht schlagartig passiert. Da war zunächst die Enttäuschung über die Vergeblichkeit der Bemühungen der Friedensbewegung. Dann kam der Taumel der sogenannten Wiedervereinigung mit den schrillen Tönen des "Ich bin stolz ein Deutscher zu sein", der Arroganz, mit der die Erringung der ökonomischen Hegemonie in Europa begleitet wurde, die zunehmenden Excesse der Neofaschisten und nun vor einem Jahr das, bis dahin immer noch nicht vorstellbare Vorantreiben der "Normalität" mit der Teilnahme an dem völkerrechtswidrigen, verbrecherischen Krieg gegen einen souveränen Staat. Nein, es ist nur konsequent und logisch, wenn unsere Herrschenden diesen Tag unbeachtet vorübergehen lassen. Aber es wäre eine Schande, wenn nicht wenigstens der Teil, der sich zu dem "anderen", antifaschistischen Deutschland bekennt, der, in deutschem Namen Ermordeten, gedenkt. Und deren Opfer als Verpflichtung betrachtet, dem "Schwur von Buchenwald" weiterhin zu folgen.
Michael Venedey
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