abtauchen: briefe und interviews
"Auch das Abtauchen hat 'ne Perspektive und die ist keine schlechte" Interview mit Jutta und zwei anderen Frauen zum "radikal-Verfahren Teil II Am 13. Juni 1995 fanden im gesamten Bundesgebiet Razzien statt, vier im sog. radikal-Verfahren gesuchte Männer wurden verhaftet, drei weitere Männer und eine Frau tauchten ab, um nicht in den Knast zu müssen. (...) Genau ein Jahr später kamen Jutta aus Bremen, Ulli aus Oldenburg und Glosch aus Köln zurück, Matthes aus Bremen blieb abgetaucht. Im Ende Juli mit Jutta, Clara und Xenia (zwei Frauen aus einer Bremer Frauen/Lesben- Solistruktur) geführten Interview, das hier nur stark gekürzt wiedergegeben werden kann, ging es schwerpunktmäßig um die Themen Abtauchen und Solidaritätsarbeit; die politische Einschätzung des Verfahrens und der Repression sowie das Projekt radikal sollen im nächsten kassiber diskutiert werden. kassiber: Jutta, Du warst am 13.6.95 im Urlaub - und hattest das Glück, nicht festgenommen zu werden. Kannst Du mal erzählen, wie Du den Tag verlebt hast? Jutta: So genau kann ich mich jetzt nicht mehr an den Tag erinnern ... Auf jeden Fall wußte ich davon nichts, hab' das auch erst später erfahren. Ich glaube, an dem Tag habe ich eine wunderschöne Radtour gemacht, bei schönem Wetter - das war einfach ein ganz netter Urlaubstag. kassiber: Wie war denn Deine Reaktion, als klar war, daß, falls Du 'einfach' zurückkommen würdest, Du festgenommen werden würdest? Jutta: Also ich hab' mich schon erstmal erschreckt, als ich davon erfahren habe. Was ganz gut war, daß ich einfach noch Urlaub hatte, und daß ich von daher mir einfach auch Zeit nehmen konnte, zu überlegen, was ich mache, ob ich überhaupt zurückkomme - oder nicht -, ohne das Gefühl zu haben, jetzt völlig panisch reagieren zu müssen. kassiber: Die Entscheidung, nicht nach Bremen zurückzukommen ..., kannst Du mal erzählen, wie die gefallen ist: Warst Du da auf Dich allein gestellt, hast Du erstmal 'n paar Tage irgendwie 'vor Dich hin gelebt', ohne klar abzuchecken, was Du jetzt machen willst? Jutta: Am Anfang war das ja ziemlich unklar, was mir eigentlich alles vorgeworfen wird. Überhaupt war das ganze propagandistisch so aufgebaut, daß verschiedene Gruppierungen mehr oder weniger in einen Topf geworfen wurden - und darüber natürlich auch relativ unklar war, was das heißt. Was mir schon relativ schnell klar war, daß ich mir erstmal die Zeit nehmen wollte, Informationen zu kriegen, um dann in Ruhe zu entscheiden, was ich machen will. Also das war nicht so, daß ich gedacht hab': "Ich fahr' jetzt zurück und erkundige mich hier", sondern da gab es dieses: "Das könnte dann auch sein, daß ich festgenommen werde, wenn ich zurückkomme" - das war mir nicht ganz klar. Und da fand ich es dann sinniger, mir erstmal die Grundlagen für 'ne Entscheidung zu schaffen. kassiber: Wie hast Du Dich, nach der Entscheidung, erstmal abzutauchen, auf die neue Situation eingestellt? Was ist so abgelaufen, 'gedanklich', aber auch von daher, sich an ein Leben an einem anderen Ort gewöhnen zu müssen? Jutta: Zunächst war ich schon ziemlich durcheinander ... Du fällst in 'ne Situation, die völlig unbekannt ist, oder die mir zumindest völlig unbekannt war. Ich war schon auch ziemlich aufgeregt, einfach dadurch, daß sich das so schwer einschätzen ließ - was bei politischen Prozessen ja sowieso meistens der Fall ist. Das hat mich schon beschäftigt, gedanklich, was mich eigentlich erwarten könnte, oder was daraus gedreht wird. Was ich versucht habe, ist möglichst nicht in so 'ne Panik zu verfallen, sondern mit Hilfe der Leute, die mich dann betreut haben, viel darüber zu reden, mich mit denen auszutauschen. Ich hab' viel gelesen am Anfang, was zum einen 'ne Ablenkung ist, zum anderen haste auf ein Mal total viel Zeit. Ich lese gerne, wozu ich früher nie so viel Zeit hatte, das hat mir schon ganz gut getan. Und ich mußte mich zwangsläufig auch relativ viel mit mir selber beschäftigen - und das hat eigentlich ganz gut geklappt. Aber es hat schon 'ne ganze Zeit gedauert, bis sich so 'n normaler Alltag wieder aufgebaut hat, denn das schüchtert schon ein. Es hat dann gedauert, bis ich einfach ganz normal wieder einkaufen gegangen bin, oder bis ich mich daran gewöhnt hatte, daß eigentlich das Leben auf 'ne bestimmte Art auch ganz normal weiter abläuft - weil es gibt dann so 'ne Verfolgungsparanoia... Ich weiß nicht, ob die bei allen einsetzt, bei mir war das so - ich mußte mich erstmal umstellen und daran gewöhnen, so 'nen Alltag wieder aufzunehmen, wie ich den von hier gewöhnt bin, zumindest in einigen Teilen. kassiber: Wie lange hat das denn ungefähr gedauert? Ich stell' mir vor, daß 'ne wesentliche Schwierigkeit sein könnte, doch überwiegend mit den Gedanken in oder an Bremen, an Leuten hier, zu hängen, aber zugleich vor der Notwendigkeit zu stehen, sich auf die neuen Bedingungen einzulassen... Jutta: Ich würd' da schon mal unterscheiden: Was mir total schwer gefallen ist, daß ich natürlich nicht mehr meine Freundinnen um mich hatte - mit denen ich am besten hätte reden können; also die sind mir vertraut, da gibt es auch das Vertrauen, über alles mögliche zu reden. Das hat' ich erstmal nicht, das fand ich auch sehr schmerzhaft. Das hat mir auch richtig was weggenommen, hat mich auch wütend und traurig gemacht. Aber, mir war auch ziemlich schnell klar: Ich bin jetzt irgendwo anders, damit muß ich mich auseinandersetzen und versuchen, die neue Situation, die neue Umgebung zu erkunden - mich darin zu orientieren und zurechtzufinden. Also das waren im Prinzip getrennte Sachen. Ich hab' nicht in meinen Gedanken immer hier gehangen, und das andere wie durch so 'nen Nebelschleier wahrgenommen, sondern hab' mich eigentlich schon richtig da befunden, wo ich war. kassiber: Inwieweit hattest Du Dich mit der Frage auseinandergesetzt, an so 'nem anderen Ort, mittel- bzw. langfristig 'ne persönliche, 'ne politische Perspektive entwicklen zu können bzw. evtl. zu müssen? Jutta: Das ging relativ schnell. Also die Einschätzungen am Anfang gingen ja dahin, daß es bis zu sechs Jahren Knast heißen kann, was bei dem Verfahren 'rauskommt. Das hätte für mich geheißen, nicht zurückzukommen. Von daher hab' ich mich relativ schnell damit auseinandergesetzt, daß das auch 'ne längerfristige Perspektive sein könnte. Die Schwierigkeiten sind dann ja, daß du das nicht so machen kannst, wie wenn du legal jetzt hier umziehen würdest in 'ne andere Stadt. Ich war erstmal ziemlich auf mich zurückgeschmissen - über Bücher und Broschüren und solche Sachen hab' ich theoretisch weiter 'ne Auseinandersetzung mit dem geführt, was ich auch früher gemacht habe. Und mir war schon klar, daß ich langfristig schon 'ne politische Perspektive da will, wo ich bin, aber daß das schon anders funktioniert als legal zu sein. Denn mit den Leuten zu arbeiten, die Bescheid wissen und dich betreuen, ist relativ einfach. Die wissen, wer du bist, die kennen ein bißchen deine Geschichte... Da ist es kein Problem, was du erzählen kannst, weil die informiert sind, und da ist auch klar: Die reden jetzt nicht groß darüber mit anderen Leuten, sondern das bleibt in 'nem bestimmten festen Kreis einfach hängen. Wenn du diesen Kreis verläßt, mußt du dir einfach überlegen: Trittst du unter 'nem anderen Namen auf? Gibst du dir 'ne andere Legende? Du hast ja zum Beispiel keine Familie, also du hast eigentlich nicht mehr viel Vergangenheit, außer, du denkst sie dir aus. Und das sind natürlich schon 'ne Menge Überlegungen, das geht nicht so schnell - innerhalb von wenigen Monaten -, 'ne Lösung dafür zu finden. Dazu kommt dann auch noch: Du kriegst keine Post, du wirst auch nie angerufen, du bist richtig abgeschnitten von Deiner Vergangenheit. Für die, die das wissen, ist das auch klar. Aber für alle anderen, wenn du mehr mit denen zu tun hast, ist das dann irgendwie komisch. Also das ist eigentlich ein sehr künstliches Leben. Ich hätte mir nicht zugetraut, das ratz fatz zu verändern, sondern, um auch Fehler zu vermeiden, wollte ich mir damit Zeit lassen und das sehr gründlich mit den Leuten besprechen, wie man damit umgehen kann, daß man nicht völlig komisch auf andere Leute wirkt. Denn eigentlich bin ich nicht komisch, sondern die Situation ist irgendwie 'n bißchen komisch. Clara: Hattest Du Dir auch überlegt, wie Deine politische Praxis weiterhin laufen könnte? Weil auf Demos z.B. kannst Du als Illegale ja eigentlich nicht gehen - oder nur unter erschwerten Bedingungen oder wenn Du 'n ganz festes Umfeld hast. Waren da so Überlegungen da oder eher noch nicht, weil die Zeit zu kurz war oder ...? Jutta: Ich muß sagen, daß die Zeit wirklich relativ kurz war und ich relativ wenig ausprobiert hab', aber ich hatte schon auch Gedanken, wie z.B. daß ich mir vorgestellt hab', daß ich wieder Gruppen suche, in denen ich arbeiten kann; daß ich eigentlich nicht öffentlich auftreten kann; daß ich dem auch in gewisser Weise Rechnung tragen muß bzw. daß es auch irgendwann sein kann, daß ich 'n bestimmtes Risiko eingehen würde. Wenn du 'ne Gruppe hast, ist das natürlich einfacher, zu überlegen, welches Risiko du eingehst - und du baust das einfach ganz langsam auf ... Xenia: Du hast vorhin gesagt, daß Du viel gelesen hast. Waren das vor allem Bücher über Leute, aus welcher Zeit oder welchen politischen Bedingungen auch immer, die sich im Exil befunden haben, oder Literatur über Knast? Jutta: Also ich hab' viel Widerstandsliteratur gelesen, auch Sachen zu Exil - und hab' da dann schon festgestellt, daß ich die Situation, in der ich mich befinde, erstmal nicht als "Exil" bezeichnen würde. Die Leute sind aus anderen Situationen gekommen, das war viel umfassender, was da an Repression war, es waren ja oft Exilbewegungen, wo sehr viele Leute zu 'nem bestimmten Zeitpunkt abhauen mußten - das war bei uns nicht so. Es gibt sehr viel zu Exil, Leuten, die ins Exil gegangen sind, während des Faschismus oder aus Lateinamerika, aus den Diktaturen geflohen sind - aber das war mit meiner Situation erstmal wenig vergleichbar. Das war aber 'ne ganz gute Auseinandersetzung, weil "Exil" schon 'n ganz schöner Begriff ist, auch ganz griffig, aber ich hatte so im Laufe der Zeit den Eindruck: Das paßt eigentlich nicht so richtig auf meine Situation ... Xenia: Wie würdest Du Deine Situation denn beschreiben? Jutta: Als Abtauchen - das finde ich eigentlich 'nen recht passenden Begriff. kassiber: Eine weitere Frage wäre die nach anderen oder besonderen Bedingungen von Frauen oder Lesben, die abtauchen bzw. ins Exil gehen. Kannst Du dazu noch was sagen? Jutta: Also ich kam ja aus einer Lebenssituation, wo ich hauptsächlich mit Lesben und Frauen gearbeitet, gelebt, meinen Alltag hatte - das hatte ich da erstmal nicht. Das war schon 'ne ziemliche Umstellung, mich in einer absoluten Heterowelt wiederzufinden. Also die Auseinandersetzungen laufen schon ein bißchen anders ... Und ich denke, es gibt schon auch Vor- und Nachteile für Lesben. Wenn Du direkt in ein 'Netz' reinrutscht, wo auch viele Lesben drin sind, das erleichtert natürlich 'nen Einstieg in die 'Szene'. Dabei ist es aber sehr entscheidend, wo und in welchem Land du bist. Ich hätte mich auf jeden Fall auch in die Richtung orientiert, mir da wieder Zusammenhänge zu schaffen und 'ne Perspektive. Die sind dann als Lesbe vielleicht auch noch mal leichter zu finden, wenn es schon relativ viel Anlaufpunkte oder Möglichkeiten gibt, sich umzugucken. Auf der anderen Seite, wenn du das erst mal nicht hast ..., ich kann schon ganz eindeutig sagen: Mir hat da auch viel gefehlt von dem, was ich mir hier aufgebaut hatte an politischen und Lebenszusammenhängen, so wie ich leben und arbeiten will. Im Alltag kommen noch ganz andere Faktoren dazu. Um mal 'n Beispiel zu nennen: Wenn ich in 'ne fremde Stadt komme, in der ich mich nicht auskenne, ist das schon ganz normal, daß ich erst mal mehr gucke. In Bremen kenne ich mich aus, da hab' ich das nicht so nötig, da weiß ich die Ecken, die ich irgendwie seltsam finde, also fahr' ich da entweder blitzschnell mit dem Fahrrad durch oder ich umgeh' die. So lernst du als Frau ja eigentlich jede neue Stadt kennen. Ich war im Ausland, da kommen dann noch Sprachprobleme hinzu: Das ist 'n ganz wichtiger Faktor, daß wenn du angesprochen wirst, du irgendwas falsch auffaßt oder nicht verstehst oder auch nicht direkt passend antworten kannst, besonders wenn es sich um sexistische Anmache handelt. Und ich habe mich am Anfang, z.B. abends oder nachts, relativ wenig allein auf der Straße bewegt. Das mach' ich hier ganz automatisch, nachts allein auf der Straße zu sein, aber da mußte ich für mich erstmal dieses Gefühl für kriegen. Dazu kommt dann auch noch dieser illegale Status, der ja heißt, daß du nicht auffällig sein willst. Da hatte ich den Eindruck, wie kann man das so schön sagen, daß bestimmte patriarchale Klischees mir schon genutzt haben: Frauen werden sowieso leichter übersehen, also auch schon schneller ignoriert. Und mit dem entsprechenden Aussehen und dem entsprechenden Outfit wirst du auf der Straße schon auch ein bißchen unsichtbar. Das hilft dir dann erstmal, selbst wenn es eigentlich total beschissen ist, dich zu bewegen, also auch davon 'runterzukommen, daß jeder Gang auf die Straße, zumindest am Anfang, wie so 'ne Bedrohung wirkt - du huscht dann irgendwie ganz unauffällig durch. Und ich hab' schon relativ schnell gemerkt, daß ich mir das nicht nehmen lassen will, z.B. nachts auf die Straße zu gehen, das auch auszuprobieren und mir da wieder 'n Gefühl für zu schaffen - also mir das wieder zurückzunehmen. Es hat einfach nur etwas länger gedauert als normal, würd' ich sagen. Clara: Ein Vorteil war ja sicherlich auch, daß Du keine schwarze Frau bist, sondern 'ne weiße... Jutta: Ja, das war mir ziemlich schnell klar, weil ich auf der Straße schon gesehen hab', daß Leute, egal ob Männer oder Frauen, mit schwarzer Hautfarbe angehalten werden und wesentlich öfter in Konfliktsituationen gestanden haben - in die ich mich dann aber nicht eingemischt habe. Das ist mir sehr schwer gefallen, dieses Gefühl, mich nicht einmischen zu können, weil ich dann nachher vielleicht in einer Situation steh', die ich nicht überblicken und die für mich einfach relativ gefährlich werden kann. Ich bin nie angehalten und nach Personalien gefragt worden, sondern im Prinzip als Inländerin angesehen worden, außer, die Leute haben mich angesprochen - dann war ziemlich schnell klar, daß ich es nicht bin. Das war auch noch mal 'n ziemlich großer Teil, mit dem ich mich beschäftigt hab': Das Land, in dem ich war, wollt' ich auch kennenlernen, weil ich auch 'nen Zugang zu dem Land kriegen wollte, Ansatzpunkte finden wollte dafür, was mich eigentlich politisch an dem Land interessiert. Weil ich nicht im Kopf hatte, da zu sein und Politik für hier zu machen. Sondern wenn ich da bin, dann mach' ich da Politik, denn dann werde ich da leben - alles andere wär' mir auch unsinnig erschienen. Das hätt' ich alleine machen müssen, und das wollte ich einfach nicht. Ich hab' Bücher über das Land gelesen - dann auch in der Sprache, um die Sprache zu lernen. Dann hab' ich Unterricht genommen, damit das alles 'n bißchen schneller geht, Zeitung zu lesen, Nachrichten zu gucken ... Das war 'ne ganz gute Beschäftigung, das fand ich auch ziemlich interessant, mir 'n bißchen zu erarbeiten, was ähnlich zu hier ist, was eindeutig Unterschiede sind, warum es diese Unterschiede gibt - vieles resultiert dann ja auch aus der Geschichte von 'nem Land. das ist aber auch viel in Gesprächen gelaufen: Ich hab' ganz viele Sachen nachgefragt, hab' mir viel erzählen lassen. kassiber: Ich wollte noch mal auf einen Punkt zurückkommen: Freundinnen und Genossinnen von Dir hatten in einem Offenen Brief beschrieben, daß "Beziehungen, Freundinnenschaften und Kontakte von der Präsenz" leben, und daß über den "momentanen Verlust" durch Deine Abwesenheit quasi ein "Dauerverlust" droht ... Jutta: Am Anfang hab' ich gedacht, und das war auch dieses Schmerzhafte daran, daß damit einfach ganz viele Beziehungen unterbrochen oder vielleicht auch zu Ende sind. Damit hatte ich 'nen relativen Abstand zu hier. Also für mich wär' das auch total schwierig gewesen, an Bremen zu klammern, weil ich mich dann einfach auch auf nichts anderes hätte einlassen wollen oder können. Das ganze ist ja dann, nach knapp 'nem halben Jahr, ein bißchen gekippt: Dadurch, daß die vier aus dem Knast 'rausgekommen sind, gab es so eine Entwicklung, die 'ne Lücke aufgemacht hat, also 'ne Möglichkeit, mit 'nem bestimmten Risiko zurückkommen zu können. Da hat das auch bei mir eingesetzt, daß ich mich gedanklich wieder mit hier verbunden gefühlt habe - einfach dadurch, daß es sein könnte, daß ich zurückkommen kann. Das hat schon ziemlich viel ausgelöst - das wurde wieder viel präsenter. Ich hab' dann im letzten halben Jahr von da langsam Abschied genommen. Das war dann auch schon so, daß ich gedacht hab', daß hier meine politische Perspektive liegt. Ich könnte sie mir irgendwo anders aufbauen, aber hier weiß ich, daß sie da ist - das ist ja noch mal 'n Unterschied. Aber, so 'n Jahr weg zu sein ..., im Moment hab' ich den Eindruck, ich komm' zurück und fang' schon überall 'n bißchen neu an. aber das war jetzt nicht so lange, daß sich das kaum überbrücken läßt - so ist es nicht. Clara: Das hört sich jetzt so relativ bruchlos an ... Ich kann mir vorstellen, daß da schon auch ziemlich widersprüchliche Gefühle und Überlegungen 'bei waren, daß das auch 'ne ziemliche Zerreißprobe war, seine Gedanken so weit wegzuschicken - und dann wieder zurückzuholen ... Kannst Du den Prozeß vielleicht 'n bißchen genauer beschreiben? Jutta: Ich hatte schon, wenn ich das jetzt als Zeitraum beschreiben würde, vielleicht drei Monate gebraucht. Also erstmal dieser Anfangsgedanke, daß ich das überhaupt zugelassen hab', daß es evtl. eine Möglichkeit gibt zurückzukommen, das hat mich wirklich ..., das war schon euphorisch. Vielleicht hab' ich das ein bißchen abgedeckelt, weil es mir zu schmerzhaft gewesen wäre, immer wieder davon Abstand nehmen zu müssen, mich immer wieder davon verabschieden zu müssen, weil ich den Eindruck hatte: Es geht - vielleicht - einfach auch nicht. Und das war schon ..., das fand ich schon klasse, was sich da in mir bewegt hat, wie explosionsartig ich gedacht hab': "Mensch, diese Chance ist vielleicht da" - aber dann war ich schon auch hin und her gerissen. Was ich 'nen ziemlich Vorteil in der Situation fand, war genug Zeit zu haben, dieses Hin und Her und diese Widersprüchlichkeit mitzumachen. Das ist manchmal so gewesen, daß ich mich am Tag 24mal umentschieden hab' und gedacht hab': "Ja, ich geh' jetzt zurück", und irgendwie 'ne Stunde später hab' ich gedacht: "So 'n Quatsch, Du gehst nicht zurück" - denn auch das Abtauchen hat 'ne Perspektive und das ist keine schlechte. Dann hab' ich das mit den Leuten, die mich betreut haben, beredet, die ich im übrigen total großartig fand. kassiber: Hattest Du denn von der öffentlichen Soliarbeit zu den Verfahren im Zusammenhang mit dem 13.6.95 was mitbekommen? Also von der öffentlichen Soliarbeit? Jutta: Ich hatte schon Zugang zu den Publikationen. Und es gab ja dann auch eine eigene Zeitung für das Verfahren, die "radikalen Zeiten", wobei natürlich in anderen Zeitungen auch immer wieder Sachen dazu drin waren. Das hab' ich schon mitgekriegt, das hab' ich dann natürlich auch immer gelesen. Das ist auch ganz wichtig, denk' ich, daß es so was gibt, damit du wenigstens die Chance hast, das mitzukriegen, was läuft oder was an Soliarbeit passiert, sonst biste wirklich ganz abgeschnitten und weißt ja überhaupt nicht mehr, was passiert. kassiber: Clara und Xenia, Ihr beide seid Teile dieser Solistruktur aus Frauen/Lesbenzusammenhängen ... Könnt Ihr mal grob skizzieren, was Ihr so gemacht habt in den vergangenen 14 Monaten? Clara: Am Anfang war die Situation hier ja auch sehr konfus: Niemand wußte genau, was die Vorwürfe sind, in welchen Städten was passiert ist, was mit den Leuten ist, die 'n Verfahren haben oder die im Knast sitzen. Dann gab's 'n ziemlich großes FrauenLesben-Plenum, wo wir angefangen haben, darüber zu reden und erstmal zu sortieren, was überhaupt passiert ist - und auch angefangen haben, zu reden, inwieweit das unsere Szene betrifft: Also, was ist mit dem Frauen-Buchladen und der Therapie-Praxis, oder was ist mit Jutta und den anderen Frauen, die Verfahren haben - parallel zu diesem gesamten Zusammenhang. Dann hamm wir ziemlich bald angefangen, über das Projekt "radikal" zu diskutieren, über Widerstand, über Militanz - immer in Hinblick darauf, vielleicht was dazu zu veröffentlichen, um so 'ne Diskussion anzufangen oder weiterzuführen. Dann gab's 'ne Infoveranstaltung, also wir hamm immer versucht, auch öffentliche Arbeit zu machen, nach außen zu gehen - grad noch mal in der Situation -, und gleichzeitig auch im eigenen Rahmen zu gucken, die Sachen zu sortieren: Also Anwaltskontakte aufnehmen und sich um diese ganzen rechtlichen Geschichten zu kümmern usw. usf. Das war so ungefähr das erste halbe Jahr. Xenia: Was uns eben auch wichtig war, war möglichst viel nach außen zu bringen, in irgend'ner Form Sachen zu veröffentlichen, seien's Artikel, seien's Grüße, seien's Thesen oder auch dieser "Brief ins Exil" an Jutta, weil wir davon ausgegangen sind, daß, wenn das in mehreren Zeitungen oder Zeitschriften veröffentlicht wird, sie irgendwann was davon mitkriegt. Das ist 'n Schwerpunkt in dem letzten halben Jahr der Solibewegung gewesen, den - soweit es unter diesen total beschissenen Bedingungen geht -, Kontakt zu den Abgetauchten aufzunehmen, also deutlich zu machen: "Ihr seid hier noch in unseren Köpfen und Herzen und wir vermissen Euch als FreundInnen, als KampfgefährtInnen oder Genossinnen und Genossen! Wir finden, daß Ihr hierher zurückkommen können müßt, wenn Ihr das wollt." Und unsere Aufgabe als Solibewegung, die wir halt hier sind und hier politisch arbeiten, ist es, die Bedingungen soweit wie möglich dafür zu schaffen, soweit es eben geht, 'ne Diskussion mit den Abgetauchten herzustellen, wo wir uns eben überlegt hatten: Wenn überhaupt, dann geht das über Offene Briefe, wo du welche - in Zeitungen veröffentlicht - anschreibst, und die die Möglichkeit haben, auf demselben Wege zu antworten. Denn es war ja schon so, daß wir auch viele Fragen an die Abgetauchten, daß wir 'n Auseinandersetzungsbedürfnis hatten. Das ist uns im letzten halben Jahr erst richtig klar geworden: Da müssen wir mehr machen und da hätten ..., auch wir haben da relativ spät was ... Das war natürlich auch bei uns 'n Prozeß, diesen Automatismus des Vergessens oder Verschwindens aufzubrechen, zu sagen: "Halt! Nee! Stop! Wir lassen uns die Leute nicht wegnehmen!" Ich finde auch, daß mehr hätte laufen können und müssen - auch von uns aus. Und es muß auch in Zukunft mehr laufen, denn immerhin ist es ja so, daß nicht alle zurück sind, sondern Matthes abgetaucht ist. Ich sehe es nach wie vor als Aufgabe der Solibewegung an, Bedingungen zu schaffen, daß er zurückkommen kann, wenn er das will. (Quelle: kassiber 29, September 1996) Teil II
zurück zur rubrik zum anfang dieser seite zur nächsten seite


kombo(p) | kombo@riffraff.ohz.north.de | 20.02.1999