Der Spiegel 43/87

"Resignation macht sich breit"

Polizeiexperten der Länder plädieren für einen liberaleren Umgang mit Demonstranten

Karikatur

Nach Polizeieinsätzen In Wackersdorf, Brokdorf und Hamburg haben Gewalt und Gewaltbereitschaft bei Demonstrationen zugenommen. Während Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann und die CDU/CSU-Fraktion für mehr Staatsmacht und ein Vermummungsverbot eintreten, suchen Polizeipraktiker nach Formen der Verständigung mit Demonstranten. In einem Erfahrungsbericht über "Polizeieinsätze bei Grossdemonstrationen" plädiert ein Arbeitsstab der Länder- Innenministerkonferenz für mehr Liberalität. Auszüge:

Viele junge Menschen haben offenbar den Eindruck, dass der Staat die Anliegen der Bürger nicht ernst genug nimmt oder ihnen zumindest nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit nachgeht. Diese Einschätzung scheint von einem Lebensgefühl der Angst und der Ohnmacht nicht nur gegenüber den staatlichen Instanzen, sondern auch im Hinblick auf die eigene persönliche Lebensperspektive begleitet zu sein.

Demgegenüber scheint ein anderer, vielleicht grösserer Teil - auch der jüngeren Bevölkerung - durchaus optimistisch in die Zukunft zu schauen und sich gut in den Staat integriert zu fühlen.

Das Phänomen der Polarisierung ist ausserordentlich besorgniserregend. Es steht zu befürchten, dass sich aus den schlecht integrierten Bevölkerungsgruppen ein dauerhaftes Protest- und Gewaltpotential entwickelt. Wenn es dem Staat nicht gelingt, auch zu diesen Bevölkerungsteilen eine Beziehung herzustellen und ihnen seine sozial sinnvolle Funktion deutlich zu machen, droht die Gefahr einer unüberwindlichen Kluft zu diesen Bürgern.

Der Aufbau von Feindbildern wird begünstigt durch die nicht genügend entwickelte Fähigkeit der Polizei, den Demonstranten ihren Auftrag verständlich zu machen. Während die Demonstranten stets die Möglichkeit nutzen, ihr Anliegen durch Gespräche, Lautsprecher, Flugblätter, Transparente und anderes vorzutragen, bleibt die Polizei in dieser Hinsicht passiv.

Die Polizei sollte prüfen, ob sie sich der gleichen Kommunikationsmedien bedienen kann. Der Wunsch, Auseinandersetzungen zu vermeiden, muss den Demonstranten deutlich ins Auge fallen.

Die Polizei ist es nicht gewohnt. ihre eigenen Anliegen psychologisch wirksam vorzutragen und gegen den Wall der negativen Vorurteile anzugehen. Für den aussenstehenden Beobachter wirkt sie fast sprachlos.

Für die betroffenen Beamten hat das im Einsatzgeschehen gravierende Folgen. Infolge der fehlenden Handlungsmöglichkeiten bleibt ihnen nur passives Erdulden. Sie können nur starr in ihren Formationen ausharren und alles stumm über sich ergehen lassen, auch dann. wenn es sich um Pöbeleien, Beschimpfungen oder andere Herabwürdigungen handelt.

Im normalen Lebensalltag würde eine solche Verhaltensweise als Opferhaltung charakterisiert werden. Dieser Zustand ist für die Beamten ausserordentlich belastend. Als Möglichkeit bleibt ihnen unter den derzeitigen Bedingungen nur das Warten auf die Gelegenheit zur Anwendung unmittelbaren Zwanges. Das aber birgt die Gefahr von Überreaktionen und Fehlhandlungen.

Die extremen, an Gewalttätigkeiten interessierten Gruppen kennen die oben beschriebenen Effekte. ihr Ziel muss es ja sein, ihre prinzipiell nur schmale Basis in der Bevölkerung zu verbreitern und Solidarisierungseffekte zwischen der "Normalbevölkerung" und ihren extremen Auffassungen zu erreichen.

Dazu brauchen sie spektakuläre Einzelereignisse. anhand derer sie ihre These von der brutalen Polizei und der Unterdrückung durch den Staat belegen können. Die Störer sind deshalb an einer möglichst hart vorgehenden Polizei interessiert und versuchen auch. die Polizei zu einem entsprechenden Verhalten zu provozieren.

Die Umsetzung dieser Taktik ist für die extremen Gruppen unter den derzeitigen Bedingungen relativ einfach. Wenn es ihnen gelingt. die Polizei zu einem massiven Vorgehen zu veranlassen, um die Straftäter festzunehmen, werden in der Unüberschaubarkeit der Situation häufig auch Unbeteiligte von den Einsatzmassnahmen mit erfasst. Das wirkt für die Betroffenen traumatisierend.

Aber auch die übrigen Demonstranten, die die Hintergründe der Ereignisse meist nicht überblicken können und darüber auch nicht informiert sind, werden durch das Erleben des von der Polizei ausgeübten unmittelbaren Zwangs nachhaltig geprägt.

Sie empfinden das Geschehen als brutal und unangemessen. Ihre bereits vorhandene Grundstimmung des Protests scheint sich als richtig zu bestätigen. Wut, Trauer, Hass und Verzweiflung breiten sich unter ihnen aus. Im Ergebnis zählt damit neben den Polizeibeamten auch das Gros der Demonstranten zu den Opfern des Geschehens.

Die Taktik der extremen Gruppen dagegen hat sich bewährt. Die Polizei hat sich in der gewünschten Weise verhalten und ist damit - ungewollt - zum Helfer der Störerstrategie geworden. Der Demonstrationsverlauf scheint die Richtigkeit der Thesen der Störer zu bestätigen. Der geplante Solidarisierungseffekt wird ihnen neue Anhänger zutreiben. Die extremen Gruppen sind die eigentlichen Sieger des Geschehens.

Den extremen Gruppen fällt die Umsetzung ihrer Strategie um so leichter, als die polizeiliche Einsatzplanung für diese Taktiken anfällig ist. Die Polizei konzentriert sich bei ihrer Einsatzplanung im wesentlichen auf die Beherrschung des zu erwartenden Störerpotentials.

Sie gerät dadurch in die Gefahr eines nur reaktiv geprägten, defensiven, letztlich von den Störern nahezu kontrollierten Denkens. Die unzureichende Fähigkeit der Polizei, der psychologisch arbeitenden Strategie der Störer ein eigenes, die Wirkungsmechanismen dieser Strategie durchkreuzendes Konzept zur Gewaltverhinderung entgegenzusetzen, findet hier eine ihrer Erklärungen.

Die motivatorischen Auswirkungen dieser Situation auf die Beamten sind ausserordentlich ungünstig. Zweifel am Sinn des eigenen Auftrages stellen sich ein, Resignation macht sich breit. Zudem stossen die Beamten sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Privatleben häufig auf nicht genügend Verständnis für ihre Nöte. Die Belastungen steigen mit zunehmender Zahl und Dauer der Grosseinsätze. Viele Beamte beklagen körperliche und seelische Erschöpfungszustände und den Verlust an Freizeit. Sie geben an, dass dadurch ihre Bereitschaft, selbst aggressiv und unangemessen hart zu reagieren, erheblich gesteigert wird.

Auf der Ausbildungsebene scheinen psychologische Ausbildungsinhalte und -probleme immer noch vernachlässigt zu werden. Viele Beamte fühlen sich auf die Grosslagenproblematik nur ungenügend vorbereitet. Die Ausbildungsinhalte sind möglicherweise zu sehr auf juristisches und formaltaktisches Denken fixiert.

Im Bereich der Aus- und Fortbildung ist mehr Gewicht auf Inhalte zu legen, die zu einer schonenden Konfliktbewältigung auch in spannungsgeladenen Situationen befähigen. Die personale Handlungskompetenz des einzelnen Beamten muss gesteigert werden. Im einzelnen können dazu gehören: Verhaltenstraining zur Konfliktbewältigung, Kommunikationstraining, Programme zur Einübung schonender Eingriffstechniken in Verbindung mit Schiessausbildung, Einsatzlehre, Eigensicherung sowie dem Eingriffsrecht.

Das Ziel, die Gewalttäter zu isolieren, kann erreicht werden, wenn diejenigen, die ihr Grundrecht friedlich ausüben wollen, wieder zur Mitwirkung gebracht werden. Dazu sind erforderlich:

Dabei kommt es nicht auf die Geschicklichkeit der Diskussion an, allein die Tatsache des Gesprächs an sich wirkt schon deeskalierend.

Es darf nicht überraschen werden, dass es unter den Demonstranten viele junge Menschen gibt, die ein Recht darauf haben, dass ihre Anliegen ernst genommen und gehört werden. Es kommt darauf an, das Gespräch zu diesen Bevölkerungsgruppen aufzunehmen, Feindbilder abzubauen und Verständigung zu suchen, um ein Abgleiten dieser Personengruppen in den Kreis der Gewalttäter zu verhindern.

Aus inhaltlicher Sicht sollte die Polizei ihren Auftrag so darstellen, dass er aus der Denk- und Vorstellungswelt der Demonstranten heraus begriffen wird. Die Polizei sollte sich deshalb nicht primär auf formaljuristische Positionen zurückziehen.

Die Polizei muss dann aber auch zeigen, dass sie bereit ist, denjenigen, die Gewalt in eine Demonstration hineintragen wollen, entschlossen entgegenzutreten. Sie muss das Vorgehen der Extremen als das entlarven, was es ist, nämlich als zynisch, brutal, egoistisch und verantwortungslos. Es mag trivial erscheinen, immer wieder auf solche Grundtatsachen hinzuweisen. Aber bei dem schwindenden Rechtsverständnis, der geringen Informationsbasis vieler Jugendlicher und der enormen Spannung einer Grossdemonstration geraten selbst einfache Fakten schnell in Vergessenheit.

Für bestimmte von massiven gewalttätigen Aktionen begleitete Grossdemonstrationen reichen die derzeitigen polizeilichen Mittel nicht aus. Auch eine noch weitere Verbesserung polizeilicher Einsatztaktik allein wird keinen durchschlagenden Erfolg bringen. Ebenso wird auch eine blosse Verschärfung bestimmter Straftatbestände keine nennenswerte Verbesserung der Gesamtsituation nach sich ziehen.

aus: das blaulicht, Aktuelle Informationen des Polizeipräsidiums Niederbayern/ Oberpfalz, Herbst/ Winter 1987

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