Die Polizei, 10/87
Die Vorstellung polizeilicher Leitlinien für den Demonstrationseinsatz macht notwendig, den Standort meiner Argumentation zu skizzieren. Das verringert die Gefahr von Missverständnissen. Dies um so mehr, als ich kein geschlossenes Konzept anbiete, sondern nur einige Akzente setzen werde.
Hinzu kommt, dass die Vorbemerkungen gesellschaftliche und politische Bedingungen aufzeigen, die unsere Tätigkeit prägen und - so wie sie sind - von dem einen oder anderen beklagt werden.
Dieser Sicht entstammt das Zitat vom Polizisten als "Prügelknaben der Nation".
Nach der vom Bundesminister des Innern veröffentlichten Statistik über die Entwicklung der Demonstrationslage insgesamt und der im Zusammenhang mit Demonstrationen begangenen strafbaren Handlungen belief sich die Gesamtzahl aller Demonstrationen im Bundesgebiet (einschliesslich Berlin- West) im Jahre 1986 auf 7.143. Sie lag damit um rd. 20 % über der Zahl des Jahres 1985 (5.691).
Unfriedlich verlaufen sind davon im Jahr 1986 insgesamt 261 Demonstrationen im Vergleich zu 207 im Jahre 1985. Folglich ist mit 26,08 % eine merklich ansteigende Tendenz zur Unfriedlichkeit festzustellen. Dennoch könnten - rein statistisch betrachtet - Gesellschaft, Politik und Polizei mit dem Ergebnis eigentlich recht zufrieden sein, denn aus der Gesamtzahl aller Demonstrationen verlaufen -"nur" 3,65 % unfriedlich. Diese rein statistische Betrachtungsweise ist selbstverständlich falsch. Das nur scheinbar günstige Bild verschlechtert sich sofort, wenn wir die aktuelle "Demonstrationspraxis" analysiert. Es sind nicht die zahlreichen kleinen Veranstaltungen unterschiedlichster politischer und gesellschaftlicher Gruppierungen, die die Innere Sicherheit gefährden und damit die Polizeifoni@ es sind die schwer einschätzbaren und schwierig zu beurteilenden Gross- und Massendemonstrationen mit gewalttätigen Aktionen gekennzeichnet durch Kleingruppentaktik, bei gleichzeitig grosser Publizität. Insbesondere die Zahl der bei Demonstrationseinsätzen verletzten Polizeibeamten ist besorgniserregend! Sie ist von 139 bei Demonstrationseinsätzen verletzten Polizeibeamten im Jahre 1984 über 237 im Jahr 1985 auf 818 im vergangenen Jahr gestiegen. Dies ist auch "Demonstrationsrealität". Diese Zahlen verdeutlichen die gefährliche Brutalität eines nach bisherigen Erkenntnissen stetig wachsenden Potentials krimineller Gewalttäter. "Demonstrationsrealität" ist aber leider auch die Tatsache, dass friedlich verlaufene Grossveranstaltungen in den Medien nur vergleichsweise geringe Beachtung finden. Die Sitzblockade - beispielsweise - einer Handvoll Protestierender vor einer US- Kaserne gelangt via Bildschirm und wirkungsvoll gezoomt in die Wohnzimmer der Bundesbürger. Ebenso der Polizeieinsatz gegen einzelne Gewalttäter, auch er wird in den Medien breit und ausführlich berichtet. Das ist die Realität der Informationsvermittlung. Wir müssen bei den Medien um tendenzfreie Sachlichkeit werben und dieses Bemühen durch verbesserte Öffentlichkeitsarbeit und jeweils aktuelle eigene Informationen unterstützen. Dennoch wird eine Änderung nicht leicht sein.
In diesem Zusammenhang ist das Ergebnis einer EMNID- Umfrage über das Verhalten der Polizei bei Demonstrationen von Bedeutung. Der Untersuchung liegt eine Befragung zugrunde, die vom 20. 11. bis 7.12.1986 mit einer Repräsentativgruppe von über 2.000 Personen im Alter ab 14 Jahren im Bundesgebiet und in West-Berlin durchgeführt wurde.
Nach der Beurteilung des Verhaltens der Polizei bei Demonstrationseinsätzen befragt, sind 35 % der Ansicht, dass sich die Polizei "angemessen" verhält. Gut ebensoviele (37%) sagen jedoch, dass die Polizei "manchmal die Grenzen überschreite". Weitere 18 % halten die Polizei für "zu rücksichtsvoll", während % das Vorgehen der Polizei in der Regel als "zu rücksichtslos" bewerten.
Ähnliche Umfragen hatte das EMNID- Institut bereits 1976 und 1967 durchgeführt. Dabei sind folgende Veränderungen im Zeitablauf feststellbar:
1967 |
1976 |
1986 |
|
nimmt zuviel Rücksicht |
13 |
26 |
18 |
verhält sich angemessen |
44 |
44 |
35 |
überschreitet manchmal die Grenzen |
27 |
24 |
37 |
geht in der Regel zu rücksichtslos vor |
4 |
6 |
8 |
keine Angabe |
14 |
1 |
1 |
Ich werde später noch einmal auf diese Umfrage zurückkommen. Mir scheint dieses Meinungsbild zu verdeutlichen, dass der Bürger im Jahre 1986 das Verhalten der Polizei bei Demonstrationen viel kritischer und sensibler beurteilt. Die Polizei kann mit diesem Ergebnis nicht zufrieden sein und muss in ihm eine Aufforderung zu verstärkter taktischer Öffentlichkeitsarbeit sehen.
Inwieweit sich die Medienberichterstattung über die Polizeieinsätze in Brokdorf, Wackersdorf und Hamburg (hier insbesondere über den sogenannten "Hamburger Kessel") zusätzlich negativ ausgewirkt hat, kann nur vermutet werden. Zu einem besseren Image der Polizei hat sie offensichtlich nicht beigetragen. Diese Aussage soll keineswegs eine Bewertung dieser Polizeieinsätze beinhalten, sie ist lediglich der Versuch, ihre Resonanz in der Öffentlichkeit und mögliche statistische Auswirkungen darzustellen.
Es wäre müssig und praxisfremd, wenn ich Betrachtungen darüber anstellen wollte, ob die Darstellung polizeilicher Massnahmen - insbesondere hinsichtlich der Anwendung unmittelbaren Zwanges - so erfolgen könnte, dass daraus der Polizei auch noch zusätzliche Sympathien erwachsen: es sei denn "in der Opferrolle" der "Beschimpften und Verdroschenen", eben - wie eingangs erwähnt - als "Prügelknaben der Nation".
Im übrigen bewerte ich es positiv, dass hierzulande die Darstellung gewaltsamer Auseinandersetzungen überwiegend negative Assoziationen und Ablehnung auslöst.
Bedauerlich bleibt, dass sich in der Berichterstattung der Medien häufig die Akzente des realen Geschehens verschieben. Der in seiner Schutzausrüstung verborgene Polizeibeamte erscheint stumm, abweisend und gewalttätig bedrohlich; nicht so der flinke "Turnschuh- Robin- Hood", der tatsächlich gewalttätig ist.
Da zeigt sich zumindest Ungenauigkeit und Ungleichgewichtigkeit in der Berichterstattung, die das tatsächliche Verhältnis von Ursache und Wirkung undeutlich werden lässt. Die Polizeiführung ist an dieser negativen Entwicklung nicht unbeteiligt.
Ich habe aufgezeigt, dass die aktuelle Umfrage auf eine sehr sensible und auch kritische Betrachtung des Demonstrationsgeschehens durch die Befragten schliessen lässt. Dabei hat sich nicht plötzlich die Kritikfähigkeit der Befragten erhöht, vielmehr dürften die Massstäbe, die an polizeiliches Handeln gelegt werden und die Erwartungshaltung strenger geworden sein. Wir werden uns also - wie andere Berufe vor uns - darauf einzustellen haben, den externen Erwartungshorizont in die Gestaltung unserer Arbeit vermehrt einzubeziehen. Das berührt entscheidend auch das Anforderungsprofil für den Polizeiführer des Jahres 2000; dieses Profil wird nicht durch eine noch so ambitionierte Selbstanalyse und Fortschreibung des status quo erreicht werden, sondern erfordert die zusätzliche verstärkte Einbeziehung der in bezug auf unsere "Rolle als Polizei in der Gesellschaft" gehegten Erwartungen und Wertungen. Nur mittels einer derartigen Fortschreibung sind auch die hier aufgezeigten taktischen und gesellschaftspolitischen Probleme der Polizei dauerhaft und wirkungsvoll zu lösen.
Deshalb halte ich auch die häufig gestellte Frage, ob nicht der Polizei von Gesellschaft und Politik eine Dissenzbereinigung zugemutet werde, die vielmehr im gesellschaftlichen und politischen Bereich zu erfolgen habe, für nicht hilfreich und weiterführend. Die Frage stellt sich so nicht, es kann doch immer nur die Frage nach zuviel weitergegebenem, nicht aufgelöstem Konflikt sein. Das ist allemal eine Frage, nach dem noch hinnehmbarem Quantum an Dissenz und nicht die Frage nach der Utopie völligen Konsenses. jenseits dieser wichtigen, aber eben immer nur graduellen Abstufung wird es immer Aufgabe der Polizei sein und bleiben, im Interesse der Wahrung öffentlicher Sicherheit und Ordnung tätig zu werden, wenn Konsens oder Duldung nicht erreicht worden ist und damit von den verfassungsmässigen Regeln der Meinungsdarstellung abgewichen wird, wenn also gewalttätig provoziert und eben nicht verfassungsgemäss demonstriert wird.
Bei diesem Lagebild ist es unser Auftrag, mit den derzeit aktuellsten Massnahmen und Mitteln die rechtlich, strategisch, taktisch und organisatorisch wirkungsvollste Führungs- und Einsatzkonzeption zu planen und anzuwenden, die die verfassungskonforme Wahrnehmung der Polizeiaufgaben sicherstellt und gegenüber einer kritischen und sensibilisierten Öffentlichkeit überzeugend standhält.
Es ist richtig, dass - reisende Gewalttäter im Demonstrationsgeschehen ausgeklammert - Teile unserer Mitbürger sich Fragen und Zukunftsproblemen zuwenden, die in anderen Ländern so noch gar nicht fraglich geworden sind. Trotz dieser Sensibilisierung, Kritik- und Protestbereitschaft geniesst die Regierung infolge der stabilen politischen Mehrheiten, unserer Wirtschaftskraft und der sozialen Leistungen das Vertrauen und die Zustimmung der überwältigenden Mehrheit der Bürger. Dabei haben die Grundrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit elementaren Verfassungsrang und zählen zu den herausragenden und ehrwürdigen Grundpfeilern unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung.
Spätestens seit Beginn der Studentenunruhen vor nunmehr 20 Jahren gehört es zum gewohnten Bild, dass Bürger aus unterschiedlichster Intention zur Durchsetzung ihrer - auch politischen - Vorstellungen nicht mehr nur dem Weg über die parlamentarischen Institutionen vertrauen, sondern ihre Meinung, ihren Protest, ihren Widerstand in die Öffentlichkeit, auf die Strasse tragen.
Die Vielzahl der aus verschiedensten Anlässen gegründeten Bürgerinitiativen zeigt, dass Bürger sich in dem einen oder anderen Fall von der Politik nicht mehr vertreten oder verstanden glauben, oder dass sie meinen, einen von der Politik noch nicht gesehenen politischen Handlungs- oder Entscheidungsbedarf aktivieren zu müssen.
Oder:
Die Aufzählung liesse sich beliebig fortsetzen, gleich bleibt: Jeder dieser Begriffe steht für Protest, ob friedlich oder gewalttätig; mit beiden haben wir uns auseinanderzusetzen. Es gibt immer wieder - trotz aufwendiger logistischer und propagandistischer Zwänge - ein breites Spektrum, das sich auf den "gemeinsamen (kleinen) Nenner" des Protestes einigt und auch nach entsprechenden "Beschleunigern" wie z. B. Tschernobyl, Sandoz- Basel oder "Pariser Polizeieinsatz" und "Hamburger Kessel" international und mit Anschluss- und Folge-, Sympathie- oder Protestaktionen "spontan" zu reagieren in der Lage ist.
Dabei zeigt sich, dass besonders die Jugend, ungeduldig, idealistisch, begeisterungsfähig und beeinflussbar, schneller zu Protest als zu tätiger Veränderung bereit ist. Die Thematik reicht von der Bedrohung der Umwelt durch Kernenergie, chemische Industrie und Grossanlagenbau (Strassen, Flugplätze, Industriebetriebe), über Bedrohung des Weltfriedens durch weltweite nukleare Auf- und Nachrüstung, bis hin zu den verschiedensten Formen wirklichen oder vermeintlichen Unrechts. Sie reklamiert angebliche Unfreiheit hier oder im Ausland.
Gegenstand sind Reizthemen wie:
der Bau von Kernenergieanlagen in Wackersdorf und Brokdorf,
das Flughafenprojekt der Startbahn- West in Frankfurt, die Stationierung von Waffensystemen in Mutlangen, Hasselbach oder Ramstein,
"Dritte- Welt- Probleme" in Chile, Nicaragua, Südafrika,
Polizei - die Ebene der Ausführung allemal unmittelbarer und ungeschützter als die der Führung - hat sich - stets konkret mit dem auseinanderzusetzen, was tatsächlich ist, sie kann sich nicht beschwichtigen mit dem, was eigentlich sein sollte. Von ihr sind unverzüglich konkrete, lageangepasste Massnahmen verlangt! Das berechtigt, dass wir von allen gesellschaftlich bedeutsamen Kräften deren legitimen, damit aber auch zumutbaren Beitrag zur Konfliktbewältigung einfordern, der darin besteht, der Polizei keine oder nur möglichst geringe "Konfliktreste" zur "Betreuung"- zu überlassen. Zusätzlich sei daran erinnert, dass wir hier über die Verhinderung von Gewalttätigkeiten durch an sich bisher rechtstreue - wenn auch in aller Regel dem Staat kritisch gegenüberstehende - vorwiegend junge Bürger in Ausnahmesituationen bei Demonstrationen sprechen und nicht nur von reisenden Gewalttätern.
Tatsache ist doch, dass ein kleiner, aber nicht unbeachtlicher Teil unserer Mitbürger offenbar geneigt ist, eigene Vorstellungen - "Befindlichkeiten" - höher zu bewerten, als demokratische Regeln beim Umgang mit Andersdenkenden im Prozess der Meinungsbildung. Natürlich begegnet uns hier auch wieder der sich selbst überschätzende Subjektivismus und moralische Rigorismus deutscher Provenienz.
Zunächst möchte ich die Konsequenzen aus dem bisher umrissenen gesellschaftspolitischen Spannungsfeld - ausschliesslich darum geht es und nicht um die objektive Richtigkeit jeweiliger Sachargumente oder ideologischer Positionen mit einigen Sätzen verfassungsrechtlich verdeutlichen. jenseits der für uns selbstverständlichen Unantastbarkeit der Grundrechte in den Artikeln 2, 5 und 8 des Grundgesetzes (GG), die für polizeiliches Handeln von essentielles Bedeutung sind, besteht die Schwierigkeit doch darin, dass einem Teil unserer Mitbürger die Akzeptanz des in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG niedergelegten Prinzips repräsentativer Demokratie abhanden gekommen, mindestens aber als zu umständlich und zu langwierig zweifelhaft geworden ist.
Aber es ist doch aus guten Gründen, und aus einer schweren Geschichte erlernt, so, dass die repräsentative Demokratie sich charakterisiert als wertgebundene Entscheidung dafür dass die vom Volke eingesetzten und in seinem Namen handelnden Staatsorgane bei ihren konkreten Entscheidungen verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht an den jeweils feststellbaren aktuellen Volkswillen gebunden sind. Das ist eine der Voraussetzungen für die Kontinuität und Unabhängigkeit politischen Handelns. Um so mehr als sich hochdifferenzierte Entscheidungen mangels hinreichender Detailinformation immer mehr plebiszitärer Beteiligung entziehen.
Aus diesem Grunde bestimmt Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, dass die Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes, an Weisungen und Aufträge nicht gebunden, nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Das repräsentative Prinzip statuiert damit eine zusätzliche erhebliche Freiheit der politischen Entscheidungsorgane gegenüber dem Volkswillen. Nimmt man das Mehrheitsprinzip unseres Wahlrechts hinzu, dann ist für eine wechselnde Zahl von Bürgern eine Kluft zwischen eigenem und staatlichem politischem Wollen zu ertragen.
Das ist von der Verfassung in unserem gemeinsamen Interesse so gewollt. Sie verweist denjenigen, der sich nicht vertreten fühlt, auf die Revozierbarkeit seines Wählerauftrages bei zukünftigen Wahlen, auf die Einschaltung von Interessenverbänden, Medien oder Bürgerinitiativen - um nur einige Mechanismen "demokratischer Rückbindung" zu nennen -, um sein Wollen, wenn auch nicht mehrheitsfähig, so doch gewichtiger zu machen.
Viele, die Umwelt, Frieden, eigene oder fremde Freiheit bedroht und gefährdet meinen, sind aber der Auffassung, den langwierigen, von der Verfassung gewollten Ausgleichsprozess sich widerstreitender Interessen nicht hinnehmen zu können. Gerade jüngeren Menschen vermittelt er ein Gefühl der Ohnmacht; einer Ohnmacht, aus der Angst und Aggression erwachsen. Eine Aggression, die sich gegen den Staat, seine Institutionen, besonders aber gegen die Polizei als konkret angreifbaren Repräsentanten staatlicher Macht richtet. Diesen Widerspruch vermag die Polizei nicht aufzulösen, sie muss aber alles tun, um sich der Identifikation mit Entscheidungen zu entziehen, die von Teilen der Bevölkerung nicht akzeptiert werden. Nur so kann sie ihrem Auftrag und ihrer Rolle in einem emotional möglichst neutralen Umfeld gerecht werden.
Es ist ferner notwendig, dass wir uns mit unserer Selbstdarstellung an die wenden, die erreichbar oder noch erreichbar sind. Wir müssen die Sprache als "Einsatzmittel" der Polizei "wiederentdecken". Dabei dürfen wir uns nicht von einer kleinen Minderheit vorwiegend junger Menschen entmutigen lassen, die die bestehenden Verhältnisse radikal negativ interpretieren und die Utopie einer vollkommenen Zukunft in einer glücklich befriedeten, gewaltfreien Welt durch gewalttätige Zerstörung des Bestehenden erreichen wollen.
Ich füge dieser Lagebeschreibung schon im Vorgriff den Hinweis an, dass ich es sehr wohl für notwendig halte, im Zusammenhang mit der polizeilichen Bewältigung von Demonstrationslagen, die einen unfriedlichen Verlauf nehmen, auch die Prüfung und Fortentwicklung polizeilicher Einsatzmittel und von Rechtsvorschriften fortzufahren. Ich werde darauf zurückkommen, bin aber grundsätzlich der Meinung, dass für die Lagebewältigung in Zukunft nicht die eine oder andere rechtliche oder technische Neuerung allein entscheidend sein wird. So könnte zum Beispiel auch ein einsatztaugliches Gummischrot in einer extremen Lageentwicklung - quasi als ultima ratio vor dem Schusswaffengebrauch eingesetzt - sicherlich nur zur Lagebereinigung, nicht aber zu einer dauerhaften Problemlösung beitragen. Wichtig ist, dass in einer abgestimmten Führungs- und Einsatzkonzeption psychologische und soziologische Aspekte ihren Niederschlag gefunden haben und vor allem die "Sprachlosigkeit" zwischen Polizei, Veranstalter und Teilnehmer überwunden wird. Die Polizei darf nicht als "Partei" erscheinen und muss das Prinzip der "Nichteinmischung" wahren. Zeigt die Polizei Versammlungsfreundlichkeit und Kooperationsbereitschaft, leistet sie einen wesentlichen Beitrag zur Deeskalation und erhöht die Chance, mit einem flexiblen und in aller Regel auch in Teilen offensiven Massnahmenkonzept das schwierige Differenzierungsgebot zwischen friedlichen Teilnehmern und unfriedlichen Gewalttätern erfüllen zu können.
Wenn ich meine Ausführungen in diesem Aufsatz so verstanden, wissen möchte,
dann ist das der Versuch - von der Polizeiführung ist er vor und bei Einsätzen ebenso gefordert - sich der Identifikation mit Sachthemen zugunsten eigener Neutralität zu entziehen Ich hoffe - im Interesse der Akzeptanz meiner Ausführungen - eine solche Identifikation zumindest erschwert zu haben.
Ministerielle Leitlinien als konzeptionelle Vorgaben für die Entwicklung einer lagegerechten Führungs- und Einsatzkonzeption und des die Durchführung tragenden Einsatzbefehls sind jeweils am Einzelfall orientiert zu konkretisieren. So definiert, entziehen sie sich eigentlich einer generalisierenden, weil nicht lagebezogenen Darstellung. Ich betone dies, um die ministerielle Leitlinienkompetenz gar nicht erst der Gefahr, vereinzelt vielleicht auch der Neigung auszusetzen, als vage und nicht in praktische Handlungsanweisungen umsetzbar, missverstanden zu werden. Tatsächlich soll ihre Festlegung inhaltsreich und konkret sein, so dass sie als Grundzüge oder Generallinien einer "Einsatzphilosophie" dienen.
Die Behandlung dieses Themas setzt somit Einverständnis darüber voraus, dass es bei Demonstrationslagen konkrete Grundbedingungen und Grundmuster des Verhaltens der Beteiligten gibt; entwickelt aus umfangreichem Erfahrungswissen der Praxis. Dieses Grundmuster mutiert in längeren oder kürzeren Intervallen, bleibt aber innerhalb dieser im wesentlichen stereotyp.
Demonstrationslagen, mehr noch als zahlreiche andere Sicherheitslagen, haben stets auch eine sensible politische Dimension. Gerade bei Demonstrationen mit erwartetem unfriedlichen Verlauf müssen Polizeieinsätze in letzter Instanz von der politischen Führung verantwortet werden, sie müssen deshalb - wo immer das von der Sache her notwendig und zeitlich möglich ist - mit dem politisch Verantwortlichen konzeptionell abgestimmt sein. Daraus folgt, dass der Polizeiführer die Durchführung seines Auftrages nicht nur an Recht, Gesetz, Strategie, Taktik und Organisation zu orientieren hat, sondern auch an politischen Vorgaben. Hier ist beispielsweise an die sensible Frage des Einschreitens bei Sitzblockaden oder an die Verwendung von CS-Reizstoffen zu denken.
Der Polizeiführer bedarf solch abgestimmter Leitlinien zur zielorientierten Durchführung seines Auftrages. Das Ergebnis dieser Verfahrensweise zeigt in der Praxis des Einsatzes grössere Sicherheit, mehr Selbstbewusstsein und eine breitere Fundierung der Verantwortung.
Ich möchte nun aus der Fülle der Einsatzerfahrungen bei Demonstrationseinsätzen die bedeutendsten polizeilichen Leitlinien darstellen, wobei die Reihenfolge unter Berücksichtigung einsatzspezifischer Besonderheiten der konkreten Lage nicht unbedingt eine Rangfolge darstellen kann:
Das Kooperationsgebot des Bundesverfassungsgerichts im Brokdorf- Beschluss macht es notwendig, dass der mit Planung und Vorbereitung des Polizeieinsatzes beauftragte Polizeiführungsstab schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt den Kontakt zum Veranstalter suchen und fördern muss. Es ist durch Verständnis, Toleranz und Beratung eine Grundlage r eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zu schaffen. Hierbei ist es in der Praxis hilfreich und vorteilhaft, wenn bereits bestehende Kontakte zu örtlichen (Mit-)Veranstaltern bzw. Organisatoren genutzt werden können. Es ist wichtig, dass die Polizeiführung mit möglichst allen meinungsbildenden Kräften auf der Veranstalter- und aktiven Teilnehmerseite ins Gespräch kommt. Dabei muss auf der Grundlage der erkennbar versammfungsfreundlichen Haltung der Polizei deutlich werden, dass der Schutz der Veranstaltung und die Gewährleistung des Rechts auf Wahrnehmung von Verfassungsrechten das absolut primäre Ziel des Polizeieinsatzes ist. Der Veranstalter muss erkennen können, dass die Polizei ihn in seinen Bemühungen um Bewältigung des organisatorischen Ablaufs aktiv unterstützt und damit insbesondere die Gewährleistung eines friedlichen Ablaufs der Veranstaltung als gemeinsames Ziel erreichen will. Dies geschieht beispielsweise konkret durch fachkundige Beratung in Hinblick auf die Lenkung und Unterbringung des Veranstaltungsverkehrs, den wirkungsvollen Ordnerdienst bis hin zur richtigen Wahl und Abstimmung des Veranstaltungsraumes.
Andererseits gehört es zur Transparenz polizeilicher Massnahmen, in den Gesprächen die polizeiliche Option unmissverständlich deutlich zu machen, dass gegen Gewalttäter, die den friedlichen Ablauf der verfassungsmässig geschätzten Veranstaltung stören wollen, entschlossen und konsequent vorgegangen wird. Es darf keine Zweifel darüber geben, ab wann die Toleranzschwelle zum polizeilichen Eingreifen überschritten wird. Dabei sollte auch deutlich gemacht werden, dass dennoch alle polizeilichen Massnahmen zur Verhinderung von Gewalttätigkeiten sehr sensibel und verhältnismässig getroffen werden, um nicht die Durchführung der Gesamtveranstaltung mehr als unvermeidbar zu belasten.
Die Einsatzkonzeption der Polizei - insbesondere ihre Rolle bei der Veranstaltung - und damit schon zu einem gewissen Masse der Einsatz selbst, müssen für Veranstalter und Teilnehmer in den Grundzügen transparent sein. Das erstreckt sich natürlich nicht auf die Preisgabe taktischer Details. Berechtigt aber zu der Erwartung, dass Teilnehmer - ausgenommen der "schwarze Block" - für die aufgrund ihres Informationsstandes das Einsatzverhalten der Polizei nun transparent und nachvollziehbar ist, weniger aus Angst und Überreaktion zur Solidarisierung mit Gewalttätern oder zu eigenen Gewaltaktionen neigen. Es ist belegbar und entspricht der Einsatzerfahrung, dass die auch für viele überwiegend junge Teilnehmer ungewohnte und von Stress gekennzeichnete Situation durch rechtzeitige Informationen überschaubarer wird und damit weniger bedrohlich wirkt.
Ich verbinde also die Erfüllung dieses einsatztaktischen Grundsatzes mit der Hoffnung auf deeskalierende Wirkung durch Aggressions- und damit Konfliktdämpfung. Dabei gehe ich von der Überzeugung aus, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Demonstrationsteilnehmer ein für sie reales und bedeutsames Sachthema zur Geltung bringen will und nicht wegen gewalttätiger Auseinandersetzungen im Veranstaltungsraum erschienen ist. Mehr als wohl je zuvor müssen wir unsere polizeilichen Massnahmen nicht in erster Linie am Gewalttäter ausrichten, sondern vor allem auch an der bisher zu wenig beachteten grossen Mehrheit der kritischen aber friedlichen Versammlungsteilnehmer.
Ich weiss, dass das Bemühen um zeitgerechtere, der Lagebewältigung adäquatere Lösungsansätze von Kritikern unter Hinweis auf den einen oder anderen fehlgeschlagenen Versuch als "Einsatzbewältigung durch Reden" karikiert und abgelehnt wird. Da wird nicht die Individualität und differenzierte Struktur sensibler polizeilicher Lagen gesehen und oft von eigener misslicher Erfahrung global auf die Unmöglichkeit eines positiven Lösungsbeitrages für unser Problem geschlossen.
Ich bin überzeugt und erste praktische Erfahrungen belegen, dass solche Konfliktsituationen im Vorfeld mit Mitteln der Kommunikation wesentlich entschärft werden können.
Schwierig und aktuell nicht immer überzeugend lösbar bleibt dagegen die Überwindung von Kommunikationshindernissen gerade in den sogenannten "heissen Einsatzphasen".
Dialogbereitschaft ist als eine Grundsatzforderung des Bundesverfassungsgerichts in seiner Brokdorf- Entscheidung ausdrücklich postuliert. Dazu haben wir als Polizei einen Teil wie und wo immer möglich - beizutragen und vorzuleisten.
Der zum Veranstalter und zu den aktiven Teilnehmergruppen geknüpfte Kontakt sollte zu keiner Zeit unterbrochen werden; die Verbindung ist permanent zu halten. Im Einsatz selbst geschieht dies durch Abstellen eines Verbindungsbeamten (Vertrauensperson) in das Koordinierungsbüro des Veranstalters; eine Massnahme, die für beide Seiten (Veranstalter und Polizei) von Vorteil ist. Sie stellt die gegenseitige Information über Absichten und Massnahmen sicher und ermöglicht durch korrespondierendes Vorgehen die Kooperation im Interesse eines friedlichen und geordneten Demonstrationsablaufes. Diese umfassende Information und Kooperation nach aussen und innen ist einsatzentscheidend.
Kooperation ist eine Angelegenheit auf Gegenseitigkeit. Beharrliche Gesprächsangebote werden auf Dauer ihre Wirkung nicht verfehlen. Sie verdeutlichen dem Veranstalter und auch der durch die Medien informierten Öffentlichkeit, dass die Polizei die Durchführung und den Schutz der Veranstaltung gewährleisten und nicht verhindern will.
Von gleichgrosser Bedeutung wie die Dialogbereitschaft und Kooperation mit dem Veranstalter ist die Information der betroffenen Bevölkerung und - wie noch später dargestellt wird - der eigenen Kräfte durch die Polizeiführung.
Die von derartigen Veranstaltungslagen betroffene örtliche Bevölkerung muss wissen, dass die Polizei sich auch ihrer Anliegen annimmt. Sie ist frühzeitig und umfassend über die Veranstaltungslage, insbesondere über die Verkehrssituation am Veranstaltungstag zu unterrichten und mit Empfehlungen zu beraten.
Dies erfordert eine weit vorausschauende offensiv betriebene professionelle Öffentlichkeitsarbeit der Polizei. Da sind Kreativität und Phantasie gefragt, nicht die amtliche Bekanntmachung hoheitlich- obrigkeitlichen Stils. Dem Einsatzabschnitt "Taktische Öffentlichkeitsarbeit" kommt damit eine herausragende Bedeutung in der Gesamtplanung und Bewältigung des Einsatzes zu. Er muss es verstehen, unter Einschaltung der Medien (Fernsehen/ Rundfunk/ Presse) betroffene Bürger und Demonstranten gleichermassen zu "erreichen., um die Absichten der Polizeiführung transparent und verständlich zu machen. Durch geeignete Informationsmittel und -träger (wie z. B. Bürger- /Sorgentelefon, Handzettel, Aufkleber, Buttons, Lautsprecherdurchsagen) sollten nicht nur Hinweise für einen geordneten Verkehrsablauf, sondern auch über Einsatzverhalten und Einsatzabsichten vermittelt werden. Dies gilt besonders dann, wenn Gewalttätigkeiten befürchtet werden müssen.
Die Öffentlichkeitsarbeit sollte aber auch offensiv die Versachlichung der Diskussion über polizeiliche Einsatzmittel fördern. Hierin liegt ein wesentlicher Beitrag zur Deeskalation und Vermeidung von Emotionalisierung.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die eingangs erwähnte EMNID- Umfrage eingehen:
Ereignen sich Gewalttätigkeiten bei Demonstrationen, halten es die meisten Befragten (96 %) für das geeigneteste Mittel, wenn die Polizei die Teilnehmer mit Lautsprechern auffordert, sich friedlich zu verhalten und ihren Anweisungen zu folgen. Auch der Einsatz von Wasserwerfern oder Tränengas wird von 59 % als "unter Umständen" oder "besonders" geeignete Massnahme angesehen, um Gewalttäter zu "zerstreuen". Für eine weniger geeignete Massnahme zur Verhinderung von Gewalttätigkeiten wird das Zurückziehen der Polizei gehalten: 44 % der Befragten halten es für besonders bzw. unter Umständen geeignet, während insgesamt 52 % es für weniger bzw. gar nicht geeignet halten. Die grösste Ablehnung erfährt das gezielte Vorgehen der Polizei bei Gewalttätigkeiten durch Einsatz von Gummigeschossen. Dabei sollte jedoch berücksichtigt werden, dass hinsichtlich dieses Einsatzmittels, seiner Wirkung und seiner rechtlichen und taktischen Einsatzmöglichkeiten nur oberflächliche Kenntnisse bestehen dürften. Ich habe das Meinungsbild hier komplett zitiert, weil ich trotzdem für eine Weiterentwicklung des Gummischrotes und des Wirkkörperwerfers bin: nicht etwa um die Distanzwaffe als Lösung eines taktischen Problems zu haben, sondern um einen Schusswaffengebrauch aus einer Notwehrsituation heraus bei derartigen Lageentwicklungen unnötig und damit unwahrscheinlicher zu machen. Es kann nämlich nicht darum gehen, ein polizeiliches Einsatzmittel zu entwickeln und verfügbar zu haben, um statische Distanzgefechte mit Gewalttätern zu führen. Unter Berücksichtigung der von Gewalttätern verwendeten äusserst gefährlichen Schussapparate wäre das sicherlich ein Eskalationsfaktor und mit hoher Verletzungsgefahr für die Polizei verbunden.
Der Bund und die Länder haben einen gemeinsamen Auftrag zur Entwicklung eines Wirkkörperwerfers für Gummiwuchtgeschosse, Gummischrotgeschosse und Reizstoffwurfkörper vergeben. Ich habe nicht die Hoffnung und das wird auch nicht mehr weiter verfolgt, ein Gummiwuchtgeschoss entwickeln zu können, das im wahrsten Sinne des Wortes umwerfende Wirkung hat, gleichzeitig aber nicht zu letalen oder ganz erheblichen Verletzungen führt. Wir haben es hier mit einer Masse von ca. 200 Gramm Gummi zu tun, die zu beschleunigen ist. Die taktisch erforderliche VO ist zu hoch, so dass eine erhebliche Verletzungsgefahr - bis hin zu tödlichen Verletzungen nicht auszuschliessen ist. Beim Gummischrotgeschoss, das wie der Name schon sagt - sich in 12 Kugeln à 17 Gramm zerlegt, haben wir bisher noch nicht ausreichende Erfahrung über Treffergenauigkeit und Verletzungsgefahren vorliegen. Erhebliche Verletzungsgefahren dürften beim Einsatz von Gummischrot insbesondere im Bereich der Augen zu befürchten sein, das ist 0,5 % der Gesamtkörperfläche.
jetzt muss entschieden werden, ob ein solches Gummischrot aus der Mehrzweckpistole 1 verschossen werden kann oder ob dazu ein zusätzlicher Wirkkörperwerfer nötig ist. Obwohl kein Techniker, befürchte ich, dass die Masse des Gummischrotgeschosses für die Mehrzweckpistole 1 zu gross ist. Ich halte deshalb die Fortentwicklung des Wirkkörperwerfers für notwendig, weil dessen grössere Masse ein Verschiessen von Gummischrot überhaupt erst wirkungsvoll ermöglichen wird. Es ist konsequent, dass wir - neben neuen Überlegungen zu verbesserter und flexiblerer Taktik, Nutzung psychologischer Aspekte zur Überwindung der Sprachlosigkeit und rechtlichen Verbesserungen - auch neue Entwicklungen für ein Einsatzmittel betreiben, das in einer Notwehrsituation hinreichend wirkungsvoll und verhältnismässiger wäre, als der nach aktuellem Recht noch erlaubte Einsatz der Schusswaffe. Ein 9- mm- Geschoss ist im Vergleich zum Gummischrot zweifellos die empfindlichere Beeinträchtigung. Daher sollten wir diese Entwicklung mit dem optimalen know how so betreiben, dass sie zu einem Ergebnis fährt, das unserem modernen technischen Standard entspricht. Erst dann sollte entschieden werden, ob es in die Palette unserer Einsatzmittel einbezogen wird oder nicht.
Eine weitere taktische Notwendigkeit ist die frühzeitige und umfassende Information der eigenen Einsatzkräfte.
Wir können von unseren Mitarbeitern nicht erwarten, dass sie im entscheidenden Augenblick am Einsatzziel orientiert handeln, insbesondere im konzeptionellen Sinne selbständig handeln, wenn sie nicht ausführlich über die aktuelle Lage, die taktische Zielsetzung und ihren speziellen Auftrag informiert sind. Wir dürfen Kräfte nicht stunden- oder gar tagelang in Reserve halten, ohne sie informationell am Einsatzgeschehen teilhaben zu lassen.
Die offensive Information der Kräfte ist ein wesentlicher Beitrag zur Motivation. Wo immer möglich, sollten die Einsatzkräfte bei Demonstrationslagen vor Grosseinsätzen zusammengezogen und zielgerichtet auf ihren Einsatz vorbereitet werden. Dabei sind nicht nur besondere Einsatztechniken einzuüben, sondern besonders umfassend Lageinformationen sowie Absichten der Polizeiführung zu vermitteln. Vor allem ist ihnen zu vermitteln, was mit ihrem Auftrag im konzeptionellen Sinne des Gesamteinsatzes zu bewirken ist! Durch Verhaltenstraining und Kommunikationsübungen wird ein Klima der Entspannung, Deeskalation und Selbstsicherheit geschaffen.
Ein nicht informierter Mitarbeiter ist häufig auch ein desinteressierter Mitarbeiter. Stets aber ist er ein schwer kalkulierbares Risiko im gemeinsamen Handeln zur Zielerreichung. Fehlerhaftes, weil nicht zielorientiertes Verhalten ist damit vorprogrammiert.; dessen sollten wir uns immer bewusst sein. Ein Einsatzkonzept kann nur wirkungsvoll und lagegerecht umgesetzt werden, wenn die Mitarbeiter es verstehen, akzeptieren und so die Intentionen und Zielvorgaben der Polizeiführung adäquat umsetzen. Dies vor allem in Einsatzsituationen, in denen selbständig gehandelt werden muss.
Gewalt ist in keinem Fall "Transportmittel" zur Kundgabe von Meinungen. jenseits aller rechtlichen Überlegungen ist das ein Widerspruch in sich selbst. Auch ein "bisschen" Gewalt ist nicht tolerabel. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gebietet indes, orientiert an der Brisanz und Sensibilität der Gesamtsituation, eine besonders flexibel gestaltete Einschreitschwelle, d.h. eine sorgfältig überlegte Entscheidung über den Zeitpunkt des Einschreitens und das Beachten des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit. Dadurch lässt man vorübergehende Krisen "leerlaufen", vermeidet Provokationen, fördert aber nicht durch Nachgiebigkeit und Schwäche eine Eskalation. Wichtig ist, dass die Einsatzmassnahmen der Polizei in den Grundzügen kalkulierbar und transparent sein müssen, ohne jedoch schematisch und starr zu werden.
Beim Einschreiten zur Verhinderung oder Beseitigung von Störungen muss zwischen friedlichen Teilnehmern und Gewalttätern unterschieden werden; gegen Straftäter ist konsequentes Handeln geboten!
Es ist ein alter polizeilicher Grundsatz, dass die Polizei Massnahmen zur Gefahrenabwehr gegen den Störer zu richten hat.
Der Nichtstörer kann nur unter den strengen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes in Anspruch genommen werden.
Hier ist stets die Kernfrage, ob es bei unfriedlichem Verlauf einer Veranstaltung der Polizei gelingen kann, dem Separierungsgebot/ Differenzierungsgebot des BVerfG-Urteils (Brokdorf- Entscheid) folgend, Störer von Nichtstörern zu trennen. Selbst bei optimalen Einsatzvorbereitungen und Einsatzbedingungen ist sicherlich eine solche Separierung allein mit den derzeitigen polizeilichen Mitteln sehr schwer operativ zu leisten. Unter "Mitteln" verstehe ich hier alle taktischen, rechtlichen, psychologischen und organisatorischen Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen. Taktische Ansatzpunkte zur Separierung mit unmittelbarer oder mittelbarer Wirkung sind z. B.
Das alles wird - Verfügbarkeit, professionelles Einsatzverhalten und Durchführbarkeit vorausgesetzt - nicht wirkungslos sein.
Wie will man aber fünfzig, hundert oder tausend Gewalttäter in einer Menschenmenge von fünfzig- oder hunderttausend friedlicher Teilnehmer separieren, ohne eine erhebliche Anzahl der friedlichen - noch friedlichen - Demonstranten empfindlich in der ungestörten Ausübung ihrer Meinungsdarstellung zu beeinträchtigen? Wie soll verhindert werden, dass es dabei zur Solidarisierung mit Gewalttätern gegen die Polizei kommt? Eine solche Trennung ist nur möglich, wenn im Vorfeld des "Einmischens" der Gewalttäter durch vorgenannte Massnahmen daran gehindert wird oder der Nichtstörer veranlasst werden kann, sich vom Störer zu trennen. Dieses Ziel ist meines Erachtens letztlich nur durch eine dementsprechende Änderung des § 125 StGB zu bewirken.
Die von Kritikern dieser Änderung des § 125 StGB immer wieder vorgetragene - aus dem Legalitätsprinzip resultierende - Problematik eines Handlungszwanges für die Einsatzleitung, der zu unverantwortbar zahlreichen Festnahmen und damit Eskalationen führen müsse, halte ich für eine eher theoretische Betrachtung.
Das Legalitätsprinzip, der aus ihm folgende Handlungszwang und die prognostizierte Unmöglichkeit massenhafter Festnahmen bei Nichtbefolgung der polizeilichen Aufforderungen ist das stereotype Apage Satanas der Gegner einer Verbesserung des Landfriedensbruchtatbestandes. Der Praktiker weiss aber, dass Strafverfolgung eben auch schlicht an der taktischen Unmöglichkeit ihres Vollzuges scheitert. Das schliesst indes nicht von vornherein die Chance aus, bei entsprechender Gesetzesänderung und lagegerechtem sowie transparentem Vorgehen der Polizei mit Akzeptanz und Mitwirkung der überwiegend friedlichen Zahl der Teilnehmer rechnen zu können. Die Chance hierfür wird um so grösser, je mehr die Polizei ihr versammlungsfreundliches und differenziertes Vorgehen verdeutlicht.
Eine taktische Konzeption, die ein vorgegebenes Schutzobjekt statisch defensiv, sein Vorfeld und das gefährdete Umfeld offensiv, flexibel und nicht ausrechenbar (wohl aber berechenbar im vorgenannten Sinne) schützt, erfordert zur Sicherstellung konsequenten Einschreitens der Polizei gegen Gewalttäter mit Zugriffs-, Sicherungs- und Beweissicherungskräften starke Polizeikräfte und moderne Einsatzmittel. Dabei ist es eine Frage der Beurteilung des Einzelfalles, ob die Kräfte verdeckt bereitgehalten oder demonstrativ gezeigt werden. Wo immer möglich, sollte im Interesse der Schaffung eines günstigen Klimas zwischen Veranstalter, Teilnehmern und Polizei das Zeigen starker Polizeikräfte (quasi als "Demonstration von Stärke") sensibel abgewogen werden. Die Polizei muss nicht überall präsent sein und kann auch diesbezüglich im Sinne der vorerwähnten Brokdorf- Entscheidung "polizeifreie Räume" (mit nicht sichtbarer Polizeipräsenz) schaffen.
Die sichtbare Beschränkung auf Massnahmen der Verkehrslenkung und -regelung unterstreicht die verfassungskonforme Versammlungsfreundlichkeit und die Befolgung des Gebotes der Zurückhaltung, Nichteinmischung und Neutralität durch die Polizei gegenüber Versammlungsteilnehmern und dem Anlass oder ihrem sachlichen Anliegen.
Optisch wird eine solche Taktik dadurch verstärkt, dass die sichtbaren Polizeikräfte im "normalen Dienstanzug", d. h. ohne Schutzausrüstung, eingesetzt werden. Damit wird den Demonstrationsteilnehmern die ordnende Funktion der Polizei signalisiert, ein psychologischer Effekt, den wir nicht unterschätzen dürfen.
Bei einer derartigen Entscheidung müssen selbstverständlich bei einer Gefahrenprognose im Zusammenhang mit zu erwartenden Gewalttätigkeiten Aspekte der Fürsorge hinreichend berücksichtigt werden.
Wesentlich für den Einsatzerfolg ist das Vorhandensein eines jederzeit aktuellen Lagebildes, nur so sind flexible Aktionen und Reaktionen der Polizeiführung möglich. Wir brauchen daher stets eine umfassende, offene und/oder verdeckte flächendeckende Aufklärung. Auch das soll dem Veranstalter und den Teilnehmern grundsätzlich nicht verborgen bleiben. Aufklärungsmassnahmen müssen schwerpunktmässig dort ansetzen, wo potentiell Gewalt zu erwarten ist. Sie erfordern in ihrer notwendigen Vielfalt an Einsatzarten und -formen viel Fingerspitzengefühl, Kreativität, Erfahrung und einen hohen Ausbildungsstand. Der Erfolg ist wesentlich von einer guten Kommunikation abhängig. Deshalb sind für diesen Auftrag nur besonders ausgebildete und erfahrene Beamte einzusetzen. Auch hier gilt der Grundsatz: "Qualität vor Quantität".
Das gilt verstärkt, wenn in besonderen Lagen auch Zugriffs- oder Kontrollmassnahmen von diesen Kräften zu leisten sind! Letztere sind - wie bereits erwähnt - unverzichtbar, um bereits im Vorfeld Gewaltbereitschaft zu erkennen,- um so Gewalttätigkeiten frühzeitig zu unterbinden. Derartig eingesetzte Aufklärungskräfte müssen auch die Anlegung von Depots oder die Verlagerung der Gewalt durch Neben- und Anschlussaktionen entdecken und verhindern können.
Kontrollstellen dürfen den Anmarsch friedlicher Teilnehmer nicht wesentlich erschweren oder gar verhindern; sonst ist ihre Einrichtung nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich oder gar unzulässig, sie wirkt aggressionssteigernd und ggf. zur Eskalation bei denjenigen, die der Polizei bisher eher neutral oder abwartend kritisch gegenüberstanden. Zur Solidarisierung mit gewaltbereiten Teilnehmern oder Gruppen fehlt dann nur noch ein kleiner Schritt. Genau den gilt es zu verhindern!
Die Polizeiführung muss jederzeit in der Lage sein, flexibel auf Lageentwicklungen und -veränderungen zu reagieren und mit einem lagegerechten Massnahmenkonzept zu agieren! Das erfordert die Fähigkeit zur schnellen und reibungslosen Verlegung von Einsatzkräften, insbesondere im Bereich Schutz, Abwehr, Zugriff, Trennung, Absperrung und Sicherung. Dabei hat sich gezeigt, dass der luftverlastete Einsatz von Kräften in grossräumigen Lagen - besonders im ländlichen Bereich - für eine flächendeckende Schutz- und Abwehrkonzeption unverzichtbar ist.
Diese Leitlinie betrifft den repressiven Aufgabenbereich einer Führungs- und Einsatzkonzeption zur Lagebewältigung; die "Beweissicherung und Festnahme".
Bei den bisherigen Einsätzen ist die Relation der Zahl der Festgenommenen zu der Zahl und Schwere der Straftaten bei Gewalttätigkeiten anlässlich von Demonstrationen nicht zufriedenstellend. Diese unbefriedigende Bilanz verhindert eine dauerhafte "Ausdünnung" des Potentials reisender Gewalttäter. Vor allem in der Öffentlichkeit stösst dieses Ergebnis auf Unverständnis und fördert ein Gefühl des Ungeschütztseins bei Teilnehmern und Bürgern und der "Hilflosigkeit der Polizei", wenn - medial vermittelt - unter den Augen der Polizei schwere Straftaten begangen werden, ohne dass die Täter hierfür erkennbar zur Rechenschaft gezogen werden. Vertrauensschwund in die den inneren Frieden sichernde Funktion der Polizei sowie die Beeinträchtigung des subjektiven Sicherheitsgefühls vieler Mitbürger sind die zwangsläufige Folge. Aber auch unsere Beamten selbst werden unsicher und gleichgültig. Das führt insgesamt zu Verlusten bei der Einsatzmotivation. Resignation aber ist kein Erfolgsrezept.
Mittlerweile sind nach meiner Kenntnis in einigen Bundesländern von der Polizeiführung Führungs- und Einsatzkonzeptionen erarbeitet und praktiziert worden, die in Umsetzung aktueller Einsatzerfahrungen aussichtsreich zur Bewältigung zukünftiger Führungs- und Einsatzaufgaben beizutragen versprechen. Die Fortentwicklung vorhandener und Prüfung neuer Strategien, Taktiken, Techniken und Organisationsformen wird und darf nicht stagnieren. Ich bin überzeugt, dass unsere Konzeptionen künftig vergleichsweise sensibler und anspruchsvoller abzustimmen und umzusetzen sind. Das wird an die Führungskräfte und eingesetzten Beamten hohe Anforderungen stellen.
Versammlungsfreundliches und kooperationsbereites Verhalten der Polizei muss ebenso transparent gemacht werden wie das differenzierte und konsequente Vorgehen gegen Gewalttäter. Die Polizei muss die Konfrontation mit den Teilnehmern von Veranstaltungen erschweren, sie muss ihre Rolle als Garant zum Schutze der Wahrnehmung von Verfassungsrechten - auch bei kritischen Bürgern - verdeutlichen. Nur durch professionelles Vorgeben - auf der Grundlage eines stets aktuellen Lagebildes auf allen Ebenen einer abgestimmten flexiblen Massnahmenkonzeption und angemessenem Handeln der Einsatzbeamten - wird uns diese schwierige Aufgabe gelingen. Dazu bedarf es intern verstärkter Anstrengungen zu verbesserter Information, einsatzbezogener Aus- und Fortbildung und Motivation unserer Einsatzkräfte und extern einer offensiven Öffentlichkeitsarbeit.
Aus: das Blaulicht, Aktuelle Information des Polizeipräsidiums Niederbayern/ Oberpfalz, Herbst/ Winter 1987