Die Polizei, 11/87
Ein wesentlicher Teil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen bezieht sich auf die Bedingungen, Inhalte und Entlohnung menschlicher Arbeit. Sehr unterschiedliche Faktoren messen dabei berücksichtigt werden. Ökonomie und Ökologie, Kosten und Nutzen, Rationalisierung und Sinnentleerung, Leistung, Zufriedenheit und Entlohnung. Man könnte noch viele Begriffe miteinander koppeln, um das Feld zu charakterisieren. Häufig werden von vornherein in der öffentlichen Diskussion Begriffspaare verwendet. Dies kennzeichnet von der Sprache her die grundsätzliche Konflikthaftigkeit des Problems. Die unübersehbar und letztlich unaufhebbar vielfältige Widersprüchlichkeit des Gegenstandes Arbeit und ihres Umfeldes führt dazu, dass immer nur Schwerpunktverlagerungen stattfinden können. Bei hohen Rohölpreisen ging die Ökonomie vor der Ökologie, in armen Ländern ist es wichtig, überhaupt nur ein Mindesteinkommen zu erzielen, in der reichen Welt nehmen Humanität am Arbeitsplatz und Freizeit einen hohen Rang ein. Um die Bildung des rechten Schwerpunktes wird ständig gerungen, man merkt es fast nicht: Vertreter von Arbeitnehmern und öffentlichen oder privaten Arbeitgebern gestalten das Arbeitsfeld, indem sie für beide Seiten vertretbare Bedingungen aushandeln. Das funktioniert im allgemeinen sehr gut, wenn auch oft mit Auseinandersetzungen verbunden. Mitunter kommt es zu Arbeitskämpfen. In diesen hat die Polizei den gewaltfreien Austrag zu gewährleisten und sich im übrigen zurückzuhalten.
Dies scheint auf den ersten Blick recht unproblematisch zu sein, und dennoch ist die polizeiliche Aufgabe nicht leicht zu lösen.
Der Streik ist nicht nur ein legales Mittel des Arbeitskampfes, sondern wird darüber hinaus von breiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert, weit mehr als die vom Wort her unangenehm klingende Aussperrung, das ebenso legale Gegengewicht des Streiks.
Die Demonstration, ein anderes legales Mittel gesellschaftlicher Auseinandersetzung, steht weit weniger einheitlich in der Gunst der Bürger. Sie wird von vielen sogar als Belästigung empfunden. Sie ist - nicht in ihrer Berechtigung, wohl aber in ihrer Bedeutung - auch von Theoretikern umstritten.
Der Streik ist dagegen so sehr mit den Verbesserungen im sozialen Leben wohl der meisten Bürger verbunden, dass grundsätzliche Einwendungen eigentlich von niemandem ernsthaft erhoben werden. Wohl gibt es Meinungsdifferenzen darüber, ob ein bestimmter Streik zu einer bestimmten Zeit gerechtfertigt ist, ob eine gewerkschaftliche Forderung wirklich der Wirtschaftlichen Lage eines Betriebes oder der ganzen Volkswirtschaft angemessen ist, aber ' diese Bedenken gelten nicht dem Streik an sich. Den deutschen Gewerkschaften als den Trägern des Streiks wird nicht nur von deutschen Politikern aller Richtungen, Publizisten und Wirtschaftlern Mass und Blick für die Realität bestätigt. Im Vergleich zu anderen freien Ländern steht in der Bundesrepublik- Deutschland einer sehr geringen Streikzahl ein grosses Ausmass sozialer Errungenschaften gegenüber. Jedermann weiss, wie sehr die 48-, später 40-Stunden-Woche, humane Verhältnisse am Arbeitsplatz, Lohn- und Gehaltssteigerungen usw. der gewerkschaftlichen konstruktiven Mitgestaltung, aber eben auch dem Streik zu verdanken sind.
Kann es unter solchen positiven Verhältnissen Oberhaupt ein polizeiliches Problem beim Streik geben?
Das Problem liegt aber gerade in der Unantastbarkeit einer zumindest prinzipiell hochgeschätzten gesellschaftlichen Institution.
Die positive Gesamtsicht kann nämlich zur Folge haben, dass negative Randerscheinungen mit Verständnis betrachtet werden, obwohl sie den Vorstellungen der Mehrzahl der Streikenden keineswegs entsprechen. Das erschwert die Arbeit der Polizei, denn das Einschreiten gegen diese Randerscheinung (z. B. körperliche Auseinandersetzungen zwischen Streikenden und Arbeitswilligen) wird u. U. als gegen den Streik selbst gerichtet gesehen, wo doch nur sein friedlicher Verlauf gesichert werden soll. Mitunter wird sogar bewusst unterstellt - zumeist von ausserhalb der Gewerkschaften -, die Polizei stehe im Dienste von wirtschaftlichen Interessengruppen. Im Grunde ist die friedens- und sicherheitswahrende Ordnungsfunktion der Polizei bei einem Streik nicht anders zu sehen als bei anderen privaten und gesellschaftlichen Konflikten. Sie muss, wenn schon nicht den fairen, so doch den gewaltfreien Umgang verschiedener Gruppen untereinander garantieren. Unsere Gesellschaft ist pluralistisch, d. h. es werden ständig Interessenskonflikte ausgetragen. Eine Gesellschaft, die mit wenigen verfassungsrechtlich geschätzten Ausnahmen dem Einzelnen und den gesellschaftlichen Gruppen nicht vorschreibt, welche Ziele anzustreben sind, muss in besonderer Weise den freien und friedlichen Austrag von Interessenkonflikten gewährleisten, die sich aus der Meinungsvielfalt ergeben. Frei kann aber nur heissen, dass die neutrale Schutzfunktion der staatlichen Ordnungskräfte auch dem Schwächeren die Ausübung seiner Rechte ermöglicht. Der Schwächere kann eine Berufsgruppe, ein Ausländer, gegebenenfalls aber auch ein Arbeitswilliger sein, wo ansonsten alles streikt. Der Arbeitswillige oder - wie er zumeist abwertend genannt wird: der Streikbrecher - macht die sozialpsychologische Situation eines Streiks beispielhaft deutlich. Wo der Streikfreiheit - wenn auch nicht ausdrücklich so doch praktisch - Verfassungsrang zukommt, gerät ein Arbeitswilliger leicht ins Abseits. Seine streikenden Kollegen halten ihn für unsolidarisch und behandeln ihn so. In der Öffentlichkeit vergisst man leicht, dass auch seine Handlungsfreiheit grundrechtlich geschätzt ist.
Polizeibeamte können ebenfalls in eine schwierige Lage geraten. Ihr Einschreiten oder Nichteinschreiten kann als Parteinahme von den Betroffenen und von der Öffentlichkeit missverstanden werden. Darüber hinaus hat der Beamte nicht nur eigene Ansichten über die Streikziele. Ein Erfolg des Streiks kann zumindest mittelbar von Vorteil für ihn sein. Nicht selten wird er sogar wie auch bei Kundgebungen gefragt: "Warum macht ihr nicht einfach mit uns mit?" und er spürt den unausgesprochenen Vorwurf dahinter: "oder seid ihr doch nur willige Schergen der Obrigkeit?". Das mag das Gewissen insbesondere junger unerfahrener Beamter durchaus belasten.
Eine grundlegende Besinnung auf die neutrale und nur deshalb friedenswahrende Funktion der Polizei in einer Demokratie ist deshalb wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Bewältigung gesellschaftlicher Konfliktsituationen, wobei der Arbeitskampf nur einen Sonderfall darstellt. Dies ist insbesondere jungen Menschen aufgrund gesellschaftlicher Wertunsicherheit innerhalb und ausserhalb der Polizei nicht immer deutlich genug.
Die grundsätzliche Gleichberechtigung verschiedener Meinungen in derselben Sache ist, je mehr man selbst vom eigenen Standpunkt überzeugt ist, nicht immer leicht einzusehen. Mehr als die demonstrative Meinungsbekundung einzelner Gruppen fordert der Streik auch den Unbeteiligten zu Stellung- und Anteilnahme heraus. Die meisten fühlen, dass - zumindest indirekt - auch ihre Sache verhandelt wird.
Bei einer Demonstration bekunden die Teilnehmer ihre Meinung. Sie wollen auf ein Problem aufmerksam machen, durch ihr Auftreten politischen Einfluss nehmen, mehr nicht. Das sollte man mit der gebührenden Achtung betrachten. Aber der friedliche Teilnehmer riskiert in einer Demonstration kaum etwas. Der Streikende setzt mehr aufs Spiel. Für ihn geht es immer um direkte wirtschaftliche oder soziale Auswirkungen, die ihn und vor allein auch seine Familie unmittelbar angehen. Darum ist die persönliche Betroffenheit, sich für oder gegen einen Streik zu entscheiden, ungleich schwerwiegender als die, an einer Demonstration teilzunehmen oder nicht. Deshalb ist Solidarität eine wichtige Voraussetzung, die nicht nur für den Erfolg nach aussen bedeutsam ist, sondern Stabilität und Sicherheit nach innen bewirkt. Wer ein Risiko eingeht, sucht Gefährten, die es ihm tragen helfen, die ihn ermutigen, bei der einmal getroffenen Entscheidung zu bleiben, auch wenn Zweifel am Erfolg kommen Je gefährdeter die Lage wird, 'e unsicherer der Ausgang, desto stärker wird darum die Forderung nach Solidarität erhoben.
Damit folgt die Dynamik des Streiks - auf beiden Seiten der Fronten - allgemeinen Gesetzen der Sozialpsychologie. Unter der Erkenntnis, dass eine Aufgabe nur gemeinsam zu bewältigen ist, bilden sich Gefühle der Zusammengehörigkeit heraus, die man gemeinhin "Wir-Gefühl" nennt und die eine Abgrenzung gegenüber "den anderen" zur Folge hat, denen man sich mehr oder weniger fremd bis feindlich gegenübersieht. Die Gemeinsamkeit wird oft durch Symbole, - Abzeichen, Fahnen, historisch: rote Nelken und Schlipse zum 1. Mai - und Verhaltensnormen betont, die Geschlossenheit und Stärke auch über den einzelnen Anlass hinaus auf Dauer bekunden. Sich solchen Normen zu entziehen, sich nicht zu bekennen oder gar die Gruppe zu verlassen, bedeutet Beeinträchtigung ihrer Stärke und mindert die Moral. Da Stärke und Geschlossenheit Bedingungen des Erfolges sind, kann einem Streikenden der Arbeitswillige in einer solchen Situation nur als "Streikbrecher" erscheinen. Im Urteil des Streikenden verdient er die Verachtung der Kollegen. Dies wird als ein sozialer Druck erlebt, dem man sich nur schwer entziehen kann, gerade weil er zumeist freundschaftlich mahnend erfolgt. Blicke und Gesten üben hier die stärkste Wirkung aus. Aber es kommt auch zu Beschimpfungen und gelegentlichen körperlichen Auseinandersetzungen. Die erheblichen Ausschreitungen in dem langen Bergarbeiterstreik in England 1985 geben ein beredtes Beispiel einer extremen Eskalation.
Man muss hier deutlich unterscheiden zwischen der subjektiven Überzeugung, für die richtige Sache einzustehen, einen unsolidarischen Kollegen zur Ordnung rufen zu müssen und deren objektiver Berechtigung. Andere, dem Streik entgegenstehende Meinungen und die Bereitschaft zu arbeiten, sind objektiv genauso berechtigt, aber sie tragen das Odium des Verrates. Einen sinnentsprechenden Gegensatz gibt es zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Natürlich darf es objektiv den Arbeitnehmern nicht benommen sein, gegen ungünstige Arbeitsbedingungen zu streiken, aber genauso unbenommen ist es dem Arbeitgeber, sich mit legalen Mitteln dagegen zu wehren. Das subjektive Gefühl, im Recht zu sein, ist auf beiden Seiten erheblich.
Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass die hohe emotionale Betroffenheit bei Streikenden, Arbeitswilligen und der gegenüberstehenden Arbeitskampfpartei Möglichkeiten einer unkontrollierbaren Entwicklung bedeuten kann.
Je nach Anzahl und Empörung der Streikenden sind deshalb zwei Gefahren gegeben, die die Polizei einkalkulieren muss:
Emotionales Engagement grosser Menschenmengen bringt oft das Abrutschen in Gewalttätigkeit einzelner mit sich. Gewalt regt Gewalt an, so dass es zu Aufschaukelungsprozessen kommen kann, an der verbal oder tatsächlich schliesslich viele beteiligt sind.
Wo solche Prozesse ablaufen, besteht immer eine Gelegenheit, die Streiksituation für pseudo-revolutionäre Ziele zu missbrauchen. Das ist erklärte und unverhohlene Absicht politischer Gruppierungen, die einen anderen Staat anstreben und die das Streikziel selbst nur am Rande interessiert. Ein bekannte Beispiel hierfür ist der Strassenbahnerstreik in Wien 1947. In der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ist es den Gewerkschaften bisher immer gelungen, solche Versuche zu unterbinden. Das - im Vergleich zu den meisten Ländern der Welt - auf hohem Einkommensniveau sehr ausgeglichene Sozialgefüge in der Bundesrepublik gibt für Umsturzversuche auch kaum einen geeigneten Nährboden ab, was mit Sicherheit auch der Erfolg gewerkschaftlicher Arbeit und des sinnvollen Einsatzes von Streik ist.
1. Ein grosser Teil der Bevölkerung identifiziert sich mit Streikzielen. Auch viele Beamte können erheblich am Erfolg eines Streiks interessiert sein. Sie sind deshalb u. U. in einer besonderen Konfliktlage.
2. Um Absichten der Polizei klarzustellen und Missverständnisse schon im Ansatz zu verhindern, muss der Polizeiführer intensiven Kontakt zur Streikleitung herstellen.
Funktionsträger eines Streiks sind zumeist wesentlich besser als Demonstrationsveranstalter in der Lage, Einfluss auf das Handeln der Beteiligten zu nehmen. Ihre Mitwirkung bei der Wahrung des inneren Friedens und des friedlichen Konfliktaustrags ist deshalb von besonderer Bedeutung.
Bei Kontakten ist die Neutralität der Polizei Garant der Friedenswahrung. Eine Parteinahme oder auch nur der Versuch einer Vermittlung im Konflikt beeinträchtigen den Erfolg polizeilicher Tätigkeit.
3. Einsatzfälle sind insbesondere
Abschliessend sollte bedacht werden, dass die Wahrung des Friedens in einer Auseinandersetzung Aufgabe der Kontrahenten, nicht aber der Polizei ist. Diese Pflicht zur Veranstaltungsdisziplin muss den Parteien auch von der Polizei deutlich gemacht werden. Dabei ist es wichtig, Zweckmässigkeitserwägungen in den Vordergrund zu rücken und nicht moralische Appelle, denn in einem Kampf um wesentliche Interessen glaubt jeder, das Recht und die höhere Moral stünden auf seiner Seite.
4. Verhaltensgrundsätze für Ordnungskräfte
Die Begeisterungsfähigkeit ist von unserer Gesellschaft zwar anerkannt und geduldet abler auch gelegentlich belächelt. vor allem. wenn die Identifikation, der Kult zu ausgeprägt werden. Grundsatz 1:
Begeisterte Menschen müssen ernst genommen werden. Die Ansprache darf keine Geringschätzung des Begeisterungsmotivs enthalten, weil dies zu Oppositionshaltungen führt.
Beispiele:
Nicht: "Warum (zum Teufel) drängeln Sie denn so? Der
Papst ist doch auch nur ein Mensch."
Sondern: "Bitte nehmen
Sie aufeinander Rücksicht, jeder von uns möchte den Papst sehen."
Nicht: "Warten, Sie gefälligst bis zum Einlass
an der Absperrung. Sie werden die langmähnigen Affen noch früh
genug zu sehen bekommen."
Sondern: "Behalten Sie bitte
etwas Geduld, Sie werden rechtzeitig die Ankunft der Band erleben können.
In wenigen Minuten erfolgt der Einlass, halten Sie bitte Ihre Eintrittskarten
bereit."
aus: Hornthal, Steffen M. und Honka, Alfred H.: Psychologische Beeinflussungsmöglichkeiten bei Gesprächen im Sicherheits- und Ordnungsdienst, S. 5, Kleine Polizei- Bücherei, Lübeck 1971