17.08.2002 - H. Schiedel
Thesen zum aktuellen "Rechtspopulismus" in Europa
*Die Rede vom "Rechtspopulismus" dient oft (und v.a. in Österreich) dazu, Ross und Reiter nicht beim Namen nennen zu müssen. Entgegen dieser verharmlosenden Intention vieler AkteurInnen im politischen Diskurs, halten wir an der Charakterisierung der FPÖ als rechtsextrem (1) fest.
*Das, was heute als "Rechtspopulismus" analysiert wird, erinnert in vielerlei Hinsicht an den historischen Bewegungsfaschismus (2), ohne dass dabei dessen nationalen und historischen Spezifika berücksichtigt würden. Im Unterschied zum Bewegungsfaschismus greift der "Rechtspopulismus" in der Regel nicht "sowohl zu einer glorifizierenden Beschwörung präliberaler Vergangenheit als auch zu einer entstellten Version gegenwärtiger revolutionärer Ideologien." (Löwenthal 1990: 146) Wie der von Löwenthal und anderen analysierte US-amerikanische Bewegungsfaschismus der 40er und 50er Jahre operiert auch der "Rechtspopulismus" noch im Rahmen der liberalen Demokratie. Michael Scharang trug dem Rechnung, als er bereits 1986 vom "demokratischem Faschismus" sprach. Im Zustand der totalen Verdichtung des Verblendungszusammenhanges und der Macht kann der Faschismus "demokratisch" sein, weil er hegemonial ist.
*Bei allen Einwänden gegen den Begriff kann er hilfreich sein, wenn es darum geht, die verschiedenen Parteien und Gruppen in Europa zu vergleichen. Als Kriterium der Abgrenzung von Rechtsextremismus und "Rechtspopulismus" dient das Verhältnis der jeweiligen Partei zum historischen Faschismus und Nationalsozialismus sowie die Existenz einer über simple Anti-Haltungen (gegen Steuern, Migration usw.) und einer Affirmation des Neoliberalismus hinausgehenden Programmatik. (Dass diese - wie das Beispiel der FPÖ zeigt - durchaus widersprüchlich sein kann, tut dieser Differenzierung keinen Abbruch. Der freiheitliche Weltanschauungsmix - von neoliberal bis national-sozial - hat seinen Grund in der sozialen Heterogenität der AnhängerInnen- und FunktionärInnenschaft. Er ist aber um einen rechtsextremen Kern, welcher sich v.a. im Vorrang "natürlicher Gemeinschaft" (Volk, Familie) gegenüber dem Individuum ausdrückt, gruppiert.)
Als "rechtspopulistisch" erscheinen demnach die Fortschrittspartei (Nor), Dänische Volkspartei, Lega Nord, Liste Pim Fortuyn, Schweizerische Volkspartei usw., als rechtsextrem die FPÖ, Reps, der Front National, Vlaams Blok usw..
*Daneben kann der Begriff hilfreich sein bei der Analyse der Form der Agitation, während der des Rechtsextremismus mehr auf die Inhalte abzielt. So gesehen, ist etwa die FPÖ eine rechtsextreme Partei, die "populistisch" agiert. Würde sie das nicht, könnte sie gerade mal das rechtsextreme Potential (ca. 18%) mobilisieren. Tatsächlich kann der Erfolg der FPÖ (27% bei den Wahlen 1999; unter unselbständig Beschäftigten gar 47%) nicht ausschließlich mit gefestigter rechtsextremer Weltanschauung erklärt werden. Zu diesem Motiv kommt eine notwendig diffuse und oberflächliche Protesthaltung, die sich Jörg Haider zu Nutzen macht.
*Anstatt von "Rechtspopulismus" sollten wir besser vom "autoritären Populismus" sprechen. Dieser lässt sich wie folgt definieren: "Wesentliches Merkmal eines autoritär-populistischen Diskurses ist es, daß er reale gesellschaftliche Konflikte und Klassengegensätze systematisch dethematisiert. Statt auf vorwärtsgreifende gesellschaftliche Utopien bezieht er sich auf den alltagssprachlichen common sense individualisierter Subjekte. Er zerfasert und entpolitisiert die von Ausbeutung und Unterdrückung herrührenden Erfahrungen, läßt gesellschaftliche Spaltungen und Ausgrenzungen als naturgegebene Prozesse erscheinen, mobilisiert disparate Unzufriedenheiten, Ressentiments und Gruppeninteressen und bindet gleichzeitig diese ideologisch so zusammen, daß die bestehenden Zustände bei den Betroffenen sich selbst legitimieren." (Hirsch/Roth 1986: 161)
*In der Folge möchte ich den Blick auf die Wirkungsweise dieser Diskurse lenken und dabei im Anschluss an Löwenthal, Adorno und anderen die unbewussten Momente in der Beziehung zwischen dem autoritär-populistischen Agitator und seinem Publikum betonen. Anknüpfend an Löwenthals These von der "umgekehrten Psychoanalyse", wie sie von diesen Agitatoren betrieben wird, schreibt Helmut Dubiel: "Der rechtspopulistische Agitator nähert sich seinem Publikum mit der genau gegenteiligen Intention, mit der Analytiker auf den Analysanden zu geht. Die neurotischen Ängste, die kognitiven Verunsicherungen und Regressionsneigungen werden aufgegriffen und mit dem Zweck systematisch verstärkt, den Patienten nicht mündig werden zu lassen." (Dubiel 1986: 42)
*Auch auf die Gefahr der begrifflichen Verdoppelung hin, möchte ich vorher noch betonen, dass der autoritäre Populismus immer einer von oben ist, auch wenn er nicht an der politischen Macht ist.
*Das Subjekt (besser: Objekt) des autoritären Populismus ist das "Volk", oft verstanden als vordiskursive Gemeinschaft der Identischen (hier ist seine notwendige Tendenz zum Rassismus angesprochen), und der mit bestimmten Eigenschaften wie "Rechtschaffenheit", "Fleiß", "Anstand", "Einfachheit" usw. ausgestattete "kleine Mann". Dieser wird implizit als ohnmächtig und explizit in seinem Gegensatz zum Establishment angerufen.
Im Zentrum des autoritär-populistischen Diskurses steht das Gegensatzpaar Wir (die mit allen "positiven" Eigenschaften ausgestatteten "kleinen Leute") und Die (die Nicht-Identischen: unten die "Ausländer" und oben die "Bonzen", "Bürokraten" und "Politiker", die auch den "gerade greifbaren Ersatz für das eigentliche Haßobjekt, die Juden" (Adorno 1995: 124) darstellen.)
*Der Agitator bietet sich den "kleinen Leute", jenen Subalternen, die es sich (zumindest in Österreich unter tatkräftiger Mithilfe der Sozialdemokratie und Gewerkschaften) in ihrem Status bequem gemacht haben und ihre Ohnmacht konformistisch verarbeiten, zur Delegation der Aggressionen und Racheimpulse an. Stellvertretend lebt er diese an Ersatzobjekten aus, nicht zuletzt in einer von Gewalt- und Strafphantasien durchsetzten Sprache. Der Agitator versteht es, das Unbehagen der "kleinen Leute" von dessen Ursachen wegzulenken und sich nutzbar zu machen. "Obwohl das soziale Unbehagen in der Tat auf gesellschaftliche Wirklichkeit verweist, verschleiert und verzerrt es sie gleichzeitig. Malaise ist weder eine Illusion des Publikums noch eine bloße Erfindung des Agitators. Es ist das psychologische Symptom einer bedrückenden Lage. Der Agitator versucht seinerseits keine Diagnose der Beziehung von Symptom und korrelierter Gesellschaftssituation; statt dessen versucht er sein Publikum zur Hinnahme gerade jener gesellschaftlichen Situation zu überreden, die diese Malaise hervorbringt. Unter dem Deckmantel des Protests gegen diese bedrückende Erfahrung verstrickt er sein Publikum noch stärker darin. Da sein Scheinprotest niemals eine wirkliche Lösung anstrebt, besteht sein Verführungsakt letztlich darin, seinen Anhängern den Ausweg aus einem Zustand ständiger Unterdrückung in Form irrationaler Ausbrüche anzubieten." (Löwenthal 1990: 30)
*Der autoritär-populistische Diskurs ist personalisierend und neigt zur Etablierung von Verschwörungsmythen. Der Agitator lobt das Konkrete (Kleine, Authentische, "Heimat" usw.) und hasst das Abstrakte (Urbanität, Kosmopolitik, Globalisierung usw.). Er appelliert nicht ans Interesse, sondern an den Neid und das Ressentiment. Sein Medium ist der Alltagsverstand. "In den Themen, die sich auf Unzufriedenheit beziehen, wird das vage, unartikulierte Mißtrauen der Zuhörer stereotyp auf einen ewigen Betrug abgelenkt; ihr Gefühl ausgeliefert zu sein, wird dazu benutzt, den Glauben zu nähren, daß sie das Objekt einer permanenten Verschwörung seien; dem, der sich ausgeschlossen fühlt, werden Bilder von verbotenen Früchten gezeigt." (Löwenthal 1990: 35)
*Der Agitator bedient sich einer spezifischen Sprache. Diese ist "von rationaler Bedeutung entleert, funktioniert (...) magisch und fördert die archaischen Regressionen" (Adorno 1971: 58). Diese Sprache ist durchsetzt von Metaphern des "Ausmistens" und "Saubermachens". Ihr ist ein katastrophischer Tonfall eigen: Überall behauptet der Agitator Gefahr, Dekadenz und drohenden Untergang. Der autoritär-populistische Diskurs ist inhaltlich schwer kritisierbar, beruht er doch "offenkundig nicht auf der Absicht, durch rationales Aufstellen rationaler Ziele Anhänger zu gewinnen, sondern auf psychologischer Berechnung" (Adorno 1971: 34).
*Mit Erich Fromm lassen sich die autoritär-populistischen Agitatoren als "magische Helfer" (Fromm 1945: 173) beschreiben. Sie "helfen" den vielfältig narzisstisch Gekränkten und in undurchschauter Herrschaft Verfangenen, indem sie diese glorifizieren, ihnen sich selbst als Ideal zum Zwecke der Identifizierung (3) anbieten, sie in ihrer autoritären Aggression bestätigen und es ihnen erlauben, ihre sadistischen Triebregungen an den Nicht-Identischen auszuleben. Das befreiende Gefühl, welches sich dabei beim Publikum einstellt, bindet dieses wieder fester an den Agitator. Weil die Bindung der "kleinen Leute" an den idealisierten Führer, der sich klein und groß zugleich macht, maßgeblich irrationaler Natur ist, ist sie so schwer mit dem Verweis auf rationale Interessen, denen diese Bindung widerspräche, aufzulösen.
*Zumindest Haiders Inszenierung kann auch als "symbolischer Sozialismus" (Goldmann/Krall/Ottomeyer 1992: 60) begriffen werden. In ihr wird soziale Ungleichheit durch völkische Identität überdeckt. Die "kleinen Leute" werden als von übermächtigen Institutionen (Gewerkschaften, Kammern usw.) und PolitikerInnen unterdrückte und verfolgte Opfer angerufen. Die ökonomischen und sozialen Zwänge werden als politisch-institutionelle benannt und so einer tatsächlichen Überwindung entzogen. Gleiches gilt für den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit: An ihrer Stelle bildet der autoritäre Populismus das Gegensatzpaar Arbeit und Nicht-Arbeit. Anknüpfend an die antisemitische Unterscheidung zwischen "schaffenden" und "raffenden" Kapital wird eine Interessensgemeinschaft der Produktiven konstruiert.
*Die ParteigängerInnenschaft autoritärer Populisten lässt sich als "autoritäre Rebellion" (Fromm 1936: 131) begreifen. Das meint einen Scheinaufstand der Autoritären oder KonformistInnen gegen falsche oder alte Autoritäten, die "schwach" geworden sind und deswegen den Zorn der Ohnmächtigen auf sich ziehen.
*Die Ursachen für den Erfolg des autoritären Populismus sind vielfältig. Begünstigt werden derartige Diskurse durch eine herrschende Politik, die sich auf Propaganda, auf bloße Organisierung von Zustimmung beschränkt. "Politik ist hier (...) nur mehr dazu da, die Menschen von dem abzuhalten, was sie angeht." (Lenk 1994: 48) Daneben ist die Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie als Bedingung des autoritären Populismus zu nennen. "Der rechtspopulistische Politiker (...) verspricht also zunächst, Politik überhaupt wieder in ein eigenes Recht zu setzen. Sie bieten kein Schauspiel der Unterwerfung, sondern im Gegenteil das Schauspiel des Widerstandes. Sie behaupten von sich, ein politisches Subjekt zu werden." (Seeßlen 1999)
*Mit dem Stopp der Demokratisierung unter den Bedingungen des Neoliberalismus schwanden die Erfolgsaussichten solidarischen Handelns entlang gemeinsamer sozialer Interessen. Dies begünstigt die "Tendenz zu _narzißtischer Perspektivenverengung' sozialen Protests" (Berghold/Ottomeyer 1995: 320).
*Die autoritär-populistische Mobilisierung unbewusster und regressiver Prozesse "wird durch die seelische Verfassung all der Gesellschaftsschichten erleichtert, die unter sinnlosen Versagungen leiden und darum eine verkümmerte, irrationale Mentalität entwickeln." (Adorno 1971: 61) Diese Mentalität wird begünstigt durch die politischen Praxen, mit welchen die historischen Parteien der "kleinen Leute" deren Zustimmung organisierten. Sie resultiert aus der jahrzehntelangen Integration des negativ individualisierten Menschen in den Nationalsozialstaat. Die kollektive Wahrnehmung sozialer Interessen, welcher der Ausbildung einer derartigen sozialen Mentalität im Wege stünde, kann verlernt werden. Begünstigt wird dies durch eine Sozialdemokratie samt angeschlossener Gewerkschaft, welche ihre Hauptaufgabe seit jeher in der Befriedung ihrer Basis sieht. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Heute stimmen mehr als 90% der ÖsterreicherInnen dem Satz "Im Ringen um eine gesunde Wirtschaft sitzen Arbeitnehmer und Arbeitgeber im selben Boot" zu. In diesem Prozess der Sozialnationalisierung der Massen wurde die soziale Frage als nationale desartikuliert.
*Der autoritäre Populismus ist (zumindest in Österreich) die Fortsetzung der Sozialdemokratie mit anderen Mitteln (4). Die "kleinen Leute" wurden vom Objekt technokratischer Verwaltung zum Adressaten Haiderscher Agitation. "Die Kontinuität zwischen dem traditionellen österreichischen System der Nachkriegsepoche und dem Nationalpopulismus liegt jedoch weniger in dessen politischer Programmatik, als in der Beziehung zwischen den _kleinen Leuten' und jenem, der ihre Anliegen vertritt. Dieses Verhältnis ist weder eines der Repräsentation, durch die rationale Interessen gebündelt und verhandelbar gemacht werden, noch eines der Mobilisierung, in welcher der politische Führer das Volk als Masse zur Aktion treibt. Es handelt sich vielmehr um eine Delegation von Interessen in die Hände des politischen Führers, dem uneingeschränktes Vertrauen entgegengebracht wird, weil er _einer von Euch' ist. Die Einheit von Volk und dem populistischen Führer gründet auf Identität, nicht auf Interesse, und diese Identität wird erst durch den Gegensatz zu _denen da oben' hergestellt. (...) Jahrzehnte der sozialpartnerschaftlichen und großkoalitionären Ruhigstellung von Interessenkonflikten haben jene Haltung des passiven Vertrauens geformt, an das Jörg Haider appelliert." (Bauböck 2001: 87)
*Auf politischer Ebene steht und fällt eine wirksame Gegenstrategie mit einem Wechsel der Form: Ein emanzipatorischer Populismus ist ein Widerspruch in sich. Fortschrittliche Politik kann sich nicht auf die "kleinen Leute" beziehen, sondern nur auf deren Abschaffung. In unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen müsste dabei vielmehr an der Reartikulation sozialer Interessen gearbeitet werden. Dazu bräuchte es neben entsprechend kämpferischen Organisationen mündige StaatsbürgerInnen mit demokratischem Bewusstsein. Die gutgemeinten Vorschläge, durch politische Reformen (etwa des Wahlrechts) die Demokratie zu festigen, kranken an ihrem passiven Charakter und scheinen so wenig geeignet, aus Untertanen aktive BürgerInnen zu machen. Und die Forderung nach Ausweitung plebiszitärer Mitbestimmungsmöglichkeiten gehört nicht umsonst zum Arsenal des Populismus. Unter den gegenwärtigen Bedingungen brächte die direkte Demokratie wohl das kollektive Ressentiment an die Macht. Wir sollten demgegenüber vielmehr von der Notwendigkeit einer nachholenden Demokratisierung von unten ausgehen. Diese beschränkt sich nicht auf Änderungen der parlamentarischen Geschäftsordnung oder ähnlich oberflächliche Reformen, sondern zielt als offenes Projekt notwendig auf sämtliche Lebensbereiche. Darin stößt sie an die Grenzen bürgerlicher Herrschaft, was ihr heute utopischen Charakter verleiht.
*Dieser notwendigen Repolitisierung des Sozialen steht daneben die aktuelle Legitimationsstrategie politischer Herrschaft entgegen. Mit dem permanenten Verweis auf Sachzwänge - Stichwort "Standortsicherung" - wird der Spielraum oppositioneller Haltungen eingeengt. Ein Bundeskanzler und sozialdemokratischer (!) Parteichef, der Menschen mit Visionen den Gang zum Arzt verordnete, brachte dieses anti-politische Denken auf den Punkt. Der autoritäre Populismus gewinnt überall dort an Boden, wo "Politik als manifestes Geschehen immer mehr an Bedeutung verliert. Weder ist das Volk der Souverän noch die Regierung sein Instrument. Die Politik hat sich entmachtet. In der rechtspopulistischen Gedankenwelt kann das nur zwei Gründe haben (und beide sind gleich ekelhaft): Die Politiker sind schwach. Sie sind nicht Manns genug, sich gegen die unklaren Verstrickungen und Vernetzungen durchzusetzen, sie bilden nicht die 'Persönlichkeit' aus; es fehlt ihnen an der 'phallischen Repräsentanz'. Oder aber: Es sind Verräter. Sie verraten 'unsere' Interessen an die internationalen, ebenfalls unklaren Verschwörungen." (Seeßlen 1999)
(1) Der Einschätzung liegt ein spezifischer Rechtsextremismus-Begriff zu Grunde: Dieser von Holzer (1993) etablierte Begriff hebt im Unterschied zur deutschen Diskussion nicht vorrangig und formalistisch auf eine Verfassungswidrigkeit und Frontstellung gegen die liberale Parteiendemokratie ab, sondern fasst Rechtsextremismus in erster Linie inhaltlich, als Postulat der natürlichen Ungleichheit, konkret als organisierten Rassismus und Antisemitismus, als völkischen und integralen Nationalismus, verbunden mit autoritären Einstellungsmustern. Er wird nicht nur von der am historischen Faschismus orientierten Begriffsbildung abgegrenzt, sondern auch von totalitarismustheoretischen Aufladungen.
(2) Mit dem Begriff "Bewegungsfaschismus" soll die Distanz zum (historischen) Faschismus an der Macht hervorgehoben werden. Im Unterschied zum faschistischen Herrschaftssystem ist dieser nicht unmittelbar funktional abhängig von sozialer Macht im Kapitalismus, sondern führt stärker ein politisches Eigenleben.
(3) Wie die historischen Führer erscheinen auch die autoritär-populistischen Agitatoren als Vergrößerung des Selbst: "Indem er den Führer zu seinem Ideal macht, liebt der Mensch eigentlich sich selbst, nur unter Beseitigung der Misserfolgs- und Unzufriedenheitsmerkmale, die sein Bild vom eigenen empirischen Selbst entstellen." (Adorno 1971: 43) Dies erklärt die Tatsache der männlichen Überrepräsentanz unter den Haider-AnhängerInnen: Er ist wie sie gerne wären - sportlich, dynamisch, ewig jung und erfolgreich, mutig, stark usw. usf..
(4) So gesehen hat Haider - bei aller Demagogie - nicht ganz unrecht, wenn er die rechtsextremen und -populistischen Parteien Europas als "Erben der Sozialdemokratie" und sich selber als "Fraktionssprecher der alten Sozialdemokratie in der FPÖ" (Kurier, 11. 8. 2002) bezeichnet.
Literatur:
Adorno, Theodor W. (1971): Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt a. M.
ders. (1995): Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M.
Bauböck, Rainer (2001): Grenzziehungen. Zur Konstruktion des Volks durch den österreichischen Nationalpopulismus, in: Appelt, Erna (Hg.): Demokratie und das Fremde. Multikulturelle Gesellschaften als demokratische Herausforderung des 21. Jahrhunderts, Innsbruck/Wien/München
Berghold, Joe; Ottomeyer, Klaus (1995): Populismus und neuer Rechtsruck in Österreich im Vergleich mit Italien, in: Sieder, Reinhard; Steinert, Heinz; Tálos, Emmerich (Hg.): Österreich 1945-1995. Gesellschaft - Politik - Kultur. Wien
Dubiel, Helmut (1986): Das Gespenst des Populismus, in: ders. (Hg.).: Populismus und Aufklärung. Frankfurt a. M.
Fromm, Erich (1936): Studien über Autorität und Familie. Forschungsbericht am Institut für Sozialforschung. Paris
ders. (1945): Die Furcht vor der Freiheit. Zürich
Goldmann, Harald; Krall, Hannes; Ottomeyer, Klaus (1992): Jörg Haider und sein Publikum. Eine sozialpsychologische Untersuchung. Klagenfurt/Celovec
Hirsch, Joachim; Roth, Roland (1986): Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Postfordismus. Hamburg
Holzer, Willibald I. (1993): Rechtsextremismus. Konturen, Definitionsmerkmale und Erklärungsansätze, in: Stiftung Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus. Wien
Lenk, Kurt (1994): Rechts, wo die Mitte ist. Studien zur Ideologie: Rechtsextremismus, Nationalsozialismus, Konservativismus. Baden-Baden
Löwenthal, Leo (1990): Falsche Propheten. Studien zum Autoritarismus, in: ders.: Schriften Bd. 3. Frankfurt a. M.
Seeßlen, Georg (1999): Wie werde ich ein Rechtspopulist?, in: Jungle World, 17. 11. 1999