19.08.2002 - ---
Ausgrenzung und Vertreibung so genannter sozialer Problemgruppen aus dem Bereich Hauptbahnhof und St. Georg sind mittlerweile allgemein akzeptierte Vorgänge, die kaum noch Widerspruch hervorrufen. Ausgrenzung und Vertreibung sind der nachhaltigste Ausdruck eines menschenverachtenden Politik- und Gesellschaftverständnisses, dessen Strategie darin besteht, Lösungen sozialer Probleme allenfalls zu simulieren.
Bereits 1995 wurde das so genannte »Handlungskonzept St. Georg« von der Innenbehörde verabschiedet. Zum einen sollte mit offener Repression »die Szene« am Hauptbahnhof »entzerrt« werden - 110.000 Platzverweise, Ingewahrsamnahmen und Festnahmen waren die unmittelbare Folge. Zum anderen stellte die Sozialbehörde neue (Straßen-)SozialarbeiterInnen ein, die vor Ort als AnsprechpartnerInnen dienen sollten, um eine bessere Vermittlung der »Problempersonen« an Hilfeeinrichtungen außerhalb St.Georgs zu erreichen. Ein wesentlicher Aspekt dieser Strategie bestand auch zu diesem Zeitpunkt schon in der Unsichtbarmachung derjenigen, die als schmutzige Flecken auf der Visitenkarte der Stadt definiert werden. Diese Strategie stößt trotz der immer stärker werdenden Repression an ihre Grenzen, zumal unter dem neuen Senat die finanziellen Zuwendungen an Hilfseinrichtungen massiv reduziert wurden. Denn: Kein noch so gut gemeintes Hilfsangebot, kein noch so bösartiger Versuch der Zerschlagung kann die soziale Funktion offener Szenen für die Menschen, die sich in ihnen aufhalten, zerstören. Neben der Rolle als Ver- und Einkaufsmarkt sind diese Szenen Orte offener Kommunikation und unkontrollierte, nicht reglementierte Treffpunkte.
Vor und nach dem Wahlkampf 1997 verschärften der Senat und die Behörden ihre Anstrengungen, Personen aus den Szenen zu »lösen« und in diverse Hilfseinrichtungen zu zwingen. Der rot-grüne Senat weitete die niedrigschwelligen Einrichtungen aus, ohne allerdings das finanzielle Budget zu steigern. In erster Linie bedeutete dies neben der Schaffung neuer Druckräume, für die bestehenden Einrichtungen längere Öffnungszeiten und größeren Arbeitsdruck auf Seiten der SozialarbeiterInnen. Parallel dazu wurden die offenen Repressionsmaßnahmen verstärkt und mit den »neuen Angeboten« legitimiert, so z.B. das schärfere Vorgehen der Polizei am Hauptbahnhof, die Zerstörung der Sitzmöglichkeiten am Bahnhofsvorplatz oder die Erteilung von Sondernutzungsrechten für die Deutsche Bahn AG in den überdachten Bereichen des Bahnhofsvorplatzes. In allen Bereichen der Sozialpolitik und der sozialen Hilfesysteme bedeutete die enge Verzahnung zwischen Sozialpolitik und Repression gleichzeitig eine stärkere Einbindung der Sozialarbeit und der Einrichtungen in die staatliche Ausgrenzungsstrategien. Sie werden gezwungen die Funktionen eines »sozialen Räumdienstes« und einer Hilfspolizei zu übernehmen. Einrichtungen, die sich dem widersetzen und an einem akzeptierenden Ansatz festhalten, werden mit massiven Einsparungen bedroht.
Der neue Senat aus CDU, »Schillpartei« und FDP setzte von Anfang an auf eine Verstärkung der Repression durch die Strafverfolgungsbehörden. Durch massive Repressionsmaßnahmen bis in den unmittelbaren Bereich der Hilfseinrichtungen, werden die Szenen in Bewegung gebracht, mit dem Ergebnis, dass die Verelendung zunimmt, da die Menschen immer weniger Zeit haben, ihr Leben zu organisieren und die Hilfseinrichtungen nicht mehr aufsuchen. Gleichzeitig kürzt der neue Senat im großen Umfang die Ausgaben für die Hilfseinrichtungen. Die Begründungen, die für Ausgrenzung und Vertreibung herhalten müssen, sind auch beim neuen Senat die selben wie beim alten. Im Fadenkreuz staatlicher Repression steht allgemein »sozial abweichendes« Verhalten. Immer waren es Teile der städtischen Armutsbevölkerung, die zu »Problemgruppenå« definiert, ausgegrenzt und unsichtbar gemacht werden sollten, sei es im Bettlerpapier des rot/grünen Senats, sei es in den Debatten um Zuzugssperren für so genannte soziale Problemgruppen oder sei es in der brutalen Vertreibungspolitik des jetzigen Senats. Mit zunehmend aggressiveren Ausgrenzungsideologien wird die Idee sozialer Gerechtigkeit umgedeutet. Es wird neu definiert, wer ein Recht hat, (hier) zu leben, wessen Bedürfnisse berechtigt sind, welche Bevölkerungsgruppe akzeptierte Rechtsansprüche an die »Gemeinschaft der Steuerzahler« geltend machen kann, wer nur ein allenfalls geduldeter Almosenempfänger ist, bzw. wer überhaupt zur Gesellschaft gehört. Die Klagen über den »zu teuren Sozialstaat«, der ineffizient organisiert sei, Leistungen zu ungenau verteile und den Zusammenhang zwischen Sozialleistungen und Arbeit gelockert habe, erfüllen eine Aufgabe: Sie sind die aggressive Bekräftigung der Leistungsorientierung im Sozialstaatsgedanken. Keine staatlichen Leistungen ohne Gegenleistungen oder: Nur wer arbeitet, darf auch essen! Der offensichtliche Irrsinn einer solchen Ideologie in Anbetracht von vier Millionen Arbeitslosen auf dem ersten Arbeitsmarkt fällt kaum noch auf. Und so lautet die allgemeine gesellschaftliche Leitfrage scheinbar weiterhin: Wollen wir uns die Kosten der Armut leisten ? Was kostet ein Mensch? Verarmte Menschen werden zu Feinden erklärt, weil ihre Armut Kosten verursacht. Flankiert werden diese Ausgrenzungsideologien durch die rassistischen Grundkonsense der weißen deutschen Mehrheitsbevölkerung. Das propagierte Feindbild des »schwarzen Dealers« und die von ihm ausgehende Bedrohung für den gesunden deutschen »Volkskörper«, bilden die Basis für rigidere Ausgrenzungs- und Vertreibungsstrategien gegen alle Nichtdeutschen am Hauptbahnhof und St. Georg. In diesem innerstädtischen Quartier wird brennglasartig deutlich, in welche Richtung sich der eigentlich politische Diskurs auf einen – rassistisch durchwirkten – Ordnungsdiskus verschiebt.
Die Würde des Hauptbahnhofs bleibt unantastbar
Wie der Mopo vom 10. August zu entnehmen war, darf die Initiative »Team Sonntagsfrühstück« demnächst nicht mehr Sonntags Brote und Getränke auf dem Hachmannplatz vor dem Hauptbahnhof an Obdachlose und Bedürftige verteilen. Das Bezirksamt Mitte hat solch aufrührerischem Treiben ein Ende bereitet, nachdem, laut Mopo, in einem Bericht der Polizeiwache 11 die Befürchtung geäußert wurde, »Drogendealer könnten sich unter die auf das Frühstück Wartenden mischen«. Außerdem hätten sich am Hauptbahnhof wartende Stadtrundfahrtunternehmen über die Belästigung ihrer potentiellen Kundschaft beschwert.
Dieser Vorgang zeigt exemplarisch, wie effektiv Polizei, Stadtverwaltung, Gewerbetreibende und letztendlich auch die Bahn AG, die den Hachmannplatz von der Stadt gepachtet hat, zusammenarbeiten, wenn es darum geht, Obdachlose, TrebegängerInnen, DrogenuserInnen und überhaupt alle nicht kaufkräftigen und konsumorientierten Mitmenschen aus der schönen neuen Bahnhofswelt zu vertreiben. So unternahm Bahnchef Mehdorn erst vor kurzem den Versuch, die Entfernung der Bahnhofsmissionen aus allen Bahnhöfen durchzusetzen, da diese eine Klientel anzögen und zum Verweilen im Bahnhof animierten, die dort unerwünscht sei.
Völlig offen und brutal geht die Bahn AG seit ihrer Privatisierung Mitte der neunziger Jahre gegen alle randständigen gesellschaftlichen Gruppen vor, die das Bild des sicheren, kontrollierten, normierten Bahnhofs in irgend einer Weise trüben könnten. Der Grund hierfür liegt auch in der Privatisierung der Bundesbahn und damit der Wandlung der Bahn vom Staatsbetrieb mit Versorgungsauftrag in ein Unternehmen mit dem Ziel der Gewinnmaximierung. In diesem Umstrukturierungsprozess versucht die Bahn AG vor allem, dem Flugzeug Konkurrenz zu machen und eine neue Kundenklientel für sich zu gewinnen. Die Bahn soll nicht mehr als Transportmittel der unteren Bevölkerungsschichten wahrgenommen werden, sondern den gehobenen Mittelstand sowie Geschäftsreisende anziehen. Daher wird extrem viel Geld in den Ausbau der Hochgeschwindigkeitstrassen (ICE 300) und in die Verbindungen zwischen Metropolenregionen investiert. Der Regional- und Nahverkehr sowie die Möglichkeiten für Menschen, die sich kein Auto leisten können und/oder in strukturschwächeren Gebieten leben, mobil zu sein, gerät hingegen mehr und mehr ins Abseits.
Um der neugewonnenen kaufkräftigen Kundschaft den Anblick des »niederen Sozialmilieus« (so M. v. Gerkan, vielbeschäftigter Bahn-Architekt) zu ersparen, wurde Mitte der neunziger Jahre das 3-S Programm: Sicherheit, Sauberkeit, Service ins Leben gerufen. Unter dieser Devise geht die Bahn AG gegen als unerwünscht deklarierte Personen (DrogenuserInnen, Obdachlose) oder Tätigkeiten (Sitzen bzw. Lagern auf dem Fußboden, Herumlungern, Betteln usw.) vor. In den Bahnhöfen wird mittlerweile selbst eine so harmlose Tätigkeit wie das Verkaufen von Obdachlosenmagazinen mit Hausverbot und Strafanzeigen geahndet.
Seit 1994 unterhält die Bahn AG zum Zweck der Durchsetzung ihrer hehren Sicherheits- und Kontrollstandards einen eigenen Wachdienst, die »Bahn Schutz und Sicherheit GmbH«. Dieser arbeitet eng mit dem Bundesgrenzschutz (BGS) zusammen, der erst seit 1992 im Zuge der Vereinigung bahnpolizeiliche Aufgaben übertragen bekam und so seine Einflussmöglichkeiten enorm ausdehnen konnte. Da der BGS im Zuge dieser Zusammenarbeit von der Bahn AG das Hausrecht übertragen bekommt, kann er auch gegen solche Personen vorgehen, die im strafrechtlichen Sinne gar nichts verbrochen haben, sondern vielleicht bloß auf dem Fußboden sitzen. Gleichzeitig hat er aber natürlich als staatliches Exekutivorgan viel weitreichendere Kompetenzen als die Sicherheitsdienste, ein Umstand der von der Bahn AG natürlich gerne mitgenutzt wird. Zusammen mit den diversen S-Bahn-Sicherheitsdiensten, Kontrolleuren, dem S-Bahn-Servicepersonal, sowie der Polizei kommt es so zu der ans Absurde grenzenden Situation, dass im Hamburger Hauptbahnhof fünf verschiedene Sicherheitsdienste flanieren, deren wesentliche Aufgabe es ist, unerwünschte Personen zu schikanieren und zu vertreiben.
Die Bahn AG ist Vorreiterin eines Prozesses der sozialen Verdrängung und Ausgrenzung in den Städten, indem sie die Umwidmung von ehemals öffentlich zugänglichen Plätzen mit Hilfe des Hausrechtes in nur noch für konsumierendes Publikum zugängliche Erlebnislandschaften vorantreibt. In der diese Prozesse begleitenden Ideologie werden Phänomene wie Obdachlosigkeit oder Armut mehr und mehr als individuelles Versagen wahrgenommen und dargestellt und ihr gesellschaftlicher Kontext negiert. Daher werden auch zunehmend weniger Anstrengungen unternommen, über sozialpolitische Maßnahmen regulierend einzugreifen. So hat auch die Bahn AG keinerlei Interesse am weiteren Schicksal der von ihrem Gelände Vertriebenen, Hauptsache, sie sind nicht mehr da. Mit dieser Meinung verzahnt sich das Unternehmen nicht nur mit den zahllosen Gewerbetreibenden und ihren Lobbyverbänden, die in Hamburg schon seit Jahren jedem politischen Vorstoß zujubeln, faktische Innenstadtverbote für all jene zu verhängen, die in der City etwas anderes vorhaben könnten als zu konsumieren. Die Bahn AG befindet sich auch in bester Gesellschaft mit dem Hamburger Senat als Borste des ordnungspolitischen Besens mit dem zum Großreinemachen ausgerufen wird.
Was im Bahnhof verhandelt wird, ist nicht nur der Preis einer Fahrkarte oder – wie in der Wandelhalle – der Preis für ein Parfüm, ein Kleidungsstück oder ein Fischbrötchen. Verhandelt wird auch der Preis, den bestimmten Bevölkerungsgruppen für die Ware »Sicherheit« zu zahlen bereit sind oder schlichtweg zahlen müssen. Gegen diese Vorstellung von öffentlichen Räumen kann es nur eins geben: Ein herzliches, energisches und kämpferisches »Platz nehmen«.