In der Gemeinde der Gebirgsjäger die richtigen Fragen stellen

Editorial

„Schönen guten Tag, meine Damen und Herren: Bitte sagen Sie uns: Wie geht das hier ,Tür an Tor mit anständigen Familienvätern friedlich zusammenzuwohnen, die vielleicht Mitglied einer demokratischen Partei, der CSU, der SPD usw. sind, die während des zweiten Weltkrieges in den Gebirgsj­ägereinheiten zu Massenmördern geworden sind? Bitte sagen Sie uns: Wie lebt man mit zu Massenmördern gewordenen Wehrmachtssoldaten hier in ihrer schönen Gemeinde zusammen?“

Mit dieser im freundlichen Ton gehaltenen Ansprache wurden Pfingsten 04 Café-Besucherinnen in der idyllisch gelegenen Fußgängerzone in Mittenwald durch Autonome, Antimilitaristen und Antifaschisten in Form einer Art Straßentheaters konfrontiert. Die so freundlich Angesprochenen hatten jede Möglichkeit, ja so gut wie jede Freiheit, darüber nachzudenken, was hier die aus ihrer Sicht richtige Antwort ist. Wenig überraschend blieben aber die freundlich Angesprochenen eine vernünftige Antwort auf diese, wenn auch höflich gestellte, aber in der Tat zunächst etwas ungewöhnlich erscheinende Frage schuldig.

Das ist für uns, die Freunde und Freundinnen des Arbeitskreises angreifbare Traditionspflege mit seinen Landesverbänden, ein Grund mehr dafür, sich auch dieses Jahr wieder zu Pfingsten in die zumindest in einem touristischen Sinne außerordentlich reizvoll gelegene Gemeinde Mittenwald aufzumachen.

Es ist nun schon das vierte Jahr, dass wir zum Protest ausgerechnet in diesen Ort aufbrechen. Unmittelbarer Anlass dafür sind die schon seit 1952 durchgeführten Feierlichkeiten der Gebirgsjäger auf dem Hohen Brendten, auf denen bis zum letzten Jahr öffentlich ausgesprochen der „großen Leistungen der Gebirgs­truppe im Zweiten Weltkrieg“ gedacht wird. Ursprünglich dachte man noch, dass wir mit unserem energischen Widerspruch dagegen fast schon zu spät kommen würden. Zwischenzeitlich ist uns aber auch gegen unser eigenes Wunschdenken und unsere Gutwilligkeit gedämmert, dass sich die instruktive deutsche Massenmordgeschichte des 20. Jahrhunderts leider nicht durch den Sensenmann nach nirgendwohin auflöst. Denn je näher man auf die Gemeinde Mittenwald schaut, umso mehr muss man verblüfft feststellen, wie hier seit rund sechs Jahrzehnten eine ganz eigene Form der Aufarbeitung der Vergangenheit Platz gegriffen hat. Und zwar eine, die noch unerfreulicher und schamloser ist, als die der offiziellen Staatsreligionsfeierlichkeiten, in Form von Parlamentsbesinnungsansprachen. Stattdessen hieß „Aufarbeitung der Vergangenheit“ in Mittenwald schon immer ganz konkret die Anwendung einer gewieften Praxis des Verdrängens und Arrangierens mit dem Wissen um die von Gebirgs­jägereinheiten während des Zweiten Weltkrieges in ganz Europa verübten Kriegsverbrechen. Nicht genug damit, das die heute „Karwendel-Kaserne“ genannten Bundeswehrgebäude in Mittenwald noch bis Ende 1995 den Namen eines rundum überzeugten nationalsozialistischen Gebirgsjägergenerals trugen. 60 Jahre nach dem für die Menschheitsgeschichte so glücklichen 8. Mai 1945 wird das ehrende Eingedenken deutscher Gebirgsjäger an die Hohe Zeit nationalsozialistischer Militär- und Massenmordpraxis zu Beginn des 21. Jahrhunderts durch die Bundeswehr logistisch unterstützt.

Der Umstand, dass viele Bewohnerinnen und Soldaten der Gemeinde Mittenwald sich so lange in ganz filigraner Weise in das Verdrängen, Beschweigen und Arrangieren mit der deutschen Massenmordpraxis einzuüben wus­sten und schließlich sogar noch zu einem offenen Befeiern „großer Leistungen“ einer prominenten Wehrmachtseinheit übergegangen sind, provoziert eine außerordentlich unbequeme Vermutung: Ob es wohl sein kann, dass ein derartiger Umgang in den Streitkräften dieses Landes gegenwärtig Schläfer hervorgebracht hat, bei denen alle Mentalitäten und Dispositionen auch heute noch völlig präsent sind, um so etwas, wie es die Gebirgsjäger in der ersten Hälfte der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts exekutiert haben, sofort zu wiederholen?

So besteht die ganz handfeste Seite unserer diesjährigen demonstrativen Präsenz in der Gemeinde Mittenwald anlässlich der widerwärtigen Gebirgsjägerfeierlichkeiten schlicht darin: Es gilt den durch die vielen fachkundig durchgeführten Massenmorde der Gebirgsjägertruppe während des Zweiten Weltkrieges provozierten Widerspruch wieder dorthin zu bringen, wo er schon immer hingehört hat. Fragen wir ruhig auch die Nachfahren in der Kleinstadt des Henkers nach dem Strick, auch wenn zunächst zu vermuten steht, keine überzeugende Antwort zu bekommen.