Zweimal auf dem Todesmarsch

Maurice Cling wurde im Sommer 1944 im Alter von 14 Jahren zusammen mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder aus dem Lager Drancy nach Auschwitz deportiert, wo seine Familie ermordet wurde. Seine Erinnerungen sind im Jahr 1999 unter dem Titel „Vous qui entrez ici ... Un enfant à Auschwitz" beim Verlag Graphein, Paris erschienen. Die deutsche Übersetzung der letzten drei Kapitel erscheint leicht gekürzt mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Zu den Besonderheiten des Textes gehört, daß Cling oft in der dritten Person über sich selbst berichtet. Der nachfolgende Auszug aus dem Buch erschien als Aufsatz in: Dachauer Hefte Nr. 17/ 2001, S. 94-123

Maurice Cling

Ein Kind überlebt Auschwitz und Dachau

Die Evakuierung: lauf oder stirb

»Passent les jours et passent les semaines / Ni le temps passe / Ni les amours reviennent / Sous le pont Mirabeau coule la Seine.« (1)

Ich falle aus allen Wolken, als ich die große Neuigkeit erfahre: Das Lager soll evakuiert werden! Mein kleines Universum gerät bei dieser Nachricht aus den Fugen. Was unter anderen Umständen Begeisterung bei den Gefangenen hätte hervorrufen können das Herannahen der Befreier, wird hier wie eine Katastrophe aufgenommen: Angesichts ihrer körperlichen Schwäche ist es klar, daß sie den ihnen bevorstehenden Belastungen nicht gewachsen sind. Es geht das Gerücht um, daß die Kranken zurückbleiben werden. Andere aber sagen, daß das Lager vermint sei ‑ was ganz und gar glaubhaft erscheint und die SS es vor ihrem Abzug in die Luft jagen wird.

16.Januar 1945. Die Ereignisse überstürzen sich. Wir müssen alle im Gänsemarsch nackt an den Chefs vorbeigehen. In der Nähe des Einganges sitzend, entscheiden sie, wer das Lager verlassen und wer bleiben wird. Bei dieser klcir_en Wiederholung der Selektion vom Oktober werden die Häftlingsnummern notiert. Ich bin mit einem Schlag wieder in den Plebs zurückgefallen. Geeignet zur Evakuierung. Wie üblich weiß niemand, was genau dieses Wort bedeutet. Angst breitet sich aus. Andre ist bemüht, mich zu beruhigen: „Es ist vielleicht das kleinere Übel; denn jene, die bleiben ... Außerdem rücken die Russen vor." Aber ich bin bestürzt und bitte Noch vor den Kopf geschlagen durch die unerwartete Neuigkeit, muß ich mich darauf einstellen, dem Schlimmsten gegenüberzutreten: dem Fußmarsch und der Kälte des Januars. Nun muß ich so schnell wie möglich etwas finden, mich zu kleiden.

l7.Januar 1945. Ich steige ins Erdgeschoß hinab, um den Block zu verlassen. Der Flur, der mir solche Angst einjagte, ist nicht wiederzuerkennen: Die Gefangenen laufen hin und her, als sei die alte Welt zusammengebrochen. Die Barackentür steht offen eine verblüffende Tatsache, und ich finde mich plötzlich auf der Außentreppe wieder. Ich versuche, die Inschrift an der Fassade zu entziffern: lläftlingskrankenbau, Schonungsblock, Zutritt streng verboten. Zum ersten Mal nach einigen Monaten wieder inmitten des Lagers, erkenne ich es nur schwer wieder. Es ist schneebedeckt. Man spürt keine Autorität mehr. Es herrscht allgemeine Aufregung. Anstelle der verordneten Geschäftigkeit, an die ich gewöhnt war, herrscht nun eine Atmosphäre des Durcheinanders und beinahe des Zusammenbruchs. Die „Gestreiften" kommen und gehen in alle Richtungen, die Türen der Blöcke stehen offen. Man sieht keinerlei Armbinde [d.h. Ordnungspersonal; G.K.l. Der Block, zu dem ich gehöre, befindet sich in fieberhafter Aufregung. Gruppen diskutieren lebhaft. Die Betten sind durcheinandergewühlt; Männer sitzen auf den Strohsäcken, damit beschäftigt zu nähen, Pakete zu schnüren, „russische Strümpfe" herzustellen und Decken zu richten. Ich sehe sie zwischen den Bettstellen umherstreifen. Häftlinge kommen herein und verkünden laut Neuigkeiten auf Deutsch. Die Suppe erreicht uns mehr schlecht als recht. Man kann nahezu so viel essen, wie man möchte. Zwei Kameraden gehen in die Küche und schaffen es, dort einen ganzen Feldkessel zu „organisieren", den sie zu unserem Block bringen. Er war auf dem Platz zurückgelassen worden.

Ich erinnere mich an den Bericht der Evakuierten aus Lodz. Sie erzählten, sie seien sechshundert Kilometer marschiert. Ich höre, daß in der „Effektenkammer" Schuhe aus Leder aus Leder! verteilt werden. So begebe ich mich zu diesem für gewöhnlich immer verschlossenen Block, der nun von einer laut schreienden Menge umgeben ist. Diejenigen, denen es gelungen ist, in den Block hineinzukommen, werfen Schuhe nach draußen. Ich klammere mich an ein Fenster. Ich werde geschubst und hin‑ und hergezerrt. Das schöne Paar Schuhe, das ich ergattert habe, wird mir von einer stärkeren Hand als der meinen entrissen. Dann werde ich von einer Gegenströmung mitgerissen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als wieder zu gehen, wie zerschlagen und entmutigt durch diesen vergeblichen Kampf. Mit meinen Holzpantinen werde ich niemals marschieren können! Ich kehre in höchster Verzweiflung in unseren Block zurück, mit Tränen in den Augen und mit leeren Händen.

Ich sammle verschiedene kleine Dinge zusammen, die ich in meinem Strohsack versteckt hatte: Bindfaden, Nagel, die Schneide einer Schere, Papiere von Eva. Jemand ruft mich: „He, mein Kleiner, heute ist der große Tag! Wir verlassen das Lager. Bereite dich vor. Sie sagen, daß wir in einer Stunde unten sein müssen. Mach schnell! Nimm deine Decke mit!" Es ist ein französischer Kamerad mit südlichem Akzent, den ich längere Zeit aus den Augen verloren hatte, und der mich wiedererkannt hat. Er fährt fort: „Da, nimm das!" und reicht mir ein schönes graues Tuch. Das hebt meine Stimmung ein wenig. Ich tue es meinen Nachbarn gleich und nähe eine Seite des Tuches zusammen, um eine Art von Kapuze zu fabrizieren, mit der ich Kopf, Nacken. und Ohren bedecken kann. Ich stülpe meine Häftlingsmütze darüber. Einige nähen sich aus Lappen Taschen. Ich tue nichts dergleichen, besitze ich doch nichts, was ich dort hineintun könnte. Ich nehme die graue Decke mit. Sie wird mir als Umhang dienen, indem ich mir zwei Enden um den Hals knote. Die Papiere habe ich unter meine Jacke gesteckt. Jetzt, wo ich meine Vorbereitungen mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln abgeschlossen habe (es ist sinnlos zu hoffen, noch ein Paar Schuhe zu finden, das ist klar), fühle ich mich unendlich erschöpft: Wir werden viele Kilometer durch den Schnee marschieren müssen, wo ich doch meine Schwäche bereits auf der Straße des Lagers spüre, und allein das Gewicht meiner Kleidung schon auf meinen Schultern lastet. Und diese verdammten Holzpantinen, die mir die Füße bereits zerschinden, noch bevor wir überhaupt losgegangen sind! Draußen schneit es. Das Lager ist nun dunkel und ruhig.

Nach so vielen ertragenen Leiden habe ich diesmal keine Chance mehr, davonzukommen. Ich fühle mich schrecklich allein, erneut gepackt ‑von der rätselhaften und unerbittlichen Maschine, die sich wieder in Gang setzt. Jetzt, wo wir diesen tausendfach verdammten Ort für immer verlassen, empfinde ich seltsamerweise ein vages Bedauern. Hier glaube ich, noch gewisse Chancen zu besitzen, überleben zu können, aber auf der Straße ... und danach? Eine Art Selbsterhaltungstrieb rät mir, das Lager nicht zu verlassen. Es sollte nicht allzu schwer sein, sich in der allgemeinen Konfusion zu verstecken. Aber ich habe panische Angst bei dem Gedanken, daß das Lager in die Luft gesprengt wird.

„Los! Raus! Schnell!" schreit eine rauhe Stimme. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als der Bewegung der Menge zu folgen, die uns alle zum Eingang des Lagers trägt. Es schneit nicht mehr, aber der Wind bläst heftig. Hier und dort liegen zurückgelassene Decken auf der Straße. Je näher wir kommen, desto deutlicher ist die eiserne Hand wieder zu spüren. Der Eindruck einer gewissen Freiheit, den ich einige Stunden zuvor in unserem abgelegenen Teil des Lagers empfunden habe, verschwindet, als wir nun wieder überwacht und in die Marschkolonne eingegliedert werden, die für den großen Abmarsch aufgestellt wird. Es ist unmöglich, nun noch zurückzuweichen, Schluß mit den Grillen. Das Geschrei der üblichen Befehle erschallt rechts und links von uns. Die Reflexe setzen wieder ein. „Tsou funf!" („Zu fünft!")

Man dirigiert uns zu den Küchen. Wir durchqueren einer nach dem anderen das düstere, große Gebäude, wo man uns unglaublich große Rationen aushändigt: Eine Portion Margarine und ein ganzer Laib Brot für jeden! Das, nachdem wir die ganze Zeit begierig mit unseren Blicken die tägliche dünne Brotscheibe abgewogen haben, von einigen zusätzlichen Krümeln träumend ... Jeder von uns erhält außerdem das ist der Höhepunkt! eine große, glänzende Konservendose. Wir schauen uns an, völlig verblüfft, und trauen unseren Augen nicht. Was soll das bedeuten? Was enthält sie? Jemand erkundigt sich: Cornedbeef; Büchsenfleisch also. Das ist für uns um so unfaßbarer, als eine Scheibe Brot noch ein Teil unserer Alltagskost ist, die Dose Rindfleisch dagegen an Extravaganz grenzt.

Als der erste Augenblick der Überraschung vorüber und der Brotlaib angeschnitten ist, müssen wir erkennen, daß offensichtlich jederzeit Brot verfügbar ist. Die Büchse ist sehr schwer zu tragen, und ich weiß nicht, wohin ich sie stecken soll. Ich besitze weder eine Tasche noch einen Brotbeutel und natürlich auch keinen Dosenöffner! Und wenn man uns so viel Brot bewilligt, bedeutet das, daß der Marsch sehr lang sein wird? Muß man sparsam damit sein? Wir werden sehen.

Die SS schickt uns in das kleine Zigeunerlager (2). Ich treffe dort einige Franzosen wieder, von denen ich mir etwas Trost erhoffe. Aber angesichts meiner zerrütteten Gesundheit, meiner armseligen Holzpantinen und meiner vor Kälte klappernden Zähne sehen sie mich so mitleidig an, daß ich noch trauriger werde.

Durch die Stacheldrahtzäune folge ich mit den Blicken den Gruppen, die sich nach und nach in Bewegung setzen und hinter der Ecke des Blockes verschwinden. Wir warten so lange, daß ich mich schließlich frage; ob wir. überhaupt aufbrechen werden. Dann sind wir an der Reihe. Die Nacht ist über Auschwitz hereingebrochen. Entlang der Betonpfeiler der Umzäunung leuchten die Lampen, die Wachtposten wachen in den hohen schwarzen Türmen. Die Scheinwerfer am Lagereingang werfen bizarre Schatten auf den Schnee. Jenseits davon herrscht tiefe Dunkelheit. Kein Orchester. Drückende Stille. Die latente Angst hat wieder die Oberhand gewonnen. Ich gebe mich schwärzesten Gedanken hin. Als ich trübselig ein letztes Mal das Tor passiere, sehe ich zu meiner Linken einen Leichnam in gestreifter Häftlingskleidung im Schnee liegen. Ich bin ungerührt und frage mich nur, ob der Mann als abschreckendes Beispiel getötet wurde oder aus einem ganz anderen Grund. Niemand denkt an diesem Abend daran, unsere Kleidung zu kontrollieren: diesmal geht es nicht um Jackenknöpfe, saubere Holzpantinen, ordentlich rasierte Schädel. Die SS hat wichtigere Dinge zu tun. Plötzlich werde ich von einem unglaublichen Schauspiel aus meiner Teilnahmslosigkeit gerissen. Vor uns, die wir bewegungslos auf der Straße stehen, erscheinen plötzlich weibliche Häftlinge im Paradeschritt, die sich in Fünferreihen untergehakt haben und um das Maß vollzumachen aus Leibeskräften singen. Den schrillen Klängen ihres Liedes nach zu urteilen, sind es zweifellos Polinnen oder Russinnen. Sie sind die leibhaftige Verkörperung von Entschlossenheit und Mut: ihr Gesichtsaus, druck hat etwas Provozierendes. Ich beobachte, verblüfft und nahezu ungläubig, diese Erscheinung, die so scharf mit der Resignation der Verdammten kontrastiert, die in der Mehrzahl ihrem Tode entgegengehen. Was mich angeht, so hat mich diese aus der Nacht hervorgesprungene Erscheinung mehr verwirrt denn neu belebt. Die Klarheit ihrer Aussage entgeht mir völlig. Ich bin unerreichbar, gefangen in meinem Trübsinn, den Blick nur auf die nächstliegenden Schwierigkeiten gerichtet: meine Füße und meine körperliche Schwäche.

Eine andere Seite wird aufgeschlagen. Vor dem Vormarsch der sowjetischen Truppen, die ihre große Offensive am 12.Januar 1945 begonnen haben, evakuiert die SS von Auschwitz fieberhaft die etwa sechzigtausend Häftlinge, Männer und Frauen, ins Innere Deutschlands(3). In Auschwitz beginnt die tragische Episode der großen, mörderischen Evakuierungen, die das Vorrücken der alliierten Truppen begleiten.

Der klägliche Zug zerlumpter Gestalten macht sich auf den Weg; er wird auf beiden Seiten von SS‑Männern mit umgehängten Gewehren eskortiert. Unter den Zehntausenden von Häftlingen, die mit allem möglichen bekleidet und zuweilen in Decken gehüllt sind und ihre erbärmlichen Holzpantinen durch den Schnee schleifen, ist Maurice nur eine namenlose Gestalt.

Er geht und geht, aber dieses neutrale Wort beschreibt nur unzureichend die Mühe, die es macht, den erfrorenen und schmerzenden Fuß in der Pantine anzuheben, die aus grobem Gewebe besteht, das auf eine Holzsohle genagelt ist. Seit Stunden von Füßen zertreten, hat sich der Schnee auf dem vereisten Boden in einen schwärzlichen, zähen Matsch verwandelt. Man sieht hie und da Lumpen, Näpfe und zurückgelassene Holzpantinen. Jeder Gegenstand ist ein gefährliches Hindernis. Er geht, den Blick starr auf die Füße desjenigen gerichtet, der vor ihm geht, um zu verhindern, getreten zu werden oder zu stolpern. Er achtet auch auf den Abstand zu seinem Nachfolger, aus demselben Grund und falls unerwartet angehalten wird. Der Zug bleibt zuweilen für einen Moment stehen, und er segnet diese Pause, selbst wenn sie kurz ist. Doch es ist schwer, wieder loszulaufen, wenn man aus dem Trott gekommen ist. Er hat die Doktoren Landau und Lettich getroffen und wieder aus den Augen verloren. Dann nimmt er ein weit entferntes Kanonendonnern wahr. (4) Die Rote Armee! Aber der Zug schreitet vorwärts, in entgegengesetzter Richtung. Und er geht, mit Wut im Bauch, dazu gezwungen zu sein, vor den Befreiern zu fliehen, zerrissen zwischen Hoffnung und Angst. Die Vorstellung, daß das Ende des Alptraumes in einigen lägen, ja, in einigen Stunden da sein könnte, ist unerträglich, wenn jeder Schritt einen etwas weiter davon entfernt.

Er geht, er geht noch immer. Die beim Abmarsch wohlgeordnete Kolonne löst sich allmählich im Inneren auf, da unter der Wirkung von Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit die Schwächsten bereits langsamer laufen. Die anderen gehen an ihnen vorüber, und die Reihen schließen sich mehr schlecht als recht wieder. Maurice wird von brennenden Fragen gequält: Wie lange werden wir marschieren? Werde ich durchhalten?

Plötzlich ertönt hinter ihm in der gedämpften Stille eine Detonation, in einer gewissen Entfernung. Dann weitere; mehr oder weniger weit entfernt. Er begreift, daß die SS die Nachzügler am Ende des Zuges erschießt. Wie ein Peitschenschlag treibt ihn diese Erkenntnis vorwärts, er ist aufs äußerste erschrocken. Er vergißt darüber seine Füße, seine Zerschlagenheit, seine große Müdigkeit. Es geht nicht mehr „nur" darum, „durchzuhalten": Die Todesdrohung ist unmittelbar und konkret. Vor allem darf man sich nicht überholen lassen, nicht nach hinten an das Ende des Zuges verbannt werden, wo der Tod wartet. Man sollte sich sogar einige Meter nach vorne durchkämpfen, d. h. in Richtung des Überlebens. Von nun an bedeutete jeder Schritt, jeder Meter den Einsatz des Lebens.

Der Zug durchquert ein bewaldetes Gebiet. Eine gewisse Nervosität bemächtigt sich der Begleitkommandos. Man sieht die SS‑Männer in die Gräben auf beiden Seiten des Weges hinabsteigen und dort weitergehen. Die Häftlinge laufen weiterhin auf der Straße. Was geschieht? „Partisanen!" Die Neuigkeit verbreitet sich wie ein Blitz. Die Blicke suchen die Dunkelheit rechts und links ab. Vergeblich. Eine verrückte Hoffnung keimt auf: Wenn sie angriffen? Die SS steigt wieder zur Straße hinauf. Enttäuschte Hoffnung.

Man läuft und läuft. Der Zug kommt immer noch voran. Schüsse knallen von Zeit zu Zeit.

Lauf oder stirb! In einigen Metern Entfernung läuft ein SS‑Mann, gleichgültig, in grüngrauer Uniform, Gesundheit und Macht ausströmend. Maurice schleppt sich dahin, fühlt, wie ihn allmählich seine letzten Kräfte verlassen, versunken in dem gespenstischen Zug. Er bemüht sich noch schritt zu halten. In diesem Strom, der ihn mitzieht, wenigstens keinen Meter zurückfallen! Er kämpft gewissermaßen gegen den Zug selbst, der droht, ihn jeden Moment zu verschlingen. Ein Körper liegt auf der Straße. Man weicht mechanisch aus.

Er ist entkräftet. Er ist unmerklich in einen Zustand des Unbewußten verfallen, wird nur noch getragen von der namenlosen Herde. Er wüßte nicht zu sagen, ob es Stunden oder Minuten sind, die vergehen: Für ihn hat sich die Zeit aufgelöst, er taumelt in einem schweren Traum dahin, spürt nur undeutlich, wie sich seine Beine mechanisch vorwärtsbewegen. Als seine Sinne wieder klar werden, sieht er um sich herum gebeugte Schatten, die sich größtenteils nur mühsam dahinschleppen. Einige Häftlinge bilden kleine Gruppen und stützen sich gegenseitig, während die langsam von der blinden Menge überholten Verdammten gleich Strandgut ihrem Schicksal überlassen werden.

Am Rande der Straße erscheinen von Zeit zu Zeit Körper von Gefangenen, erstarrt im Schnee, gestorben an Erschöpfung und Kälte, erschossen in vorangegangenen Zügen oder noch auf den Todesstoß wartend. Niemand wirft ihnen auch nur einen Blick zu. Der Zug zieht vorüber.

In Augenblicken der Mutlosigkeit findet er Auswege, um sich selbst Mut zu machen. Er setzt sich ein sichtbares und erreichbares Ziel: jenes graue Haus, das man am Horizont erkennen kann, am Ende der Straße. Es zu erreichen! Es erreichen! Dann quält er sich vorwärts, die Augen darauf gerichtet. Dann, wenn das Haus erreicht ist, steckt er sich ein neues Ziel, usw.

Aber diesmal siegt die Hoffnungslosigkeit. Er ist sich dessen bewußt, daß das Ende nahe ist. Wozu soll es gut sein, mit jedem Schritt zu kämpfen, wenn er doch genau weiß, daß er am Ende seiner Kräfte ist? Angesichts dieser düsteren Aussicht einer nutzlosen Verlängerung der Qualen kann man ebenso gut gleich ein Ende machen. Das, wovor ihm am meisten graute ‑ nämlich auf der Stelle am Ende des Zuges erschossen zu werden, scheint nun weniger schrecklich. Sein einziger, verzweifelter Wunsch: nicht mehr laufen, nicht mehr leiden. Unter diesen Umständen ist es keinesfalls der Wunsch zu sterben, der ihn dazu drängt, den Kampf aufzugeben, sondern vielmehr eine Art Folge des Leidens, das logische Ende eines Lebens, dem aller Sinn genommen wurde. Er hofft nur noch auf den Frieden der Erlösung, wie auch immer diese aussehen mag.

Dem ein Ende machen. Maurice geht wie ein Automat, als funktioniere alles ohne sein Zutun. In einer Art dumpfer Apathie verteilt er an seine Nachbarn das, was von seinem Brot noch übrig ist, seine Konservendose, seine Decke, und macht sich bereit, sich am Rande der Straße in den Schnee fallen zu lassen. In diesem Moment schiebt sich ein kräftiger Arm unter den seinen, und er hört auf Französisch ermutigende Worte, einem Lichtstrahl gleich in seinem Dunkel. Der Mann heißt Willy. Er ist Belgier. Er spricht, aber Maurice hört ihm nicht zu. In seiner extremen Ermattung läßt er sich vom Klang der gesegneten Stimme wiegen, die in seiner Sprache zu ihm spricht. Er fühlt nichts als diesen Arm, der ihn stützt, der ihn

vorwärts führt. Er verfällt in eine Art Halbbewußtsein, wie befreit von seiner Pflicht zu leben.

Als er erwacht, ist Willy verschwunden. Um ihn herum läuft der Zug weiter. Hat er geträumt? Er hat kein Brot mehr, weder Konservendose noch Decke. Hat .er die Fähigkeit erlangt, sich von der Realität zu lösen und damit vom Leiden und seine Beine sich aus eigenem Antrieb bewegen zu lassen? Er läuft noch immer.

Ein Marktflecken. Eine vage Hoffnung nimmt Form an: Wird etwas geschehen, wird man jemanden sehen? Nicht eine Seele zeigt sich in den dunklen Straßen. Alles ist hermetisch verriegelt. Dann liegt wieder die eintönige Landschaft vor ihnen, menschenleer, so weit das Auge reicht.

Auch die SS‑Leute sind müde. Maurice beobachtet einen von ihnen, der seit einiger Zeit links vor ihm läuft, und der plötzlich dem Häftling, der ihm am nächsten ist, sein Gewehr zu tragen gibt. Sie laufen nun Seite an Seite, der SS‑Mann mit leichterem Schritt und der Häftling, für den diese zusätzliche Last vielleicht das Todesurteil bedeutet. Lange Bauernwagen überholen sie zuweilen, jeder gezogen von einem Pferd.

Irgendwann in der Nacht hält der Zug an. Die SS-Männer pferchen die Gefangenen in eine große Scheune, wo sie erschöpft zusammenbrechen. Mit dem Aufwachen kehrt die Angst zurück: Wie lange wird dieser Marsch noch dauern? Vor der Scheune stehend, warten sie auf den Befehl sich zu sammeln. Sich gegenseitig anzuschauen ist der Moral nicht zuträglich. In den meisten Fällen ist der Anblick trostlos. Ein „Gestreifter" spricht Maurice in flehentlichem Tonfall an. Sein Kauderwelsch ist unverständlich. „Farchten nicht" („Verstehe nicht"), antwortet er. Der andere dreht sich schließlich um, wobei eine riesige, obszöne Wunde an der Stelle seines Gesäßes sichtbar wird. Man sieht nichts als geschwollenes, rohes Fleisch, das eine violette. Färbung angenommen hat, und aus dem Blut und Eiter fließen. Maurice wendet mit Übelkeit den Blick ab und entfernt sich einige Schritte.

Der Marsch beginnt wieder, traurig und unheilvoll. Der Zug kommt voran, die Schwächsten hinter sich zurücklassend. Maurice läuft, läuft noch immer, wie er in seinem jungen Leben noch niemals gelaufen ist, bis in die letzte Faser seines Körpers angespannt, verzehrt von der Angst aufzugeben. Seine Nachbarn ängstlich beobachtend, um schrittzuhalten, konzentriert er sich auf seine Beine und seine Füße, von denen sein Schicksal abhängt.

Die bejammernswerte Herde betritt eine Stadt. Dann öffnet sich vor ihnen . eine Straße, die auf große Gebäude aus Backsteinen zuführt, die von einem hohen Schornstein überragt werden. „Das Krematorium!" sagt er sich, jäh von wahnsinniger Panik erfaßt. Und jene wissen von nichts und durchqueren die Einfriedung! Er möchte seine Angst herausschreien und fliehen, egal wohin. Aber mitgezogen von denen, die ihn umgeben, erkennt er mit Erleichterung, daß es sich um einen Bahnhof handelt. Endlich ist der schreckliche Marsch beendet: Man wird in Viehwaggons steigen.

Den ganzen Bahnsteig entlang stehen offene Güterwaggons. Er findet sich alleine zwischen Unbekannten wieder, die sich in einem ebenso jämmerlichen Zustand befinden wie er selbst. Dann wird er von der Menge in einen metallenen Waggon mit einigermaßen hohen Wänden hochgezogen, der vollgestopft ist mit Häftlingen, die sich am Ende ihrer Kräfte zusammenkauern oder hinstürzen. Da es unmöglich ist, sich hinzulegen, versuchen die, denen das noch möglich ist, sich an den Wänden anzulehnen und sich den bestmöglichen Platz für ihre Beine zu sichern. Man setzt Ellenbogen, Knie und Schultern ein, bis schließlich jeder mehr oder weniger gut untergebracht ist, die Schwächsten in den schlechtesten, qualvollsten Positionen eingekeilt.

Mit lautem Knallen werden die Waggons verschlossen, der Zug setzt sich in Bewegung. Damit beginnt für die Überlebenden eine neue und noch mörderischere Prüfung.

Zu sagen, daß eisige Kälte herrscht, wäre untertrieben. Zur Unbeweglichkeit verdammt, kleben die Gefangenen in ihren kotverschmutzten Lumpen zu einer einzigen Masse zusammen, das Gesicht vom Bart zerfleischt, ohne Toilettenkübel, ohne jede Möglichkeit, auch nur ein Minimum an Sauberkeit aufrecht zu erhalten. Die meisten verfallen in eine Art Lethargie.

Zu Beginn wollte Maurice, wie andere auch, über die Waggonwände hinausschauen, aber er hat sich schnell auf seinen Platz zurückfallen lassen, nachdem er gesehen hat, daß sich die weiße Ebene neben der Bahnstrecke bis zum Horizont ausdehnt. Er ist in gewisser Weise an den Hunger gewöhnt, doch der Durst quält ihn hier um so stärker. Da der flache Rand, der die Waggonwände abschließt, von Schnee bedeckt ist, kratzt er mit der Hand etwas davon zusammen, um es sich in den Mund zu stecken. In den meisten Fällen ist es unmöglich, seine Beine zu bewegen, und so kommt die Gelenksteife zum Frost hinzu, der sie übermannt.

Diejenigen, die wie Maurice von ihren Landsleuten getrennt und nicht fähig sind, die von der Mehrheit in ihrem Waggon gesprochenen Sprachen zu sprechen, besitzen nicht einmal diese Quelle des Trostes. Auf sich selbst zurückgeworfen und ihrer argen Schwäche bewußt, gehören sie zu den am stärksten Gefährdeten. Andere sind bereits darüber hinaus. Der Zug hält an. Die „Gestreiften" steigen mehr schlecht als recht aus den Waggons. Der Marsch geht weiter. Einen Moment später erscheint der Eingang eines Lagers. Für Maurice kontrastieren Metall, Ordnung und Gefangenenbewacher heftig mit der unheimlichen Regellosigkeit der letzten Tage. Einige sagen, es handele sich um Gross-Rosen.

Es ist, als fiele er in eine Variante von Auschwitz zurück. Die Gefangenen betreten ein großes, leeres Barackenlager und brechen dort, zerschlagen vor Müdigkeit, in völliger Unordnung Seite an Seite zusammen. Ein Blockführer brüllt, einen Knüppel in der Hand. Es bleiben Häftlinge draußen vor den Baracken zurück. Zusammen mit seinem „Stubendienst" zwingt er die Häftlinge mit Knüppelschlägen aufzustehen und verteilt sie eigenhändig; sie werden aneinandergedrängt wie Löffel. Maurice hat keine Zeit zu leiden: Er ist völlig zerschlagen vor Müdigkeit. Er weiß nicht, daß andere nicht in die Baracken gelangen konnten, weil es an Platz fehlt.

Am nächsten Tag zieht der Zug der Gefangenen wieder unter dem Torbogen des Einganges hindurch. Auf dem Weg zum Bahnhof sieht er Männer, die in einem Cafè Bier trinken. Dann geht die haarsträubende Reise dieser etwa tausend Männer weiter, ins Innere des Landes, in offenen Güterwaggons, wie Ziegelsteine, inmitten des zentraleuropäischen Winters, ohne Nahrung und ohne Getränke, zusammengepfercht in einem unbeschreiblichen Zustand, während Tagen und Nächten, die ohne Ende aufeinander folgen.

Für sie beschränkt sich die Welt auf diesen metallenen Kasten, der erbarmungslos zum Himmel geöffnet ist, zu jenem grauen oder schwarzen Rechteck, das wie eine Karikatur der Freiheit erscheint. Jeder Waggon ist ein „Floß der Medusa", verloren in der weißen Unendlichkeit. Der durch die Nacht und den Schnee in Gang gesetzte, verrückte Zug trägt sie einem ungewissen Schicksal entgegen. Allein der Rhythmus des Klapperns der Räder auf den Schienen wiegt sie in ihrer Agonie und ihrer Verzweiflung.

Maurice wird sich an fast nichts von dieser Durchquerung Deutschlands im Januar 1945 erinnern. Hungernd, durstend, körperlich erschöpft und gänzlich deprimiert, muß er diese acht Tage und acht Nächte in einem Zustand des Halbbewußten und für Augenblicke auch des Deliriums verlebt verlebt? – haben.

Vor der Abfahrt des Zuges befahl die SS brüllend, daß die Leichen entkleidet und nackt aus den Waggons geworfen werden sollen. Die kräftigen Kameraden aus Maurices Waggon haben die Leichen an ihrem Platz gelassen, sei es, weil sie kein Deutsch verstehen, oder weil der Befehl nicht zu ihnen vorgedrungen ist. So ist es nach einigen Tagen unmöglich, in dem Durcheinander die Lebenden, Sterbenden und Toten voneinander zu unterscheiden. Es kommt der Augenblick, wo er nicht mehr die Kraft besitzt, die Körper, die sich über ihm aufhäufen, fortzuschieben. Er unternimmt verzweifelte Versuche, sich durch die Lasten hindurch, die ihm die Brust zerquetschen, an die Oberfläche zu kämpfen. Ein Augenblick rasender Angst. Vielleicht ist es die Kraft der Verzweiflung oder aber der Zufall zuckender Bewegungen, die es ihm erlauben, einen Lufthauch zu erlangen und sich schließlich nach und nach von der bleischweren Masse, die ihn zu ersticken droht, zu befreien. Das Entsetzen ist so stark, daß er sich weiterhin, selbst in der Apathie, in die er sogleich wieder fällt, bemüht, nicht wieder unter die noch lebenden oder toten Körper zu rutschen und seinen Oberkörper so gut es geht, aus dieser zähen Masse herauszuhalten.

Maurice nimmt nur undeutlich das Rollen des Zuges und Klirren des Metalls wahr. Er spürt die schmerzhaften Erschütterungen und das Rütteln des Waggons nicht mehr. Schon seit langer Zeit spricht in dem Waggon niemand mehr ein Wort. Allein zwischen den Körpern, die auf ihm lasten, dämmert er dumpf vor sich hin, deliriert, nicht einmal in Erwartung des Endes, denn er weilt bereits in anderen Sphären. Erstarrt, läßt er sich willenlos treiben, nur noch an einem dünnen Faden der Hoffnung hängend, der ihn immer weiter zieht, ähnlich •~7e während des Marsches. Er weiß nicht, daß der Zug nun das Ende seiner Reise erreicht, daß die Inschrift des schneebedeckten Bahnhofes den Namen „Dachau" trägt.

Dachau

Angesichts des Zustandes von Stumpfsinn, in dem Maurice sich befindet, ist es nicht verwunderlich, daß die Ankunft in Dachau bei Maurice kaum Erinnerungen hinterläßt. Zweifellos war die SS den Bahnsteig entlang postiert, vielleicht mit Hunden; sicherlich hat sie ihre üblichen Befehle gebrüllt und sich darauf vorbereitet, die Häftlinge unter lautem Schreien zu schlagen, um das Verlassen der Waggons zu beschleunigen und Fünferreihen zu bilden. Aber es gibt Anlaß zu vermuten, daß der Anblick, der sich ihnen beim Öffnen der Waggontüren bot, sie schnell ihre Ansprüche zurückschrauben ließ. Es war nicht viel aus diesen bewegungslosen Körpern herauszuholen, die unter dem Schnee ineinander verkeilt waren, und denen weder Schläge noch Drohungen irgend etwas anhaben konnten. Die Überlebenden waren völlig unfähig, militärische Haltung anzunehmen. Der jämmerliche Haufen ordnete sich auf dem Bahnsteig und setzte sich unter größter Anstrengung in Bewegung. In den offenen Waggons lagen die Leichen durcheinander, zuweilen noch in der zusammengekauerten Stellung an die metallenen Wände angelehnt, in der sie verhungert und erfroren waren. Die formlosen Silhouetten schleppten sich die Straße entlang. Maurice geht schwankend vorwärts, mitgezogen von der Bewegung der anderen. Er hat eine Holzpantine im Waggon verloren. Es gibt Blutspuren im Schnee. Ein mit Leichen beladener Wagen überholt sie. Er ist noch kaum aus der Lethargie erwacht, in der er sich in dem offenen Güterwaggon befunden hat. Diese Etappe der Evakuierung, in die er doch eine gewisse Hoffnung setzen könnte, bedeutet ihm nichts. Er scheint den Punkt überschritten zu haben, von dem es kein Zurück mehr gibt. Beim Durchqueren des Tores sieht er weder die Inschrift im Tor noch die Stacheldrahtzäune. Links erhebt sich ein Berg von Körpern in gestreiften Anzügen. Die Übriggebliebenen des Evakuierungstransportes schleppen sich ungeordnet nach rechts, ins Innere des Lagers.

Er taumelt und läßt sich seinerseits auf den Haufen unbeweglicher Körper fallen, als hätte dies so seine Richtigkeit. Im selben Augenblick nähert sich ihm ein Träger einer roten Armbinde (5). Ohne ein Wort zu sagen, packt er ihn kräftig am Arm und zwingt ihn, wieder aufzustehen. Maurice schließt sich wieder den mühsam Vorwärtsstrebenden an. Am Ende des freien Platzes (6) steht ein langes, blau‑weiß gestreiftes Zelt, das vor den Stacheldrahtzäunen und den in einer Linie stehenden Baracken unpassend wirkt. Warten im Schnee, immer warten. Er ißt Schnee.

In dem riesigen, gedrungenen Gebäude (7), zu dem man sie schließlich führt, hat er den Eindruck so seltsam dies auch scheinen mag, eine gewisse Form der „Zivilisation" wiederzufinden: endlich ein Dach, sanfte Wärme, strenge Ordnung und Sauberkeit; und er findet sich zwischen eher beruhigenden Häftlingen wieder, die verschiedene Funktionen ausüben, sei es mit oder ohne Armbinde. Gewissermaßen die vertraute Atmosphäre der Welt der Konzentrationslager anstelle der Panik und des Wahnsinns der Evakuierung. Jemand sagt, es sei Sonntag. Er ist nicht in der Lage zu begreifen, daß die Reise nun zu Ende ist. Die Registrierung beginnt.

Ausziehen. Die Aussicht, einen Platz zu erhalten, auf dem man sich hinlegen kann, wenn auch zu mehreren und ohne Stroh, grenzt an ein Wunder. Das unbekannte, im Schnee versunkene Lager erscheint als rettender Hafen angesichts der erlittenen Qualen. Nichts kann schlimmer sein als die Angst während des Marsches, als die Kälte, der Durst und die qualvolle Enge in den offenen Waggons. Die Männer ziehen die schmutzstarrenden Lumpen aus, die ihre bis aufs Skelett abgemagerten Glieder bedeckt hatten. Ihre Füße sind häufig mit Wunden bedeckt. Maurices rechter Fuß ist verletzt und schmerzt. Er muß den Lumpen von seinem infizierten Zeh herunterreißen. Benebelten Sinnes hat er Evas Papiere völlig vergessen, an denen er doch so sehr hing.

Rasieren. Nach dem Duschen wird er in der Häftlingsschlange vorwärtsgeschoben und gelangt vor einen Häftling, der ihm mit einem dicken Pinsel mit harten Borsten grob den Unterleib desinfiziert. Er empfindet heftige Schmerzen. Gestreifte Anzüge, Hemden und Unterhosen werden verteilt, Karteikarten ausgefüllt und Nummern verteilt. „139149". Gut dressiert wiederholt er seine neue deutsche Häftlingsnummer, eine Nummer, die leicht zu merken ist. Als die Schlange derer, die das Gebäude verlassen, auf jene trifft, die es betreten, steckt ihm ein Häftling, den er zu kennen meint, heimlich etwas zu. Er verbirgt es schnell mit einer automatischen Bewegung in seiner Tasche und entdeckt zu seiner Verblüffung, daß es sich um etwa zehn Zigaretten handelt.

Man führt die Neuankömmlinge nun in Stube 4 am Ende von Block 19. Quarantäne? Er ist zu apathisch, um nachzudenken. Erneutes Warten auf dem Platz. Angesichts seiner schlimmen Verfassung läßt man ihn vor allen anderen eintreten und sich auf einen Hocker setzen. Die heiße Suppe ist göttlich: sie enthält Fleischstückchen

Jetzt liegt er neben zwei Parisern und einem jungen Mann, der in der Tschechoslowakei in einer Zuckerfabrik gearbeitet hat, in der oberen Etage der Bettstellen. Am Morgen ist noch vor der Dämmerung Appell auf dem eisigen Appellplatz. Er bemüht sich, als einer der letzten die Baracke zu verlassen und mit den Ersten zurückzukehren, so schmerzhaft ist diese Prüfung.

Die Überlebenden der Evakuierung werden wochenlang (8) dort dahinvegetieren, ohne Pflege, eng aneinandergedrängt, nur mit Hungerrationen. Maurice liegt zwischen ihnen, findet sich in den Bettstellen von Auschwitz wieder, erlebt erneut die nicht enden wollenden Stunden, das Warten auf Nahrung, alles, was er dort erlebt hat. Aber der Unterschied ist dennoch offenkundig: kein Geschrei, keine Gewalttätigkeiten, und vor allem keine Selektionen.

Er ist wegen der vom Himmel gefallenen Zigaretten nicht wenig in Verlegenheit. Der Besitzer ist nicht wieder aufgetaucht. Er weiß seit Drancy ‑und schon vorher durch die Zigarettenstummel‑Geschichten, die sich die Kinder in der besetzten Zone erzählten um den Wert dessen, was er in der Tasche hat. In Auschwitz hat er fassungslos Häftlinge beobachtet, die ihr Brot gegen Tabak eintauschten. Aber was soll er tun? Ans Bett gefesselt, unfähig zu sprechen und so schwach, wie er sich noch immer fühlt, kann er sich der Zigaretten nicht als Tauschwährung bedienen. So befindet er sich in der absurden Lage, einen nutzlos gewordenen Schatz zu besitzen.

Jede Stunde, die vergeht, vergrößert die Gefahr, sie zu beschädigen, denn er verfügt über keinerlei Versteck. Und eingezwängt, wie er ist, wird es zweifellos nicht lange dauern, bis seine Nachbarn sie entdecken und ihm entwenden. Er klammert sich an das, was der Zufall ihm beschert hat. Trotz aller Vorsicht, die er aufwendet, wenn er sich auf seiner Liege umdreht, zerquetscht er sie schließlich in seiner Erschöpfung. Am Morgen findet er sie zerkrümelt. Natürlich hat er keinerlei Papier, um sie einzuwickeln. Und wenn der Typ zurückkäme und sein Eigentum verlangte?

Es wurden Männer für das „Schneekommando" bestimmt. Er ist der Fron entkommen.

Es heißt, es würden Pakete vom Roten Kreuz verteilt werden. Jedes Geräusch läßt ihn zittern: Die Pakete? Die Nachbarn machen sich über ihn lustig, indem sie seine verrückte Hoffnung schüren.

Der Blockführer ist ein kleiner Deutscher mit schneidender Stimme gemein, so scheint es, also Vorsicht!, der Friseur ist Ungar, der Arzt Spanier, sehr braun und sehr mager. Eine neue, unmittelbare Gefahr ängstigt sie. Jeder kann die Leichen sehen, die nur wenige Meter von ihnen entfernt an der Wand des Nachbarblocks nebeneinanderliegen: fünfzehn an diesem Morgen. Es heißt, ein Lastwagen mit Brot sei von den Russen überfallen worden. Außerdem scheint es, daß in Block 21 Typhus ausgebrochen ist. Es ist der Nachbarblock ... Der Blockführer hält eine Ansprache. Man übersetzt sie ihm etwa folgendermaßen: „Seid besonders sauber, tauscht nichts mit den Nachbarn aus, berührt sie nicht, sprecht nicht mit ihnen! Unser Leben steht auf dem Spiel! Ihr habt die Leichen draußen liegen sehen. Wenn ihr nicht wollt, daß es hier genauso viele gibt, tut, was ich euch sage." In der Stube hat Maurice Herrn Maous wiedergetroffen, den er in Drancy kennengelernt hatte. Dieser gibt ihm eine dreieckige Stahlklinge in einem Lederetui. Ein kostbares Gut, denn wenn Maurice natürlich auch keinerlei Verwendung dafür hat, so ist es doch etwas Persönliches in dieser völligen Auflösung alles Privaten. Wenige Tage später verschwindet die Klinge bei einer nächtlichen Durchsuchung ebenso plötzlich wieder, wie sie gekommen ist. Er trifft auch die zwei Franzosen wieder, die ihm im kleinen Zigeunerlager in Auschwitz Trost gespendet haben.

Als er eines Tages zum Abort geht, sieht er dort den elsässischen „Stubendienst" von Stube 3, der damit beschäftigt ist, aufzuwischen. War es vielleicht verboten, jetzt hineinzugehen? Kaum hat er ein paar Schritte gemacht, als er auch schon einen gewaltigen Tritt in den Hintern bekommt. Der Schmerz am Steißbein ist ungeheuer. Er kehrt zu seiner elenden Bettstelle zurück, betäubt und zerschlagen von den Schmerzen. Sie quälen ihn lange Zeit.

Er ist derart abgemagert, daß er nur noch Haut und Knochen ist eine extrem dünn gewordene Haut, ganz besonders am Steißbein, wo sich durch das Gewicht des Körpers die Haut schnell durchliegt und sich verschorfte Stellen bilden. Es ist für ihn gleichermaßen schmerzhaft, auf dem Rücken zu liegen wie sich auf die rechte oder linke Seite zu drehen. Wenn er auf der Seite liegt, verursacht bereits der Druck eines Knies oder eines Schienbeins auf dem anderen große Schmerzen. Jetzt ist er schon nicht mehr fähig, alleine auf seine Bettstatt zu klettern, wie er es während der Quarantäne in Auschwitz mit Willy noch mühelos geschafft hat. So ist er auf dem niedrigsten Niveau, dem der Auerschwächsten, angelangt. Es ist ein bedeutsamer Abstieg, der schwer auf seiner Seele lastet. Der Raum oberhalb seines Schlafplatzes ist zu niedrig, als daß man sich aufsetzen könnte. Die Gefahr besteht nun darin, immer schwächer zu werden und an Auszehrung zu sterben oder an den zahlreichen Krankheiten, die auf dem Nährboden der herrschenden Umstände gedeihen.

„Zu den Duschen!" Der Befehl hallte durch den Block, wie üblich war er auf Deutsch gebrüllt worden. Das Duschen bedeutet eine wöchentliche Marter; es bedeutet den langen Weg bis ans Ende des Lagers, durch die

Hundekälte, die einen gnadenlos wie Messerstiche durchbohrt, wenn man so leicht bekleidet und so geschwächt ist und nur mühsam in seinen Holzpantinen vorwärtsschlurfen kann. Es bedeutet kochendheißes, schlecht reguliertes Wasser, das gefürchtete Desinfizieren, es bedeutet das unendlich lange Warten mit nackten Füßen auf dem eisigen Zementboden in der Zugluft, die die feuchte und zitternde Haut zu zerbeißen scheint. Maurice hat es geschafft, sich vorbeizuschlängeln und ist dem Pinselstrich entkommen. Er feuchtet sich den Unterleib mit etwas Wasser an, um den Anschein zu erwecken, desinfiziert worden zu sein. Die Kleidung wird desinfiziert, man bekommt sie im Block zurück.

Ärztliche Visite des SS-Arztes Dr. Fritz. Gewicht: 40 Kilo. Die Häftlinge werden in verschiedene Kategorien eingeteilt. Maurice fürchtet, auf „Transport" geschickt zu werden, von dem er weiß, daß er ihn nicht überleben würde. Man bringt sie zum Block 17, dann, nach einer Stunde, in „ihren" Block 19. Seltsam, wie man an etwas hängen kann.

Die Tage vergehen leer, verzweifelt leer. Er ist eingezwängt zwischen zwei übereinanderliegenden Bettstellen, die Querbalken ganz nah am Gesicht, ohne Kontakt mit irgendjemandem, ohne Nachrichten, ohne Zukunft. Man sieht aus dem Fenster mit dem schneebedeckten Fensterbrett nichts als die Nachbarbaracke, die genauso traurig und düster wie die eigene daliegt. Derart vor sich hinvegetierend, verfällt die Mehrzahl der Gefangenen nach und nach in eine Art von Stumpfsinn.

Es scheint, als werde es einen „Transport" geben. Plötzlich werden im Laufe des Tages die Häftlingsnummern aufgerufen. Keiner weiß weshalb. Eine schwere Drohung, ein Sprung ins Unbekannte inmitten des Winters. Die bekannten Gefahren sind immer vorzuziehen, alle Konzentrationslagerhäftlinge werden Ihnen dies bestätigen. Seine Nummer wird nicht aufgerufen. Er hört, daß die unter Achtzehnjährigen nicht fortgeschickt werden. Es sind weniger als dreißig. Und wenn es darum geht, unnütze Esser zu liquidieren? Man hört Schreie im Raum: Ein Vater und ein Sohn werden voneinander getrennt.

Die jungen Auschwitzhäftlinge werden in Block 25 überstellt. Maurice hat sich mit vier anderen Jungen seines Alters zusammengetan: Marcel, Lazare, Jacques und Robert (9). Die Ankunft im neuen Block ist unheilverkündend. Hinter den Stacheldrahtzäunen, die ihn vom Rest des Lagers trennen, entdecken sie eine Reihe von Leichen. Besser kann man die Umstände, die sie dort erwarten, nicht ankündigen. Zu ihrer Stube gehört unter anderen ein großer brutaler Pole, der die Häftlinge schlägt, die er beim Umherlaufen zwischen den Bettstellen erwischt. Man muß still auf den hölzernen Bettstätten ohne Strohsäcke liegen bleiben.

Am wichtigsten jedoch ist die Anwesenheit französischer politischer Häftlinge mit dem roten Dreieck, die in diesem Block eine fest zusammenhaltende Gruppe bilden. Ein unschätzbares Ereignis für die jungen Parias: Landsleute, Erwachsene, die durch ihr Organisiertsein den Autoritäten des Lagers einen gewissen Respekt einflößen, und die zudem ‑ was in ihren Augen von keineswegs geringerer Bedeutung ist Pakete erhalten. Pakete! Für sie, die sie so lange völlig von Frankreich isoliert waren, besitzt das Wort zudem einen moralischen und sentimentalen Wert: es stellt einen Kontakt zum Heimatland her, es bezeichnet eine bestimmte Stellung, Rechte, lauter Dinge, die ihnen per definitionem verwehrt sind. Indem sie die Jungen sofort in ihre Gruppe aufnehmen, geben die Älteren ihnen auf Anhieb Hilfe und Schutz. Hier haben sie das andere, anständige Frankreich wiedergefunden.

Ein alter Mann stirbt über ihnen. Man hebt ihn hinunter. Maurice zögert, seinen Platz einzunehmen. Ein anderer nimmt ihn. Die Jungen lernen ihre Nachbarn schnell kennen: „Fernandel", der Filmvorführer, der über ihnen schläft; Roger, der Taube, der noch sehr jung ist, und vor allem Ferret, der aus Rouen stammt und gleich neben Maurice seine Bettstatt hat. „(Ca sent bon le pays." (10) Sie mögen sich. Aber Ferret hat Typhus und deliriert zuweilen. Er glaubt, er sei in einem Käfig eingesperrt. Er schlägt um sich und schreit, z. B.: „Abort! Abort! Gibt es denn hier keinen Abort?" Ferret erzählt ihm von seinem zerstörten Leben, von seiner Verlobten, die er in Rouen zurückgelassen hat. Sie schmieden Pläne für die Zukunft. Für Maurice beginnt erneut der Durchfall. Weiter von ihnen entfernt läuft ein junger Zigeuner zwischen den Betten umher und jammert mit herzzerreißender Stimme: „Kleba Mama!" („Brot, Mama!") Der Pole schlägt ihn.

Während der Nacht sind Pakete gestohlen worden. Er träumt davon, eines zu besitzen. Das Wort erstrahlt in seiner Phantasie. Er versucht unsinnigerweise, sich in die Liste der „Politischen" aus Frankreich einzutragen. Aber seine Kartei im Block trägt die Bemerkung „Jude". Er ist deshalb von allen Ämtern ausgeschlossen. Ausgeschlossen von allem, wegen dieses Wortes, das ihm unentrinnbar anhaftet. Er ist sehr schwach, fiebert, ihn dürstet, und er stöhnt in der Nacht. Die Nachbarn sind erzürnt, weil sie nicht schlafen können und schimpfen und drohen ihm. Das ändert nichts. Er jammert weiter. Doktor Fritz kommt vorbei. Er spricht Maurice auf Deutsch an, der zu verstehen meint: „Nun, Franzose, wie geht es?" und er antwortet: „Ich bin schwar." (d. h. „Ich bin schwach.") „Los!" schließt der Arzt daraus: „Los, raus." Maurice wird als gesund eingestuft und aus dem Krankenlager in seine Baracke zurückgeschickt.

Im Block 24 trifft er zu seiner Freude Ferret unter den Franzosen wieder und macht die Bekanntschaft von Lucien und Albert, letzterer stammt aus dem Departement Nord, und vom alten Faucon, vom jungen Site und von Chavanel, der älter und kleiner ist als die anderen. Er findet seine Kameraden wieder und auch Monsieur Maous. Der hübsche Blockführer hat ein künstliches Bein, und der Schreiber mit der hohen Stirn hat seltsam zerzaustes Haar, was um so verwunderter ist, als alle anderen, rasierte Schädel haben. Seit er die Bekanntschaft der politischen Häftlinge aus Frankreich gemacht hat, ist für Maurice nichts mehr so, wie es zuvor war. Ihre freundschaftliche Anwesenheit, ihre Disziplin und ihre gemeinschaftliche Stärke eröffnen ihm eine Zukunft. Zaghaft beginnt er wieder zu hoffen.

Wenn ihre Stubenkameraden mit ihren Paketen ankommen, sind der Anblick der Nahrungsmittel und die Kaugeräusche für die jungen französischen Juden aus Auschwitz unerträglich. Aber das bleibt nicht lange so. Die große Neuigkeit: Die „Politischen" haben sich zusammengetan, um jedem von ihnen ein Paket zu schenken. Sie haben ihre Gaben in kleine Pappschachteln getan, der eine hat etwas Zucker gegeben, ein anderer Tabak, einer Knoblauch, der nächste Kekse. Maurice ist übervoll von Dankbarkeit, ohne jedoch zu ermessen, wie sehr diese Geste jede normale Großzügigkeit überschreitet.

In den Paketen die er zusammen mit den anderen von der „Post" abholt findet sich neben Sardinen, Knoblauch und Honigkuchen etwas seltsames: getrocknetes Gemüse. Man kocht es in mit etwas Glück „organisierten" Gefäßen: Es bilden sich so etwas wie Zweiergemeinschaften, in denen jeder auf seine Kosten kommt. Er bildet eine zusammen mit Faucon. Als er sieht, daß sich durch die Stacheldrahtzäune hindurch ein Handel mit Block 22 entwickelt hat, versucht Maurice, seinen Tabak gegen ein Stück Brot einzutauschen. Ein Abkommen wird getroffen. In dem Moment, in dem er sein Päckchen hinüberreicht, reißt der andere es an sich und verschwindet.

Man verlegt sie ganz plötzlich in den Nachbarblock. Erfolgt dies, um ihre Baracke zu desinfizieren? Die Hoffnung auf eine Besserung ihrer Lage wird schnell enttäuscht; es kommt noch schlimmer: Man heißt sie, ihre Suppe draußen zu essen. Neben Faucon auf dem Gehweg sitzend, zittert er im eisigen Regen. Einige Häftlinge tauschen mit ihnen Kräuter, die sie wie Salat kauen. Ein altersschwachsinniger Kamerad versäumt es, einen vorübergehenden SS-Mann zu grüßen: unglaublich! Denn wenn man während des Tages hört, daß ;,Achtung!" geschrien wird, nehmen alle Haltung an vor dem SS-Mann, der die Baracke betritt.

Er bewahrt ängstlich eine alte lederne Tschapka, die er zufällig gefunden hat. Jetzt hat man sie ihm gestohlen, und er entdeckt sie beim Appell auf dem Kopf eines anderen Häftlings. Er läuft nach vorne und schreit. Der Mann gibt ihm einen kleinen Stoß, und Maurice fällt schluchzend hin. Um ihn herum wird gelacht. Er ist nun barhäuptig dem eisigen Wind und zudem den offiziellen Sanktionen (für das Fehlen einer Kopfbedeckung) ausgesetzt. In der Nacht wird man zuweilen plötzlich aufgeweckt. Ein Schrei: „Hilfe! Man bestiehlt mich!", gefolgt von einer verzweifelten Flucht.

Ein Paketdieb hat sich schnappen lassen und wurde mit heftigen Schlägen mit einem Gürtel bestraft. Die Kartons die jeder den Namen ihres Besitzers tragen Steher, nicht, alle zusammen ^••.f einem in ziemlich großer Höhe angebrachten Regal, es scheint, daß die Diebe, nachdem sie sich Zutritt zum Dachstuhl verschafft haben, über die Decke gekrochen sind und genau über den Paketen ein Loch in die Decke gebrochen haben. Maurice glaubt, daß es sich um junge Juden aus den Ländern des Ostens handelt, die von keinerlei Solidarität profitieren konnten.

Die Stube teilt sich auf in diejenigen, die etwas besitzen und diejenigen, die nichts haben. Er, der diese Enttäuschung über Monate hinweg selbst erlebt hat und erst neuerdings zu den Versorgten aufgestiegen ist, fühlt sich seltsam hin‑ und hergerissen. Er kann nicht dieselbe Wut verspüren wie seine Landsleute. Aber weiter reicht sein Verständnis auch nicht. Und wenn junge Ungarn oder Polen sich ihm mit ausgestreckter Hand nähern und ihn anflehen, ihnen etwas zu geben, lehnt er das mittlerweile ab, hart geworden, wie er ist, und erklärt ihnen, daß es nicht schön ist, zu betteln . . .

Die älteren Franzosen haben für die Nächte eine Wache zum Schutz der Pakete organisiert. Auch Maurice muß seinen Teil dazu beitragen. Eingemummelt sitzt er vor dem Regal und kämpft tapfer gegen die Müdigkeit an, indem er den auf dem Tisch stehenden Wecker fixiert und auf das geringste verdächtige Geräusch lauert. Er meint ein kaum wahrnehmbares Kratzen zu hören, dann herrscht absolute Stille. Durchdringende Kälte. Schwarze Nacht. Der Schlaf übermannt ihn.

Der Anfang vom Ende

„Alle Juden auf den Appellplatz!"

Der Befehl trifft Maurice und seine Kameraden wie ein Peitschenschlag. Jeder hier weiß, daß es nichts Gutes für sie bedeutet, wenn die Juden gesondert aufgerufen werden. Das Wort „Transport" wird genannt. Dieses Mal ist alles klar. Aber wohin wird es gehen, und weshalb trennt man sie von den „Ariern"?

Wie üblich gibt es keine Erklärung. Sie durchlaufen zuerst eine Untersuchung. Bald finden sie sich auf dem Appellplatz wieder, unter Tausenden Mitgefangenen. Sie werden gezählt. Es regnet. Suppe wird verteilt. Er hat panische Angst, daß man sie von den anderen getrennt hat, um sie umzubringen. Das scheint ihm die einzig mögliche Erklärung. So kurz vor der Befreiung getötet zu werden! Das Gerücht geht um, daß die Suppe, vergiftet sei. Er ißt die Suppe nicht. Aber sie ist heiß, und es regnet noch immer. Um. ihn herum essen alle, allein oder in kleinen Gruppen. Sie haben es also nicht begriffen!

Unerwartete Rückkehr in den Block. Er erfährt, daß der Aufbruch für den nächsten Tag geplant ist: Sammeln auf dem Appellplatz um sechs Uhr. Der Abbe Beauvais kommt zu ihm, um ihm zu sagen, daß er versuchen wird, ihn zu verstecken. Maurice wird dadurch gleichzeitig von Hoffnung erfüllt und in seiner Angst bestätigt. Der Schutz durch die Gruppe seiner Landsleute ist mit einem Schlag zusammengebrochen. Nun stehen die Juden wieder der SS gegenüber, genauso verwundbar wie zuvor, ins Nichts zurückgefallen. Der Abb6 kommt, um ihm das Scheitern seiner Bemühungen mitzuteilen. Es war seine letzte Chance. Er maß gehen. Louis Demarchelier spricht ihm Mut zu.

Am nächsten Morgen herrscht auf dem Appellplatz eine seltsame Atmosphäre. Es nieselt. Man befiehlt ihnen, sich in Reihen aufzustellen. Louis bringt ihm eine Tasse kochend heißen Kaffee. Danke Louis! Ein alter deutscher Jude bittet ihn, ihm etwas abzugeben; er lehnt es schroff ab, eingehüllt in den Panzer seines Überlebenswillens. Zweifellos glauben viele an eine kurz bevorstehende Befreiung und sehen in dem Aufbruch eine Hoffnung. Andere sind hauptsächlich mit den konkreten Bedingungen des „Transportes" und den Erinnerungen an die eiste Evakuierung beschäftigt. Maurice weiß nicht, was er denken soll. Sie warten. Arbeitskommandos verlassen das Lager. Für die, die aufbrechen sollen, geht das Warten vor dem Tor weiter. Maurice erkennt nichts von dem wieder, was er einige Monate zuvor gesehen hat, als er in dem schneebedeckten Lager ankam. Jeder Häftling erhält ein Paket des belgischen Roten Kreuzes und eine Papiertüte mit Nahrungsmitteln. Wegen der auf dem Platz herrschenden Enge stellt er sein Paket zwischen seinen Füßen ab. Jemand spricht ihn an, während man ihm von hinten sein Paket entwendet. Er maß noch viel lernen. Als er das Unglück bemerkt, sind für einen Augenblick seine Wut auf die Diebe und auf sich selbst größer als seine Angst vor der greifbaren Liquidierung des „Transportes".

Man verteilt Kleidung und Schuhe an sie und große Papiertüten, von denen niemand weiß, wozu sie dienen. Maurice erhält einen schönen braunen Zivilmantel, den er über seine Häftlingskleidung zieht. Er fühlt sich seltsam, wie ein Zwitterwesen zwischen Häftling und Zivilist: Ein großes Andreaskreuz ist aus dem Rückenteil herausgeschnitten, und durch gestreiften Stoff ersetzt worden.

Schließlich durchschreitet man das Tor und überquert den breiten W2ssergraben, der sich am Stacheldrahtzaun entlang zieht. Links des Weges wartet brav ein Zug auf den dort endenden Gleisen, der letzte Waggon steht ihnen zunächst. Maurice fällt von einer Überraschung in die nächste: Personenwagen für Häftlinge!

Vor den Waggontüren herrscht großes Gedränge. Einmal im Zug, sucht er einen Platz in den überfüllten Abteilen. Überfüllt ist untertrieben, denn nicht nur die Sitze bieten keinerlei noch so winzigen freien Raum mehr, sondern die Häftlinge liegen auch in den Gepäcknetzen oder haben sich zwischen die Knie der auf den Bänken Sitzenden gekauert. Er ist schließlich nahe des Fensters eingekeilt, von allen Seiten eingeklemmt. Um ihn herum junge und alte Ungarn, die er sofort an den ihm mittlerweile gut bekannten Klängen ihrer Sprache erkennt, und, allein ihm gegenüber jemand, den er vage kennt: Herr Weil.

Ein höherer SS‑Mann patrouilliert auf dem Bahnsteig. Er tadelt einen SS-Mann, der ein jüdisches Kind auf dem Trittbrett mißhandelt. Maurice läßt sich übersetzen, was er gesagt hat. Er traut seinen Ohren nicht: Man schlägt die Juden nicht mehr. Unmöglich! Wer soll das glauben? Doch in der herrschenden Atmosphäre der Unruhe sind alle Gewißheiten erschüttert, das Verhalten unvorhersehbar, und man hat den Eindruck, daß jeden Augenblick alles mögliche geschehen kann.

Die Ungarn sind im Abteil in der Mehrheit. Ohne Zweifel sind es Bauern. Sie haben Brot, das ihnen, wie es scheint, ein SS‑Mann gegeben hat, der auch aus Ungarn stammt. Maurice versucht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, aber er kennt nur das Wort „fekete" (schwarz) und sie nur „merdalor" („merde alors!", d. h. „Scheiße!") und „komsi komsa" („comme ci comme ca", d.h. „so lala"), was sie mit einem entschiedenen Ausdruck wiederholen. Für einen Franzosen ist dies eher kränkend.

Stunden vergehen. Der Zug rührt sich nicht von der Stelle. Sie erhalten nichts als Brot und Margarine. Die SS‑Leute packen ihre Koffer und drängen sich mit ihren Frauen in Autos. Man sieht, wie sie die Telefonkabel demontieren. Maurice hat sich in dem Gedränge eine Schachtel Camel‑Zigaretten stehlen lassen, die er sorgsam aufbewahrt hatte, um sie als Tauschmittel zu verwenden. Er verstaut den Rest seiner Verpflegung in seinem Mantel. Als er das Abteil verläßt, wird sein Platz von einem anderen eingenommen; er ist zu schwach, um sich bei seiner Rückkehr darum zu schlagen. Nun ist die Nacht hereingebrochen, und man beginnt, ans Schlafen zu denken. Er leidet zunehmend unter Gliedersteife, doch er hat nicht umsonst die Romane Jules Vernes verschlungen und vom Pfadfinderleben geträumt: Er schlägt vor, eine Decke wie eine Hängematte mittels Schnüren an den Stangen der Gepäcknetze in der Mitte des Abteils zu befestigen. „Einverstanden!" signalisieren ihm die Ungarn. „Mach' es selbst und leg' dich darin schlafen." Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als es auszuführen. Nur hat er den Unterschied zwischen Theorie und Praxis unterschätzt: Alles hängt von der Fähigkeit ab, Knoten zu knüpfen, und die grobe Decke eignet sich nur schlecht dazu, zumal wenn man sehr schwach ist. Die komplizierten Pfadfinderknoten hat er völlig vergessen.

Mit Mühe klettert er in die improvisierte Hängematte, in diesem Moment recht stolz auf sich. Aber schon bald fühlt er sich sehr unwohl in seiner durchhängenden Decke. Er döst schnell ein. Plötzlich passiert das Unglück: Die Schnüre haben sich gelockert, und Maurice ist mit seinem ganzen Gewicht auf die ineinander verkeilten Schläfer gestürzt. Die Unglücklichen sind mit einem Satz von dem großen Sack, der ihnen auf den Kopf gefallen ist, geweckt worden. Ungarisches Geschrei, ungarische Flüche, ungarische Faustschläge, die aufs Geratewohl ausgeteilt werden. Maurice erlebt schlimme Augenblicke. Zum Glück ist es im Abteil dunkel!

Der Konvoi ist am Morgen losgefahren, hat das in Trümmern liegende München passiert and fährt nun ins offene Land hinein. Es ist ein elektrischer Zug, einer von denen, von denen er als Kind über die Weihnachtsprospekte der Modellbahnhersteller gebeugt oder vor den Vitrinen der Kaufhäuser stehend so sehr geträumt hat. Jemand hat von Tirol gesprochen. Halt in einem kleinen Bahnhof. Die „Reisenden" steigen aus.

Sie werden zuerst auf einer großen Wiese zusammengetrieben, die hinter dem Bahnhof an den Gleisen liegt. Dann steigen sie eine lange Straße bergauf, flankiert von Wachen. Vor einer Bäckerei steht eine Menschenschlange. Sie kommen auf einen Platz, auf dem eine Kirche steht, und um den herum hübsche tiroler Häuser stehen, die alle bewundernswert gepflegt aussehen. Mit ihren struppigen und abgezehrten Gesichtern, ihrem erschöpften Ausdruck, ihrer seltsamen Kleidung, den Kreuzen auf dem Rücken, ihren schmutzigen Holzpantinen und ihrem abstoßenden Geruch sehen die deportierten Juden aus wie ein Haufen Landstreicher in einem Operettendekor.

Während sie von der SS umstellt warten, sieht Maurice die sonntäglich gekleidete Menge sich auf dem Platz zerstreuen, genau wie in jedem französischen Dorf. Für die „Gestreiften" ist diese friedliche und wohlhabende Menge, die sich tausend Meilen von ihrem Universum entfernt zu bewegen scheint, ein unwirklicher Anblick. Jungen in fescher tiroler Tracht nähern sich ihnen. Er will die Gelegenheit beim Schopfe packen: Es ist das erste Mal, daß er mit einem deutschen Zivilisten sprechen kann. Er hat so viel zu sagen! In seinem armseligen Häftlingsjargon möchte er es am liebsten herausschreien: „Wir sind Juden, wir haben nichts verbrochen, seht, in welchem Zustand wir uns befinden usw." Sie gehen unbekümmert fort, ohne zu antworten.

Man führt sie immer weiter bergan, bis sie ‑ Gegenbefehl ‑ wieder zur großen Wiese hinabgehen müssen: Dann verbreitet sich plötzlich wie ein Lauffeuer unter ihnen das Gerücht, daß der Krieg zu Ende sei. Sie umarmen sich, sie schreien vor Freude und werfen ihre Papiertüten in die Luft. Feuer glimmt irgendwo auf. Die Zivilisten sind überrascht. Falschmeldung: Die SS ist noch immer auf ihrem Posten. Sie stellt die Ordnung wieder her, indem sie ihre Waffen deutlich sichtbar zur Schau stellt.

Es regnet. Die Nacht bricht herein. Schon bald fängt es an zu schneien. Man läßt sie etwa eine Stunde dieselbe Bergstraße hinansteigen wie zuvor. Sie sind völlig entkräftet. Einige stürzen. Hinter ihnen knallen gelegentlich Schüsse. Die Straße steigt weiter an. Sie durchqueren einen Wald. In einem kleinen Weiler steht ein Kreuz an der Straße. Sie halten vor einer Scheune neben einem Misthaufen an. Hier werden sie die Nacht verbringen. Die SS trinkt auf dem Bauernhof Kaffee. In der Scheune stehen zahlreiche landwirtschaftliche Geräte: Sensen, Rechen usw. Die Kräftigsten klettern auf einen Heuhaufen. Er legt sich in einen Trog, der unter drohend darüber aufgehängten Mistgabeln und Sensen steht, wird aber bald von einem Erwachsenen daraus vertrieben. Es hat keinen Sinn, zu streiten. Fr kennt die Regeln. Er rollt sich in der Nähe auf dem Boden zusammen und schläft wie ein Stein.

Als sich am Morgen das große hölzerne Tor öffnet, sieht Maurice, daß es über Nacht heftig geschneit hat. Der Schnee glitzert in der Sonne. Als sie wieder ins Dorf hinabgehen, ist er heiter gestimmt. Ein Pfadfinderlied liegt ihm auf der Zunge. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit summt er leise vor sich hin:

»La route es dure sur la montagne Mais nous allons, plein de courage.« (11)

Plötzlich sieht er an der Böschung eine Leiche liegen.

»Dans 1'ouragan, nos coeurs qui chantent Sont d€livres de leurs tourments.« (12)

Kleine Rinnsale laufen über die Straße, einige knien nieder, um daraus zu trinken. Als sie den Bahnhof erreichen, sehen die „Gestreiften" den Zug auf dem Bahnsteig stehen. Offene Güterwaggons. Die große Wiese ist ihr Wartesaal. Maurice steigt in einen Waggon. Ein SS‑Mann setzt sich innen vor die Tür und nimmt einigen Raum in Beschlag. Abfahrt. Der Konvoi fährt tief unten im Tal an den hohen, schroff geformten Bergen vorüber. Maurice entdeckt elektrische Leitungen über den Gleisen, wie er sie zuvor nur in Büchern gesehen hat. Halt des Zuges, Verlassen der Waggons, was angesichts ihrer Höhe über den Gleisen schwierig ist, Aufstellung in Fünferreihen. Wohin geht es? Die. Einsamkeit, die sie umgibt, ist drückend und scheint erfüllt von drohenden Gefahren. Die Häftlinge marschieren einige Kilometer und lassen Leichen auf ihrem Weg zurück. Die Kolonne stoppt an einer Stelle, an der sich das Tal erweitert. Die Landschaft ist wild und düster in der Dämmerung, vor allem, wenn man von der SS umstellt ist. Jenseits des steinigen Geländes, das sich an der Straße entlangzieht, erstreckt sich ein sandiger Uferstreifen bis zu einem Wildbach; der mit Getöse hinabstürzt. Ein idealer Ort, um sie zu erschießen. Diesmal gibt es keine Zweifel. Ein Maschinengewehr wird auf sie gerichtet. Sie kauern sich auf den Boden. Neben ihm sprechen wieder einige vom Ende des Krieges. Hier und da werden Feuer angezündet. Befehl, sie auszulöschen. Jeder richtet sich mehr schlecht als recht für die Nacht ein. Es dämmert. Das Schlimmste ist die Kälte. Regen und Schnee folgen aufeinander. Während so vieler Jahre hat er davon geträumt, in freier Natur zu campen - „Le camp, le camp nous appelle ..." („Das Zeltlager, das Zeltlager ruft uns ...") ‑, daß er sogar jetzt daran denken muß, obwohl er in seiner dünnen, nassen Kleidung vor Kälte erstarrt ist und im Kies eine Mulde formt, um sich ein möglichst bequemes Lager zu schaffen.

Ein SS‑Mann wendet sich an die große Häftlingsmenge. Natürlich versteht Maurice wieder kein einziges Wort. Und kein Übersetzei ist in der Nähe. Pech. Die Nacht ist hereingebrochen. Der Ort ist nun finster. Plötzlich ertönen Schüsse. Jemand muß versucht haben zu fliehen. Schwimmend, im Wildbach? Es fällt schwer, auf dem Kies zu schlafen, aber matt gewöhnt sich daran, vor allem, wenn man vor Müdigkeit umfällt. Es beginnt zu schneien. Erneut Schüsse in der Dunkelheit, mehrmals. Ist es ihnen gelungen zu fliehen?

Als ei erwacht, hört er zu seiner Überraschung die große Neuigkeit: Die SS ist verschwunden und wurde durch alte Wehrmachtssoldaten und Jungen seines Alters ersetzt, alle in graugrüner Uniform. (13). Er betrachtet sie aufmerksam. Die Alten scheinen zumeist keine fiesen Kerle zu sein, aber die Jungen sind voller Eifer und stolz, ein Gewehr zu besitzen; sie muß man wohl eher fürchten. Man wird sehen.

„Mittenwald" kündigt ein Schild am Eingang eines Marktfleckens an. Halt für die Verteilung von Suppe. Einige der verhungerten Häftlinge werden handgemein. Dann setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Eine Frau schenkt ihm im Vorübergehen zwei Kartoffeln. Während sich die Kolonne mittlerweile über die ganze ansonsten menschenleere Hauptstraße ausdehnt, sieht er, wie ein „Gestreifter" auf der Schwelle eines Hauseinganges zusammenbricht. Die Tür öffnet sich und schließt sich wie von Zauberhand wieder hinter ihm.

Man sieht einige Gesichter hinter den Fenstern. Er beschließt, sein Glück zu versuchen. Er setzt sich vor die nächstbeste Tür. Aber ach! Einer der jungen Soldaten von ihrer Bewachung steht plötzlich vor ihm und richtet sein Gewehr auf ihn. Außer sich vor Angst springt Maurice mit einem Satz auf. Es wäre idiotisch, hier zu sterben, wenige Tage, ja, vielleicht nur wenige Stunden vor Kriegsende, nachdem er all das andere überlebt hat! Er läuft mit den anderen weiter. Ein ungarischer Zivilist wirft seinen Landsleuten in der Kolonne Kuchen zu. Der Zug zieht sich nach und nach auseinander, wird auf der gewundenen Straße immer länger. Es wird Abend. In der Dämmerung scheint es ihm, als würden ihre Bewacher immer weniger und als lösten sich von Zeit zu Zeit einzelne Häftlinge in Luft auf. Plötzlich trennen sich wenige Meter links von ihm zwei Männer von der Gruppe, rennen so schnell sie können und erklimmen die Anhöhe, die neben der Straße aufragt; als sie auf der Höhe anlangen, heben sie ihre Arme in einer Geste des Triumphes und verschwinden hinter dem Hügel. Was haben sie dort erblickt? Die Freiheit? Alles hat sich innerhalb weniger Sekunden zugetragen. Sich selbst überlassen, muß er nun einen geschützten Platz in der eiskalten Landschaft ausfindig machen.

Er faßt eine etwas abseits stehende Scheune ins Auge, die einige dutzend Meter von der Straße entfernt steht. „Gestreifte" liegen im Stroh. Er nimmt etwas von dem Stroh mit und schlüpft in einen nebenan stehenden Schuppen. Dort befinden sich bereits zwei junge polnische Juden. Die drei Jungen verbarrikadieren sich in dem Schuppen. Während der Nacht ist ganz in der Nähe das Donnern der schweren Artillerie zu hören. Fahrzeuge fahren auf der Straße vorüber. Für einen Augenblick meint er zu hören, wie hinter der Holzwand Englisch gesprochen wird, aber er verwirft diese Vorstellung im Halbschlaf wieder.

Am Morgen hört er, wie seine Nachbarn davonlaufen und in ihrer Sprache rufen: „Die Amerikaner!" Unmöglich. Zu häufig ist er schon enttäuscht worden und weigert sich, es zu glauben. Er schläft wieder ein. Dann wird er von einer englischen Stimme geweckt. Er steht auf, um der Sache auf den Grund zu gehen. Zwischen zwei Holzlatten hindurchspähend sieht er, wie Lastwagen vorbeifahren. Ist das wirklich wahr?

Als er mit klopfendem Herzen aus dem Schuppen heraustritt, ist er verblüfft: Entlang der ganzen, gestern noch leeren Straße stehen khakifarbene Militärfahrzeuge, die alle einen mysteriösen weißen Stern tragen. Und wenn es deutsche Truppen wären? Auf einem Lastwagen mit einer langen Antenne liest er „US".

Diesmal gibt es keinen Zweifel, sie sind es wirklich! Ich sehe nichts mehr, weder die Motorräder mit Beiwagen, die mit großer Geschwindigkeit vorbeirasen, noch die auf der Straße entzündeten Feuer; ich versuche zu rennen, ich renne so schnell durch den Schnee, daß ich ganz. atemlos bin, renne überglücklich meinen Befreiern entgegen. Es ist verrückt. Ich weine, ich lache, erfüllt von Glück. Durch meine Tränen hindurch sehe ich große lächelnde Kerle von zwanzig Jahren, sie tragen khakifarbene Jacken und seltsame Helme. Sie scharen sich um mich. Können sie den abgemagerten Knaben verstehen, der mit einem völlig verschmutzten braunen Mantel bekleidet, schluchzend auf sie zustürzt?

Man fragt mich aus, reicht mir Kekse, Schokolade, Käse, Zigaretten. Um mich herum essen meine Kameraden. Ich wärme mich auf, ich stopfe mich voll und fülle meine Taschen. Ich stammle und suche nach Worten. Ich menge deutsche Worte unter die englischen. Ich möchte sagen: Deportierter, Gefangener, Lager. Meine Englischstunden liegen so lange zurück! Ich sehe Geschütze, seltsame kastenförmige Fahrzeuge, die mit Antennen gespickt sind, Krankenwagen, die auf der Rückfront ein rotes Kreuz tragen, was seltsamerweise von zwei abgerundeten Fenstern zerschnitten wird; dann, so weit das Auge reicht, Planwagen. Plötzlich fährt der Konvoi weiter. Ich würde gerne mit ihnen fahren. Sie weisen mir die entgegengesetzte Richtung. Wir verabschieden uns. Für sie geht der Krieg weiter. Für uns ist er vorbei, aber wir stehen nun alleine auf der leeren Straße. Ich fühle mich verlassen. War es nur ein Traum?

Befreiung. Befreiung?

Ich gehe, genauer gesagt schleppe ich mich Richtung Mittenwald dahin, das wir am Vortage verlassen hatten. Ich betrete zusammen mit einigen anderen ein leerstehendes Haus, auf der Suche nach der Küche. Ein Jude in Zivilkleidung gibt uns Nudeln, die er zusammen mit Fleisch gekocht hat. Er fleht uns an fortzugehen.

Rechts brennt ein großes Feuer. Kameraden haben es angezündet, um sich zu wärmen. Ich gehe zu ihnen. Man reicht mir Kaffee. Inder Nähe wurde eine metallene Brücke für das Militär über einen Fluß geschlagen. Lastwagen fahren in langer Reihe darüber. An beiden Enden der Brücke ist ein großer amerikanischer Soldat postiert. Man kann auf seiner schwatzen Armbinde die Buchstaben MP (MilitaryPolice) erkennen. Am anderen Ufer stehen Juden um einen Lastwagen herum. Ich gehe hinüber. Ein amerikanischer Soldat verteilt Lebensmittel. Ich bin nicht in der Lage, meine Ellenbogen einzusetzen, und schnell ist der Lastwagen leer, und die Menge verläuft sich. Ich bleibe allein vor dem Soldaten mit leeren Händen stehen. Voller Mitleid reicht er mir sein Schwanes Fahrrad, das ich automatisch ergreife. Der Lastwagen entfernt sich.

Ich besteige mit Mühe das Rad, mit dem ich kaum etwas anzufangen weiß. Ich komme kaum voran. Jemand folgt mir, sichtlich interessiert an dem Rad. Ich zwinge mich zu beschleunigen, aber mir fehlt die Kraft dazu. Ich habe Mühe, das Gleichgewicht zuhalten und bin nicht in der Lage, kräftig in die Pedale zu treten. Er wird mich bald eingeholt haben, das ist sicher. Vor mir taucht eine Steigung auf. Das ist der Todesstoß. Ich steige ab und überlasse das Rad ohne ein Wort zu sagen einem Zivilisten, der in der Nähe steht.

Die khakifarbenen Lastwagen folgen auf der Straße dicht aufeinander. Ich schließe mich zwei Kameraden an. Ein Offizier weist uns den Weg zu einem Lager. Wir steigen den Hang hinauf. Es handelt sich um ein Barackenlager der Luftwaffe, wo wir uns im Stroh einrichten, zwischenzurückgelassenen Uniformen und Gerätetaschen. Hier und da liegen persönliche Briefe auf den Decken herum. Es scheint, daß es weiter weg in den Bergen Verpflegung gibt. Wir marschieren lange den Hang hinauf, dann in einen Wald hinein, wo wir ein paar verlassene, ausgeplünderte Lastwagen entdecken. Um sie herum sind Waffen verstreut, aber nichts zu essen. Schließlich finden wir große Feldkessel, die einmal Milch enthalten haben und auf deren Boden noch Zucker klebt. Wir schaben ihn mit einem Kochgeschirr ab, sind jedoch bald davon angeekelt. In Ermangelung etwas Besseren kehren wir in das Barackenlager zurück und Strecken uns im Stroh aus. Es ist extrem kalt. Einige haben draußen Feuer angezündet, um Suppe zu kochen. Ich biete ihnen meinen Zucker zum Tausch gegen eine Dose Fleisch an: kein Interesse. Enttäuscht behalte ich ihn. Ich leide noch immer an der Diarrhöe. ".Meine zwei Kameraden. die kräftiger sind als ich, gehen zu einer Verteilung deutscher Militärkleidung, von der man uns erzählt hat. Sie bringen mir ein khakifarbenes Hemd und Unterhosen mit.

Ich habe Hunger. Ich gehe zum Dorf hinab. Ferienhäuser liegen am Weg. Eines ist schwer beschädigt. Ich gehe hinein, suche nach Kleidung und hoffe, etwas zu essen zu finden. In der ersten Etage befindet sich ein Zimmer, in dem große Unordnung herrscht; Kleidung liegt verstreut auf dem Bett und auf dem Teppich herum, und überall liegen Banknoten. Mit steifgefrorenen Fingern ziehe ich mir ungeschickt Strümpfe und weiße Baumwollhandschuhe an, reiße einen Pelzkragen ab, lege ihn mir um den Hals und setze mir eine Art grüngrauer Militärmütze mit Ohrenschützern auf. Auf einem Möbelstück steht eine Flasche Martini, die mich an Frankreich erinnert. (14)

Als ich aus dem Chalet herauskomme, greift mich eine schreiende Furie an. Sie entreißt mir den Pelzkragen und die Handschuhe. Ich lasse sie gewähren, und als sie an den Ärmeln meines Mantels zerrt, begnüge ich mich damit, mich umzudrehen, um ihr das Andreaskreuz auf dem Rücken zu zeigen. Sie insistiert nicht länger. Ich setze meinen Weg fort und sage mir, daß mir wenigstens die Mütze und die unter der Hose verborgenen Strümpfe geblieben sind. Entlang der Straße stürzt eia Bach den Abhang hinunter. Der Rauhreif, der wie ein Spitzengewebe die Büsche bedeckt, glitzert in der Sonne. Die Landschaft ist bezaubernd. Ich ertappe mich dabei, wie ich mich an ihren Reizen erfreue, trotz der schmerzenden Füße, der steilgefrorenen Finger, des Hungers und des Durchfalls.

In den Cafès und den fröhlichen Gasthäusern mit ihren Inschriften in Frakturschrift auf der Fassade sieht man in der Wärme Deutsche fröhlich schmausen.

Rückkehr ins Barackenlager. Heftige Diskussionen. Ein Zivilist im Mantel, der eine Armbinde des Roten Kreuzes und einen weichen Hut trägt, gibt Befehle. Ein kleiner amerikanischer Lastwagen kommt, der einige von uns mitnimmt; er kommt mehrmals wieder. Flohbefallene Vagabunden schubsen einander, um einen Platz zu bekommen. Schwach wie ich bin, bleibe ich mit ein paar anderen Kameraden zurück. Wird man uns hier zu= rücklassen? Ein Offizier weist mir einen Hintersitz in einem dieser offenen, viereckigen khakifarbenen Autos zu, an deren Seiten große Benzinkanister und Werkzeuge befestigt sind. Es fährt plötzlich los und rast mit lebensgefährlichem Tempo über die Gebirgsstraßen. Der eisige Wind durchdringt mich bis auf die Knochen. Ich fühle mich in meiner Haut höchst unwohl und bin bei jeder Kurve davon überzeugt, daß wir in den Abgrund stürzen. Über die Schultern der Soldaten werfe ich einen Blick auf den Geschwindigkeitsmesser. Die Nadel steht nahe der Höchstgeschwindigkeit: 60. Weshalb zeigt sie bei dieser wahnsinnigen Geschwindigkeit nur 60 an?

Nach einigen Dutzend Kilometern erreichen wir Garmisch und fahren in den Hof einer imposanten grauen Kaserne.

Unbegreiflich. Wir sind in die Falle gegangen, eingesperrt und gutbewacht auf diesem großen militärischen Gelände, Gefangene unserer Befreier.

Die Franzosen haben sich zusammengeschlossen. Wir haben in unserem Achterzimmer echte Betten ‑ echte Betten! ‑ und Schränke. Einige haben eine Trikolore genäht, die sie über der Eingangstür unseres Blockes aufgehängt haben. Unter uns sind einige „Freiwillige" oder STOs. (15). Genau weiß man es nicht. Eine Organisation ist entstanden. Der sehr pfiffige Carino ‑ ein großer, etwa dreißigjähriger Bursche ‑ hat einen Radioempfänger aufgestöbert und einen Lautsprecher vor unserem Gebäude installiert. Als wir uns am B. Mai davor versammelt hatten, lauschten wir sehr bewegt der Rede von General de Gaulle und der „Marseillaise".

Amerikaner sind vorbeigekommen und haben nach Freiwilligen gesucht, die die auf den Straßen erschossenen Häftlinge [der Todesmärsche] begraben sollten. Unsere Sprecher lehnen das mit Entrüstung ab: Soll man doch Deutsche dazu nehmen! Was unser Schicksal anbelangt, heißt es offenbar abwarten. Weshalb behält man uns hier, wenn doch der Krieg zu Ende ist? Ich richte mich in dieser Wartestellung ein, schon lange daran gewöhnt, alle Gedanken an die Zukunft zu verdrängen. Aber diesmal ist der Grund ein anderer. Ich fürchte die Heimkehr, die unerträgliche Gewißheit, die mich in Paris erwartet.

Die Kaserne ist riesig. Wir können uns frei in den leerstehenden Stuben und den Zimmern voller Uniformen und Gegenständen aller Arten bewegen. Gerüchte informieren uns über gute Adressen [d. h. Räume, in denen Nützliches zu finden ist], oder aber man folgt einfach dem einen oder anderen in die verschiedenen Stockwerke. Beim Öffnen der Türen, auf der Suche nach unbekannten Reichtümern, habe ich das Gefühl, ein außergewöhnliches Abenteuer zu erleben. Da gibt es zunächst eine Schneiderwerkstatt: Einzelne Schuhe und Stiefel liegen unordentlich herum, in allen Größen und verschiedensten Sorten. Ich schlüpfe mit meinem mageren Fuß in einen schweren Stiefel, aber es ist unmöglich, das Pendant für den anderen Fuß zu finden. Trotzdem bin ich auf diese Weise in die Welt von Mantel und Degen eingedrungen, die in meiner Lektüre auf den „Kleinen Däumling" gefolgt ist. Was einem doch ein Stiefel bedeuten kann, wenn man sechzehn Jahre alt ist! Schließlich muß ich mich mit großen Skischuhen zufrieden geben.

Woanders gibt es Jacken und Hosen in allen Größen. Ich empfinde eine seltsame Erregung, als ich bei meiner Schatzsuche in diesem Berg von Uniformen derer herumwühle, die gestern noch die Herren waren. Hier nimmt mein Sieg greifbare Formen an. Ich häufe in meinem Schrank verschiedene grün-weiße „Kostüme" mit glanzlosen Knöpfen an, die ich säuberlich auf Kleiderbügeln an Nägeln aufhänge. Dreist trage ich eine Feldmütze auf dem Kopf und frohlocke dabei, Soldat zu spielen. In einer Malerwerkstatt nehme ich mir blaue Farbe, um ein kleines deutsches Abzeichen mit den französischen Nationalfarben zu bemalen, und befestige es an meiner Kopfbedeckung. Kaum habe ich sie auf einen Sack gelegt, verschwindet sie auch schon. Der „Dieb" ist verschwunden. Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll.

Die Keller verlocken mich. Unendliche Gänge sind unter den Gebäuden miteinander verbunden. Mit einer Taschenlampe versehen, bewegt man sich gelegentlich im Halbdunkel vorwärts, das vom Licht, das durch die Kellerfenster dringt, unterbrochen wird. Entlang der zementierten Gänge, in denen Spinnennetze hängen, öffnen sich mit unverständlichen deutschen Inschriften versehene Türen zu den unterschiedlichsten Magazinen. Manchmal habe ich ein wenig Angst in der Dunkelheit oder auch, wenn Totenköpfe auf bestimmten Türen erscheinen. Die Stille ist beeindruckend. Zuweilen muß ich mich vorwärtstasten. Eine Treppe bringt mich am anderen Ende der Kaserne wieder ans Tageslicht.

Die wunderbarste Entdeckung aber ist die eines Magazins des Afrikakorps. Was gibt es Phantastischeres, Exotischeres als diesen Tropenhelm, den ich voller Stolz aufsetze und mir damit den Traum aller Kinder meines Alters erfülle, die mit den ruhmreichen Überlieferungen von Reichsgründern genährt worden sind! Etwas weiter findet man Haufen von Shorts und Ledergurten mit dem guten rustikalen Geruch, zweifellos Zubehör für Skiausrüstungen. Ich füge meiner Ausstattung eine große Sonnenbrille hinzu, die ich mir um den Hals hänge, und, natürlich, eine schöbe mit einem Schulterriemen versehene Feldflasche mit einem schwarzen Becher, den man daraufschrauben kann. So bin ich überglücklich und erregt durch die Uniformen und meine wunderbare Entdeckerausrüstung. Was mach es da schon, daß der rechteckige mit fahlrotem Fell bespannte Rucksack nicht dazu paßt, ebenso wenig wie das Edelweiß der Gebirgstruppen aus Metall, das ich mir an die Brust geheftet habe! Natürlich besteht für mich zwischen diesen Objekten und dem Afrikakorps Hitlers keinerlei Zusammenhang; ich knüpfe wieder an die Vorstellungen meiner Kindheit an.

Ein Amerikaner droht uns in seiner Sprache und vertreibt uns. Sie beginnen, uns damit auf die Nerven zu gehen, daß sie uns hier drinnen eingesperrt halten, ohne ein Wort der Erklärung, ohne daß wir wissen, was uns erwartet. Es scheint, daß sich einer von uns, der sich dem Ausgang näherte, plötzlich mit dem Lauf des Maschinengewehres einer Wache vor dem Bauch wiederfand.

Die Griechen fahren ab, dann, unter Geschrei, Fahnenschwenken und Winken, die Russen. Dann sind wir endlich an der Reihe. Lastwagen füllen sich mit unserem Gepäck. Wir klettern hinauf. Fahnen werden aufgehängt. dann geht es los Richtung Frankreich! Ich sitze hinter dem amerikanischen Fahrer. Ich habe beschlossen, in meiner Karnevalsausstattung heimzukehren, und es wird mir schwerfallen, Vernunft anzunehmen.

13. Mai 1945. Der Lastwagen rast wie ein Wirbelwind dahin. Meine afrikanische Brille schützt mich vor dem heftigen Wind. In meinen großen Skischuhen stehend schreie ich trotz meiner Tränen vor Freude. Äste peitschen unseren Wagen, als wir vorüberfahren. Man duckt sich. Auch das Wetter ist mit von der Partie. Die Geschwindigkeit berauscht mich. Die Vorstellung, nach Frankreich zurückzukehren, macht mir Herzklopfen.

Der Fahrer legt eine beunruhigende Unachtsamkeit an den Tag und hat nur nachlässig einen Daumen auf das Lenkrad gelegt. Er wirft einem Mann, der hinten in dem uns voranfahrenden Lastwagen sitzt, eine Packung Zigaretten zu. Das Päckchen fällt zu Boden. Wir brausen durch den Staub.

Wir kommen nach Ulm. Entlang der Straßen ragen aus den Ruinen Mauerstücke auf. Der Lastwagen fährt zu einer Art Zitadelle, die die Stadt überragt. Wir steigen von den Lastwagen. Auf beiden Seiten der Straße erstreckt sich ödes Land, wo die zuerst Angekommenen bereits lagern. In kleinen Gruppen sitzen sie mit ihren Paketen im Gras, zwischen leeren Konservenbüchsen und verstreutem Papier. Keinerlei Nahrungsmittel, keine Unterkünfte. Man muß sich mehr schlecht als recht behelfen. Die Nacht ist hereingebrochen, und es herrscht strenge Kälte. Ich stöbere etwas wie ein Holzgerüst auf, auf dem wir unsere Decken befestigen. Zu, acht drängen wir uns darunter zusammen, unter uns befindet sich auch Carino ‑ der Mann mit dem Radioempfänger ‑ und ein Typ in Begleitung einer Frau ‑ zweifellos einer „Freiwilligen" ‑ mit dem Benehmen einer Prostituierten. Die meisten anderen schlafen unter freiem Himmel. Wir sind verbittert über die Art und Weise, in der man uns behandelt, besonders da wir unter uns die Lichter der Stadt sehen können, wo die Deutschen in ihren Häusern in behaglicher Wärme schlafen.

15.Mai 1945. Wir fahren nach Mannheim ab. Die Lastwagen bringen uns zu einer ziemlich heruntergekommenen Unterkunft. Die Bevölkerung ist elend, und ihre Blicke sind düster. Zusammen mit anderen mache ich mich zum Lager der Russen auf, von dem man mir erzählt hat, in der Hoffnung, dort Brot zu erhalten. Ich irre in den Straßen herum, krank und ohne Ziel.

Plötzlich habe ich in dem Grau‑in‑Grau, der Kälte, dem Hunger und dem Gefühl des Verlassenseins und der Schwäche etwas wie eine Vision: Aus einem Fenster im Erdgeschoss eines grauen Hauses blicken mich zwei junge Mädchen an. Eines gibt mir ein Zeichen, näherzukommen. Mir? Ich traue meinen Augen nicht. Ihr strahlendes Lächeln erhellt die düstere Straße. 'Ich gehe zu ihnen, betört, mit unsicheren Schritten. Mit Grazie reicht sie mir ein Honigbrot, das ich wie in einem Traum mit Tränen in den Augen zu meinem Mund führe. Von einer unaussprechlichen Rührung übermannt, spüre ich, wie mich die Wärme menschlicher Zärtlichkeit durchfließt. Durch die Zauberkraft des Lächelns eines jungen Mädchens und das Geschenk eines Honigbrotes erwache ich wieder zum Leben.

Nach einer Nacht, die ich in einer hübschen, leerstehenden Wohnung auf dem Boden liegend neben dem im einzigen Bett schlafenden Arzt verbracht habe, mache ich einen Spaziergang in der Stadt; ausstaffiert mit deutscher Militärkleidung, mager, wankend und mit rasiertem Schädel. Ein Dutzend junger Mädchen taucht auf, alle beieinander untergehakt und so die ganze Breite der Straße einnehmend. Sie kommen näher, provozierend, und rufen Anzüglichkeiten. Sie machen sich ganz offensichtlich über mich lustig. Ich weiß nicht, wo ich mich verkriechen soll, so sehr schäme ich mich. Ich laufe unter ihrem Hohngelächter davon. Was für ein seltsamer Sieger!

Ankunft auf dem Gare de I'Est am 18. Mai um 8 Uhr. Frühling. Fahrt mit dem Autobus zum Hotel Lutetia (16), in einer erschütternden Atmosphäre mit Tränen in den Augen und einer gerührten Menge, die uns Zeichen gibt.

Ich irre in den Salons des Luxushotels umher ‑ Pfadfinder, Fotos, Familien, Kellnerinnen, weiche Sessel ‑ und wage es nicht, nach Paris hinauszugehen, schrecke zurück vor der bevorstehenden Gewißheit, hin‑ und hergerissen zwischen Hoffnung und Angst. Die Stunde der Wahrheit nähert sich. Bald werde ich meine Großeltern wiedersehen, meine Tante Sarah und meinen Cousin. Doch auf der Tür der Wohnung in der Rue Monge werde ich stattdessen das grausame Sigel der Nazis finden ‑ den Adler mit gespreizten Flügeln und dem Hakenkreuz. Die Wohnung ist leer, erschreckend leer.

Das große Pariser Hotel, Sitz der Abwehr der Wehrmacht während der Okkupation, wurde im Frühjahr 1945 für die Aufnahme der repatriierten Deportierten ausgewählt.

Fußnoten

(1) „Es vergehen die Tage und die Wochen / Weder die verflossene Zeit / Noch die vergangenen Lieben kehren zurück / Unter dem Pont Mirabeau fließt die Seine hindurch." Zitat aus dem Gedicht „Le Pont Mirabenu" von Gillaume Appolinaire.

(2) Maurice bezeichnet damit einige von Stacheldraht umgebene Baracken in der Nähe des Lagereinganges, wo er während des Sommers Zigeuner gesehen hat.

(3) Am 27.Januar, dem Tag der Befreiung des Lagers durch die 60.Armee der ersten ukrainischen Front, fanden die Sowjets dort 7650 Kranke, die dort alleine, zumeist ohne Nahrung und Heizung eine Woche lang ausgeharrt hatten. Viele von ihnen starben in den folgenden Wochen, trotz der Pflege durch die sowjetische Armee und das polnische Rote Kreuz.

(4) Nach den Berichten der Überlebenden konnte man seit einigen Wochen im Lager das Donnern der Kanonen der sowjetischen Armee hören. Es ist möglich, daß ich dies auf meiner Stube im Krankenblock nicht gehört habe.

(5) Die rote Armbinde ist die des Blockführers.

(6) Der große Appellplatz. Maurice kannte bislang keine Appellplätze, denn Auschwitz I war ursprünglich eine polnische Kaserne. Der Appell fand auf den Straßen zwischen den Blöcken statt.

(7) Es handelt sich um das Wirtschaftsgebäude, das heute das Museum beherbergt. In ihm waren die Küche, Waschräume, das Magazin für die Häftlingskleidung, die Werkstätten der Schuster, Schneider usw. untergebracht.

(8) Die Quarantäne dauerte in der Regel vier bis sechs Wochen.

(9) Marcel und Lazare (Lombroso) haben überlebt, Robert soll verrückt geworden sein. (Diese Angaben werden unter Vorbehalt gemacht.)

(10) Titel eines in Frankreich im Jahre 1945 populären Chansons, das Maurice im Mai in Paris hörte, und der ganz und gar seinen Empfindungen entsprach. [„Das Land riecht gut." Hier hat es wohl die Bedeutung von „Es tut gut, unter Landsleuten zu sein." Anm. d. Ü.)

(11) Der Weg ist mühsam in den Bergen/Aber wir gehen voller Mut voran.

(12) Im Wirbelsturm werden unsere singenden Herzen/Von ihren Qualen befreit.

(13) Am Ende des Krieges mobilisiert die NS-Regierung in ihrer verzweifelten Lage die eigentlich nicht mobilisierbaren Jahrgänge, die Veteranen des Ersten Weltkrieges und Jungen von sechzehn Jahren im „Volkssturm".

(14) Maurice glaubt, daß Martini eine französische Marke ist.

(15) STO (Service de Travail Obligatoire): Auf der Grundlage eines Erlasses des Gauleiters Fritz Sauekel vom 22.August 1942 wurden in Frankreich seit 1942 Zwangsverpflichtungen zum Arbeitseinsatz vorgenommen.