Entkräftete Kinder eiskalt erschossen NS-Opfer Cling erzählt sein Schicksal
Garmisch-Patenkirchener Tageblatt vom 17.5. 2005
VON FERDL TROMMSDORFF Mittenwald - "Ich bin tief bewegt, nach so vielen Jahren wieder hier zu sein." Vor 60 Jahren war Maurice Cling schon einmal in Mittenwald. Heute ist der charismatische Herr aus Paris 76. Damals war er 16 und ein bis auf die Knochen abgemagerter Jugendlicher, der von den Vernichtungslagern Auschwitz und Dachau aus am Kriegsende 1945 durch Mittenwald getrieben wurde.
"Meine Eltern sind bereits kurz nach ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet worden", erzählt er. Trotz seines dramatischen Schicksals klingt keine Verbitterung aus seinen Worten: "Mir geht es darum, mit meiner persönlichen Geschichte am Kampf um die Erinnerung teilzuhaben." Deshalb ist er am Pfingstsamstag nach Mittenwald gekommen, auf Einladung der Brendten-Gegner.
Zeitzeuge spricht vor 200 Zuhörern
Die Umstände der Zeitzeugenveranstaltung sind widrig im Jahr drei der Pfingstdemos. Ein kleines Versorgungszelt auf dem Bahnhofparkplatz, im Hintergrund knattert der Diesel-Stromgenerator, im und neben dem Zelt befinden sich 200 Zuhörer, zwischen 16 und 80 Jahren. Maurice Cling sitzt mit den anderen Zeitzeugen auf dem provisorischen Podium hinter einer Bierbank. Getränke gibt`s aus Plastikbechern, im Hintergrund hängen die Parolen der Linken auf italienisch, deutsch und griechisch. Cling sticht mit Sakko aus der Menge im Zelt hervor. "Ich war eines der wenigen Kinder, die die Deportation überlebt haben", erinnert er sich. Sein Martyrium begann mit der Verhaftung in Paris, mitten im Unterricht. Ihm erging es genauso wie 11 400 weiteren jüdischen Kindern, die kurz vor Beginn der Landung der Alliierten verschleppt wurden. Am schlimmsten war der Transport von Auschwitz nach Dachau. Mitten im Winter wurden die KZ-Häftlinge von den Lagern an der Front ins Innere des "Dritten Reichs" gekarrt - wie Vieh in offenen Bahnwaggons. Cling berichtet von Schüssen, die die immer wieder Häftlinge hören mussten. "Diejenigen, die nicht mehr mitgekommen sind, wurden erschossen."
Seine Eltern starben in Ausschwitz
Der 16-jährige Maurice schaffte es, trotz seiner schlechten körperlichen Verfassung, den Todesmarsch durch Mittenwald zu überstehen. Irgendwann standen die letzten verbliebenen Häftlinge des Todesmarschs alleine auf der Straße. Die Bewacher waren vor den anrückenden Amerikanern geflüchtet. "Ich bin mit den anderen abgehauen in eine Scheune, doch die war überfüllt, also mussten wir in eine Schweinestall-ähnliche Unterkunft."
Seine amerikanischen Befreier erkannte Cling zuerst nicht. "Sie hatten ganz merkwürdige Hüte und Uniformen an." Die Soldaten brachten die verstreuten ehemaligen Häftlinge nach Garmisch-Partenkirchen. Dort wurden sie erneut interniert. "Wir waren wütend." Erst später erkannte Cling den Sinn hinter der Maßnahme. Durch die lange Haft litten die meisten an schweren Krankheiten. Außerdem sei völlig unklar gewesen, wer wohin zurückkehren musste, so Cling: "Erst als ich in Paris in unsere leere Wohnung kam, erkannte ich wirklich, dass meine Eltern tot waren."