Angst vor dem Präzedenzfall
Christiane Schlötzer, Süddeutsche Zeitung vom 13. Juni 2003
Die Gedenkstätte liegt auf einem Hügel über dem Dorf, in den Ausläufern des mächtigen Parnassos-Massivs. Touristen erreichen den Ort eher selten, auch wenn sie ihm recht nahe kommen, auf dem Weg über Serpentinenstraßen ins benachbarte antike Delphi. In der Gedenkstätte von Distomo gibt es einen Schrank. Öffnen sich die Türen, fällt der Blick auf Gebeine. 218 Totenköpfe liegen in den Holzfächern, an jedem Fach ist ein weißer Zettel angeheftet, darauf ein Name.
Das Geschehen von Distomo am 10.Juni 1944 ist gut dokumentiert. Es war Gegenstand eines NS-Militärtribunals, weil schon kurz nach dem Massaker bekannt wurde, dass die mörderische Kompanie der 4. SS- Panzergrenadierdivision keineswegs von Bewohnern des Dorfes angegriffen worden war, wie der Kommandant, SS-Hauptsturmführer Fritz Lautenbach, behauptet hatte. An jenem Tag wurde die Einheit nämlich von einem Mann der Geheimen Feldpolizei begleitet. Dieser berichtete, die Kompanie sei zwar von griechischen Widerstandskämpfern attackiert worden, aber viele Kilometer von Distomo entfernt.
Nachdem die SS-Leute die Partisanen aus den Augen verloren hatten, fielen sie über das wehrlose Dorf Distomo her, töteten wahllos Männer und Frauen, auch zwölf Greisinnen von mehr als 70Jahren und vier Säuglinge mit weniger als sechs Monaten. Bei der Untersuchung durch das NS-Militärtribunal gab Hauptsturmführer Lautenbach zu, dass er die üblichen Befehle überschritten habe; er wurde dennoch exkulpiert. Griechische Zeugen wurden nicht gehört.
Das Geschehen von Distomo war lange nur noch in der Erinnerung der Opfer präsent, und allenfalls ein paar Historiker interessierten sich für die alten Akten. Als erster höchster Repräsentant der Bundesrepublik reiste der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1987 nach Griechenland, um sich vor den Opfern der deutschen Militärherrschaft zu verneigen. Die Angehörigen der Ermordeten hofften, Deutschland werde dieser Geste eine finanzielle Entschädigung folgen lassen.
Aber alle deutschen Regierungen fürchteten einen Präzedenzfall. Regelmäßig wurde auf eine frühere Pauschalentschädigung an Athen verwiesen. Für die Hinterbliebenen aber war dies nicht einmal ein Almosen. So klagten sie, und bekamen zunächst Recht, von einem Landgericht in Livadia, in dessen Bezirk die Ortschaft Distomo liegt. Aber bislang konnten die Kläger die 1997 in Livadia und im Jahr 2000 sogar vom griechischen Areopag, dem höchsten Gericht des Landes, bestätigte Entschädigung von damals 55 Millionen Mark juristisch nicht gegen die Bundesrepublik durchsetzen.
Die Kläger hoffen seitdem auch auf den Europäischen Gerichtshof. Ihr Anwalt Ioannis Stamoulis hat versprochen, irgendwann werde "David gegen Goliath siegen". Stamoulis hat sich beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof über die deutsche Regierung beschwert. Eine zweite Beschwerde richtete er gegen seine eigene Regierung, weil er auch im griechischen Justizministerium mangelndes Interesse sah, die Forderungen einzutreiben.
Die Regierung in Athen wünschte sich immer eine außergerichtliche Einigung, schließlich will sie die guten Beziehungen zu Berlin nicht gefährden. Der griechische Außenminister George Papandreou und sein deutscher Kollege Joschka Fischer pflegen betont freundschaftlichen Umgang. Aber für die Wünsche der Bürger aus Distomo sind eher die Finanz- und Justizressorts zuständig. Große Summen erwarten die Hinterbliebenen nicht. Distomo ist heute ein Dorf der Rentner. Die meisten haben nicht mehr lange Zeit zum Kämpfen.