Argyris Sfountouris, dessen Eltern in Distomo ermordet wurden, hat den Prozess trotz schlechter Erfolgschancen vorangetrieben

Christiane Schlötzer, Süddeutsche Zeitung vom 13. Juni 2003

Er wollte nicht erreichbar sein an dem Tag, an dem das Gericht in Karlsruhe verhandelt. "Ich werde auf einem Schiff sein", hatte Argyris Sfountouris angekündigt, und gewöhnlich tut er, was er sagt. Der Mann hat Standfestigkeit und eine zähe Energie. Andernfalls hätte er es nicht all die Jahre ausgehalten, einen Prozess zu führen, von dem ihm so viele gesagt haben, er werde aussichtslos sein. Argyris Sfoutouris und seine drei Schwestern, Überlebende des SS-Massakers im griechischen Dorf Distomo, haben den deutschen Staat auf Schadenersatz verklagt, auf materiellen Ausgleich für ein Verbrechen, das eigentlich nicht wiedergutzumachen ist.

Ohne Argyris Sfoutouris und seine Beharrlichkeit gäbe es diesen Prozess nicht. Aber wer mit dem Mann spricht, der 1940 in Distomo geboren wurde und dessen Haarschopf heute eisgrau ist, der spürt, wie schwer es sein muss, sich immer wieder der Erinnerung auszusetzen. "Wir trauern um die Toten, die keine Stimme mehr haben", hat Sfountouris einmal gesagt. Er hat eine Lebensaufgabe daraus gemacht hat, die Stimmen nicht verklingen zu lassen.

Am 10. Juni 1944 wurden in Distomo zusammen mit 226 anderen Menschen auch die Eltern des damals vierjährigen Argyris Sfountouris ermordet. Mit neun Jahren kamen der Waise und seine drei Schwestern in das Schweizer Kinderdorf Pestalozzi. Die Schweiz wurde seine zweite Heimat. Dort studierte er Kern- und Astrophysik, Philospohie, Pädagogik und Wirtschaft und arbeitete als Lehrer an Züricher Kantonsschulen. Später war er Entwicklungshelfer in Afrika und Asien. Heute hat Sfoutouris einen Wohnsitz in Zürich und einen in Athen.

In Zürich wurde er im vergangenen Herbst mit einer Ausstellung und Lesungen geehrt: Sfoutouris hat früh begonnen, griechische Lyrik ins Deutsche zu übertragen. Jannis Ritsos etwa, den heute weltbekannten, 1990 verstorbenen Poeten hat er übersetzt, als sich außerhalb Griechenlands noch kaum jemand für den Dichter interessierte. In der Schweiz gilt Sfoutouris als geschätzter Mittler zwischen Griechenland und dem deutschsprachigen Kulturkreis.

Seine Wohnung in Athen liegt zufälligerweise in der selben Straße wie das Goethe Institut. Sfoutouris schätzt das deutsche Kulturinstitut, die Vielfalt seiner Veranstaltungen und die stadtbekannte deutsche Kuchen-Auswahl im Studenten-Cafe. Aber das Goethe-Institut, genauer gesagt sein Gebäude in der Omirou-Strasse, war bis vor wenigen Monaten auch juristisches Streitobjekt zwischen den Distomo-Klägern und dem deutschen Staat. Die Kläger, in diesem Fall nicht nur die Familie Sfoutouris, wollten das Gebäude als Ausgleich für Reparationsforderungen beschlagnahmen lassen. Griechische Gerichtsvollzieher hatten die Räume schon vermessen. Aber das Oberste Sondergericht in Athen entschied im September 2002 zu Gunsten der deutschen Seite. Mit der äußerst knappen Mehrheit von sechs zu fünf Stimmen stellte es fest, die Forderungen der griechischen Bürger stünden nicht im Einklang mit dem völkerrechtlichen Grundsatz der Staatenimmunität. Sfoutouris ist überzeugt, dass das griechische Gericht "unter hohem politischen Druck stand". Gleich im Anschluss an das Athener Urteil forderte er den Bundesgerichtshof in Karlsruhe auf, "endlich über unsere Klage zu entscheiden".

Viele Reden hat Sfoutouris in seinem Leben gehalten, viele Artikel geschrieben und Gutachten besorgt. Und immer wieder hat er die Erinnerung wachgehalten, aber gleichzeitig auch betont, dass es "Sühne und Aussöhnung" gehen müsse. Am 50. Gedenktag des Massakers hat er in Distomo gesagt: "Es gab Überlebende damals in Distomo, weil es unter den Deutschen Menschen gab, die den Befehl der inneren Stimme höher stellten als den von Mördern ausgestellten Befehl zum Morden." Die versöhnende Geste ist dem Mann wichtig, der so liebenswürdig und freundlich ist, dass man sich nicht vorstellen kann, dass er hassen mag. Eine solche Geste erwartete er auch aus Karlsruhe oder Berlin. Am Tag nach der Verhandlung wollte er in Distomo sein. Und dann wird auch sein Telefon wieder funktionieren.