Arisierung, Enteignung - Was geschah mit den Besitztümern der ermordeten Juden Europas? Zur Ökonomie der Nazis
Von Götz Aly, veröffentlicht in DIE ZEIT 47/2002 Landläufig stellt man sich den "Arisierungsgewinnler" als beziehungsreichen Selbstständigen oder Konzernmanager vor, auch als korrupten kleineren oder größeren Nazifunktionär, manchmal als Kollaborateur, der sich seine schmutzigen Dienste für die Besatzungsmacht aus "entjudetem" Eigentum honorieren ließ. Nur schwach wird im öffentlichen Bewusstsein gehalten, dass 1942/43 in Hamburg allein aus Holland 45 Schiffsladungen mit insgesamt 27227 Tonnen "Judengut" gelöscht wurden - gedacht als unbürokratische Aufmunterung für die von Bombenangriffen extrem schwer getroffene Stadt. Bei den regelmäßigen Volksauktionen im Hafen ersteigerten sich mehr als 100000 Hamburger einzelne Stücke aus dem Geraubten - genauer gesagt: hauptsächlich Hamburgerinnen, die Männer standen an der Front. Eine Augenzeugin berichtete: "Die einfachen Hausfrauen auf der Veddel trugen plötzlich Pelzmäntel, handelten mit Kaffee und Schmuck, hatten alte Möbel und Teppiche aus dem Hafen, aus Holland, aus Frankreich." Mitten im Krieg.
Doch führt jede Darstellung, die sich allein auf die genannten, sehr unterschiedlichen Kreise von Profiteuren konzentriert, in die Irre. Sie verfehlt den Kern der Sache, wenn versucht werden soll, die Frage zu beantworten, wo das Eigentum der expropriierten und zum großen Teil ermordeten Juden Europas geblieben ist. Sie lässt sich nur dann klären, wenn immer wieder die Finanzverwaltungen und Nationalbanken in Deutschland, in den verbündeten und besetzten Ländern in den Blick genommen werden.
Zwei Tage nach dem Pogrom vom 9. November 1938 verfügte Hermann Göring die Zahlung von einer Milliarde Reichsmark als "Sühneleistung der deutschen Juden". Mit seiner Durchführungsverordnung gestaltete das Reichsfinanzministerium die "Sühneleistung" zu einer Vermögensabgabe von 20 Prozent aus. Jeder Betroffene musste die fällige Geldsumme in vier Teilbeträgen an das zuständige Finanzamt entrichten, und zwar "ohne besondere Aufforderung" am 15. Dezember 1938, am 15. Februar, 15. Mai und 15. August 1939.
Insgesamt trieb der Fiskus auf diesem Weg 1,2 Milliarden Reichsmark bei und verbuchte sie unter dem Haushaltstitel "Sonstige Einnahmen". Die regulären Reichseinnahmen beliefen sich im Haushaltsjahr 1938/39 auf etwa 20 Milliarden Reichsmark. Die Judenkontribution erhöhte sie also um sechs Prozent. Wenn man sich für einen Moment vorstellt, der Bundesfinanzminister könnte heute ohne Steuererhöhungen über plötzliche Mehreinnahmen von sechs Prozent verfügen - das wären 15 Milliarden Euro -, dann offenbart sich sofort, wie entspannend die Zusatzeinnahme von 1,2 Milliarden Reichsmark auf den Durchschnittsarier gewirkt haben muss.
Am 23. November 1938 erörterten die Vorstände der fünf Berliner Großbanken - neben den drei heute noch aktiven Bankhäusern Dresdner, Commerz- und Deutsche Bank die Reichskreditgesellschaft und die Berliner Handelsgesellschaft - im Reichswirtschaftsministerium "die sich durch die Judengesetzgebung ergebende Situation" und erfuhren dort von dem Beschluss einer "Überführung des gesamten Grundstücks- und Effekten-Vermögens aus jüdischem Besitz in zunächst staatliche und später vielleicht private Hände". In Aussicht standen weitere sechs Milliarden Reichsmark, also eine Verstetigung der Zusatzeinnahmen für die nächsten Jahre. Die deutschen Banken gewährten Juden keine Darlehen mehr, weil sie infolge der politischen Diskriminierung zu - kredittechnisch gesprochen - "schlechten Risiken" geworden waren. Um die Zwangsabgabe zu bezahlen, mussten die Tributpflichtigen daher Wertpapiere, Schmuck und Grundstücke veräußern.
Das machte die Bankiers nervös, da sie "überstürzte und unsachkundige Verkäufe" von Aktien und damit die Gefahr einer "Déroute am Effektenmarkt" befürchteten. Schließlich ging es um den für damalige Begriffe "ungeheuren Effektenblock" von 1,5 Milliarden Reichsmark. Sie wollten, dass die Aktienpakete "langsam und unter entsprechender Marktpflege" verkauft würden, mit der Einschränkung allerdings, "dass ein Kursrisiko irgendwelcher Art den Banken nicht aufgebürdet werden" dürfe. Zur technischen Durchführung erklärten sie: "Wir schlagen vor, die so anfallenden Effekten zur Vermeidung unnötiger Arbeit bei den Hinterlegungsstellen, bei denen sie zur Zeit deponiert sind, zu Gunsten des Reichsfinanzministeriums zu sperren und sie dann je nach Lage des Kapitalmarktes sachlich und pfleglich zu Gunsten der Reichsfinanzverwaltung zu veräußern." Aber der Hitler-Staat war pleite. Das Reichsbankdirektorium warnte längst schon vor dem "unbegrenzten Anschwellen der Staatsausgaben", das "trotz unge-heuerer Anspannung der Steuerschraube die Staatsfinanzen an den Rand des Zusammenbruchs" führe. In dieser Situation erboten sich die Banken, "der Reichsfinanzverwaltung auf die abzuliefernden Effekten [der Juden, d. A.] einen angemessenen Kassenvorschuss zu gewähren, über dessen Bedingungen eine Verständigung wohl unschwer erfolgen könnte". So wurde verfahren.
Die Spitzen der deutschen Großbanken betätigten sich in diesem Fall nicht als Räuber, wohl aber als Raubgehilfen, als konstruktive Mitorganisatoren, die das effektivste Enteignungsverfahren gewährleisteten. Ferner machten sie sich zu Hehlern. Sie verwandelten das Geraubte in bares Geld. Für den Vertrauensbruch und Kundenverrat berechnete zum Beispiel die Deutsche Bank ein halbes Prozent Verkaufsprovision zuzüglich der Umschreibungsspesen zulasten ihrer jüdischen Kunden. Auch belebte der weitere Handel mit den vorübergehend verstaatlichten Wertpapieren das Geschäft und eröffnete die Möglichkeit des eigenen, privilegierten Zugriffs. In der Hauptsache jedoch floss der Erlös in die deutsche Staatskasse und minderte die Lasten für die Allgemeinheit. Dasselbe galt selbstverständlich auch für Lebensversicherungen, die zum vertraglich festgelegten Rückkaufwert an den Reichsfiskus ausbezahlt wurden.
Will man darüber hinaus die Enteignung der Juden in den von Deutschland besetzten und abhängigen Ländern begreifen, dann erfordert das einen kurzen Blick auf die Technik der Kriegsfinanzierung. Der Erste Weltkrieg wurde in Deutschland zu 84 Prozent über Anleihen finanziert, nur zu 16 Prozent aus Steuern und Abgaben. Für den mehr als viermal so teuren Zweiten Weltkrieg galt von Anfang an die "goldene Deckungsquote" von 50 Prozent Staatseinnahmen und 50 Prozent Verschuldung. So sollte gleich jede Erinnerung an die Kriegsinflation von 1914 bis 1918, die immerhin 100 Prozent ausgemacht hatte, und an die Hyperinflation von 1923 vermieden werden. Diese Vorgabe konnte die deutsche Finanzverwaltung bis einschließlich 1944 einigermaßen durchhalten. Nur wie? Etwa die Hälfte der regulären Staatseinnahmen hatten die besetzten und abhängigen Länder aufzubringen. Ihnen wurden ungeheuerliche Kontributionen und weit überhöhte Besatzungskostenzahlungen, Kredite und selbst Kriegsanleihen aufgebürdet. Man rechnet mit insgesamt etwa 100 bis 120 Milliarden Reichsmark.
Jüdische Vermögen verwandeln sich in Soldatensold
Prinzipiell sollte sich der Krieg nach dem Willen der deutschen Führung weitgehend aus den besetzten Ländern finanzieren. Daher bezogen deutsche Soldaten ihren Sold stets in der jeweiligen Landeswährung und sollten ihn dort möglichst verausgaben. Auf dieselbe Art wurden alle Dienstleistungen, Rohstoff-, Material- und Lebensmittellieferungen für die deutsche Wehrmacht und für die Ausfuhr ins Reich bezahlt. Das verlagerte den für einen Krieg typischen Inflationsdruck aus Deutschland ins europäische Ausland. Nun konnten die deutschen Besatzungsverwaltungen und Kollaborationsregierungen zwar eine mäßige Geldentwertung in Kauf nehmen, nicht jedoch eine galoppierende. Sie würde, das war allen Verantwortlichen klar, sofort jede okkupatorische Ordnung untergraben und die geregelte Ausplünderung der unterworfenen Länder verunmöglichen. An dieser Stelle der Kriegsfinanzpolitik kamen - unter äußerster Geheimhaltung - die Vermögen der europäischen Juden ins Spiel.
Nehmen wir als erstes Beispiel das Militärverwaltungsgebiet Serbien. Hier hatten die Deutschen bereits Anfang Mai 1942 alle Juden ermordet, derer sie habhaft geworden waren; hier stellte sich die Frage nach der vollständigen Verwertung ihrer materiellen Hinterlassenschaft früh. Natürlich hatten sich an den herrenlos gewordenen Werten bereits eine Vielzahl von Interessenten bereichert, insbesondere Volksdeutsche im Westbanat. Aber das Vermögen der Belgrader Juden war noch zu mehr als 80 Prozent unberührt geblieben. Nach einigen Diskussionen verfügte Göring am 25. Juni 1942, "das jüdische Vermögen in Serbien" sei "zu Gunsten Serbiens einzuziehen". Damit beabsichtigte er - so wörtlich - "eine finanzielle Hilfe für den durch die Last der Besatzungskosten ohnehin stark beanspruchten serbischen Staatshaushalt zu ermöglichen". Die serbische Kollaborationsregierung erließ das entsprechende Gesetz.
Im Sommer 1942 betrugen die monatlichen Besatzungskosten 500 Millionen Dinar; das Gesamtvermögen der serbischen Juden schätzte man auf drei bis vier Milliarden Dinar. Zum Zeitpunkt der Berliner Entscheidung reichte diese Summe also aus, um die Besatzungskosten für ein gutes halbes Jahr zu decken beziehungsweise dafür, über einen längeren Zeitraum den Inflationsdruck auf die serbische Währung zu mindern. Praktisch lenkte die deutsche Besatzungsverwaltung auf Anordnung der Reichsregierung die Erträge aus der Verwertung des jüdischen Gesamtvermögens zuerst in die serbische Staatskasse und von dort - gemischt mit dem Geldstrom, der sich hauptsächlich aus der Notenpresse speiste - in den Besatzungskostenhaushalt.
Am 19. März 1944 besetzten die Deutschen das bis dahin verbündete Ungarn. Im April enteigneten ungarische Behörden die 700000 Juden des Landes komplett, 430000 von ihnen wurden im Mai und Juni in großer Eile nach Auschwitz deportiert. Die Besatzungskosten, die die Deutschen zunächst verlangten, lagen bei 75 Prozent des durch die ungarische Beteiligung am Krieg gegen die Sowjetunion schon stark aufgeblähten Staatshaushalts. Am 31. Mai 1944 erklärte der zuständige Beamte im Reichswirtschaftsministerium auf einer Sitzung des "Ungarn-Ausschusses" zur Frage der Besatzungslasten: "Die ungarische Judengesetzgebung ist inzwischen weiter vervollständigt worden. Die ungarische Regierung rechnet damit, dass die großen finanziellen Anstrengungen, die im Rahmen der gemeinsamen Kriegsführung notwendig werden, weitgehend aus dem Judenvermögen bestritten werden können. Die Vermögen sollen mindestens ein Drittel des Nationalvermögens betragen."
Der für die Enteignung zuständige ungarische Beamte - es handelte sich um den Verwaltungschef des Branntweinmonopols - teilte zum selben Zeitpunkt mit, "dass die beschlagnahmten Judenvermögen zur Deckung der Kriegskosten und zur Wiedergutmachung der durch Bombenangriffe verursachten Schäden verwendet werden". Die Neue Zürcher Zeitung analysierte am 3. August 1944 die Lage in Ungarn: "Bei der Arisierung jüdischer Unternehmen ist der behördlich festgesetzte Kaufpreis sofort in bar zu bezahlen, was zeigt, dass die Aktion wie seinerzeit in Deutschland eine gewisse fiskalische Bedeutung (Erleichterung der Kriegsfinanzierung) besitzt." Die Sachwerte und Depositen wurden wie überall von Ungarn für Ungarn verwertet - in Geld verwandelt, floss der Erlös dann zu einem erheblichen Teil in die deutsche Kriegskasse.
Die Plünderung der Juden von Saloniki im Jahre 1943
Nehmen wir als letztes Beispiel den Spezialfall Griechenland. Hier herrschte im Herbst 1942 eine extrem schnell voranschreitende Entwertung des Geldes. In dieser Situation ernannte Hitler im Oktober einen Sonderbeauftragten, dem sofort der Judenreferent des Auswärtigen Amtes zur Seite gestellt wurde. Er hieß Eberhard von Thadden und beteiligte sich bis zum Februar 1943 an den Vorbereitungen zur Deportation der nordgriechischen Juden, das waren fast ausschließlich die mehr als 50000 jüdischen Bürger von Saloniki. In seinen Reisekostenabrechnungen gab von Thadden als Grund seiner Athen-Flüge an: "Sonderauftrag des Führers betr. Stabilisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Griechenland".
Dort hatte sich neben der Drachme bereits eine zweite Währung etabliert - das Gold. Daher brauchten es auch die Deutschen. Ihre Goldforderungen an die jüdische Kultusgemeinde und an wohlhabende Einzelpersonen setzten sofort mit der "Aktion zur Stabilisierung der griechischen Währung" ein. Aus den Berichten der Überlebenden ist bekannt, wie der Wehrmachtsbefehlshaber von Saloniki, Max Merten, die verängstigten und gedemütigten Juden mit falschen Versprechen immer wieder zu Zahlungen zwang und höhnisch brüllte: "Goldbarren sind der Tarif". Einige Tage vor der Deportation nach Auschwitz im März 1943 wurden die Opfer in ein kleines Warteghetto in der Nähe des Bahnhofs von Saloniki ge-bracht: "Dort mußten sie alles abgeben, Schmuck und alle goldenen Gegenstände."
Mithilfe von Spitzeln und Folter zwangen Mitarbeiter Eichmanns die Wehrlosen, die Verstecke ihres Schmuckes und Goldes preiszugeben. So "füllte sich die Schatzkammer der Vélissarioustraße mit allen Kostbarkeiten Ali Babas", wie es bei Michael Molho, dem griechisch-jüdischen Chronisten der Tragödie heißt: "Auf den Tischen lagen wohlgeordnet und in verschiedenen Haufen Ringe mit Diamanten und Edelsteinen aller Nuancen und Größen, Broschen, Medaillons, Armreifen, Goldketten, Trauringe, Uhren in jeder Form, Münzen, geordnet nach Bildern und Jahreszahlen, amerikanische und kanadische Dollars, Pfund Sterling, Schweizer Franken etc. Auf der Erde häuften sich an: Vasen, chinesische Porzellangefäße, seltene Objekte, enorme Stapel von Teppichen. Es war, auf diesem Raum relativ zusammengepfercht, ein Überfluss an Reichtümern, den selbst die überschwengliche Phantasie eines Alexandre Dumas nicht sich hätte spiegeln lassen in den Augen seines Monte Christo." Allein an Gold erbeuteten die Deutschen in Saloniki nach verlässlichen Feststellungen aus dem Jahr 1946 "die eindrucksvolle Menge von über 12 t. Feingold". Zu diesem Zweck wurden selbst noch die Gräber auf dem in Bauland umgewandelten uralten jüdischen Friedhof von Thessaloniki nach Gold durchwühlt.
Das geraubten Gold setzten die Deutschen ausgesprochen effizient ein. Sie verwandten es mit Wissen der griechischen Finanzverwaltung und mithilfe griechischer Vertrauensmakler zu Stützungskäufen an der Börse. Kaum ging es im Juli/August 1943 zur Neige, stieg die Inflation wieder steil an. Daher flogen die Deutschen im letzten Jahr der Besatzung acht Tonnen Gold zur weiteren Währungsstabilisierung nach Griechenland ein. Auch dieses Gold war geraubt - von überall in Europa, nicht allein von Juden, aber auch. Doch zeigt der Transport nach Griechenland, wie wichtig dieses Mittel war, um die täglichen Kriegskosten zu bezahlen. "Als Vorteil der Goldverkäufe", so resümierte Hitlers Sonderbeauftragter für Griechenland, "steht die technische Entlastung der Notenpresse fest, da mittels Gold erhebliche Mengen Banknoten bar für den Wehrmachtsbedarf herausgeholt wurden."
Im Oktober 1942 mussten die rumänischen Juden Gold, Silber, Schmuck und Wertsachen an die Staatskasse des Landes abliefern, um die Währung zu stabilisieren. Offensichtlich konnten damit nur zwei, drei Monate überbrückt werden. Daher schlossen die beiden Außenminister Ribbentrop und Antonescu am 11. Januar 1943 im Führerhauptquartier ein Geheimabkommen über die Lieferung von 30 Tonnen Gold aus den Beutetresoren der Reichsbank an die Rumänische Nationalbank, um so die rumänische Währung "für die im deutschen Interesse erfolgende zusätzliche Notenausgabe" zu stabilisieren. In der Slowakei stabilisierte die Nationalbank die Währung durch den Verkauf von geraubten Edelsteinen. Woher die gekommen sein werden, liegt nahe.
Das große Schweigen der Banken und der Finanzminister
Der Verkauf von Gold, Sachwerten, Immobilien, Wertpapieren und Pretiosen erlaubte eine gewisse währungspolitische Stabilisierung in einem Krieg, der aus deutscher Sicht stets im nächsten halben Jahr gewonnen werden sollte. Der übergroße Teil des Vermögens der enteigneten und ermordeten Juden Europas verschwand eben nicht in den Kellern schweizerischer oder deutscher Banken. Wo aber dann? NS-Deutschland verhängte im Zweiten Weltkrieg eine beispiellose Kriegslasten- und Schuldenunion über Europa. Als fester Posten auf der Habenseite wurden darin die Vermögen der enteigneten Juden Europas verbucht, in Ungarn deckten sie die Besatzungskosten wohl zu 100 Prozent, in anderen Ländern nur zu fünf, zehn oder 20 Prozent - in jedem Fall dämpfte die Arisierung die Spitzenlasten, sie bremste die Inflation. Aus dem Besatzungskostenetat erhielten die deutschen Soldaten ihren Sold in der jeweiligen Landeswährung. Sie durften dieses Geld nicht mit nach Hause nehmen, sondern mussten und wollten es auf den jeweils einheimischen Märkten ausgeben. Sie bezahlten davon Lebensmittel, mit denen sie die Abermillionen Feldpostpäckchen für ihre Familien füllten, Schuhe, Seidenschals und Schmuck, die sie ihren Freundinnen und Frauen schickten; sie bezahlten davon Tabak, Schnaps oder den Besuch im Bordell. Mit anderen Teilen der Besatzungskosten wurden Rechnungen für die tägliche Truppenversorgung beglichen, für Kleidung, Transporte, Quartiere und Lazarettaufenthalte deutscher Soldaten oder die Bunker des Atlantikwalls. Alle diese Leistungen wurden mit Mitteln bezahlt, die einen zeitlich und örtlich unterschiedlichen, durch die Vermischung mit anderen Geldströmen anonymisierten Anteil der zu Geld verflüssigten Vermögenswerte der Juden Europas enthielten.
Nach dem Krieg verschwiegen die beteiligten Beamten der Nationalbanken und Finanzministerien in sämtlichen europäischen Ländern ihre Kenntnisse über die Metamorphose der enteigneten Werte. Die überlebenden Opfer und ihre Anwälte durchschauten das System nicht. Daher findet sich in den Verfahren, die ausländische Antragsteller vor deutschen Wiedergutmachungsgerichten anstrengten, immer wieder dasselbe abweisende Argument: Nicht etwa die deutsche Besatzungsmacht, sondern die jeweilige nationale Regierung oder Verwaltung der besetzten oder verbündeten Länder habe die Juden enteignet. Das Vermögen sei daher nicht außer Landes, insbesondere nicht nach Deutschland gebracht worden. Folglich erging regelmäßig und in abertausend Fällen ein ablehnender Beschluss, begründet mit der angeblichen Unzuständigkeit deutscher Gerichte. Ebenso verstellte der einseitige Blick auf Banken, Konzerne und individuelle Profiteure den Blick.
Tatsächlich verhielt es sich so, wie der Vertreter des Auswärtigen Amtes in Belgrad im Sommer 1942 die staatlich organisierte Form der Geldwäsche beschrieb: "Das Vermögen der Juden in Serbien ist zu Gunsten Serbiens einzuziehen, weil eine Einziehung zu Gunsten des Reiches der Haager Landkriegsordnung wiedersprechen würde. Der Erlös kommt aber mittelbar uns zugute." Gemeint waren alle Deutschen. Sie profitierten in einer unaufdringlichen, schwer erkennbaren Form vom Mord an den europäischen Juden. Politisch gesehen, minderten die Enteignungsakte die Lasten des Krieges für jeden von ihnen. Das hob die Stimmung in Deutschland und stärkte das Massenvertrauen in die Staatsführung. Das jüdische Eigentum in Europa wurde zugunsten fast aller Deutschen sozialisiert. Am Ende hatte jeder Wehrmachtsoldat einen Bruchteil davon in seinem Geldbeutel, jede deutsche Familie Speisen auf ihrem Teller, Kleidungsstücke im Schrank, die zu einem gewissen Teil davon bezahlt worden waren.
Der Zeithistoriker Götz Aly veröffentliche jüngst gemeinsam mit Christian Gerlach "Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden" (DVA 2002). Sein Beitrag ist die Rede zum Jahrestag der Pogromnacht vom 9. November 1938, gehalten in der Frankfurter Paulskirche