Ausgebeutet und vergast
Das Schicksal der griechischen Juden unter deutscher Herrschaft 1941-1944.
Von Martin Seckendorf Griechische und deutsche Medien berichten über ein Schiff, das am Meeresboden in der Ägäis vor der Südküste der Peloponnes liegt. Taucher wollen ein Wrack geortet haben. Das Medieninteresse entzündet sich an der vermuteten Ladung. An Bord des gesunkenen Schiffes könnte sich der "Schatz von Thessaloniki" befinden, den die Deutschen den Juden der Stadt 1943 abgepreßt haben, bevor sie sie nach Auschwitz in die Gaskammern deportierten.
Hauptverantwortlich für die Ghettoisierung und Enteignung der Juden in der deutschen Besatzungszone "Saloniki- Ägäis" war Max Merten, ein Wehrmachtsbeamter im Range eines Kriegsverwaltungsrates. Er soll die Verladung des Schatzes auf das Schiff und dessen Versenkung veranlaßt haben, weil er den Schatz nach dem Krieg selber heben und sich aneignen wollte.
Das Wrack im Mittelmeer ruft das Schicksal der griechischen Juden unter deutscher Besatzung in Erinnerung. Damals sind 83 Prozent der jüdischen Vorkriegsbevölkerung Griechenlands umgebracht worden. Die 2 000 Jahre alte jüdische Gemeinde in der oft als "Klein-Jerusalem" bezeichneten Stadt Thessaloniki wurde fast vollständig ausgelöscht.
Sonderkommando Rosenberg
Mit der in Griechenland am 6. April 1941 einfallenden 12. deutschen Armee marschierte auch eine Einsatzgruppe der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes ein. Sie sollte mit logistischer Unterstützung der Wehrmacht "Terroristen, Kommunisten, Juden und andere Reichsfeinde" bekämpfen. Nachdem sich im Juni 1941 die Deutschen in ihre in Absprache mit dem faschistischen Italien festgelegten Besatzungszonen (nämlich "Saloniki-Ägäis", Athen-Piräus und Westkreta) zurückgezogen hatten, konzentrierte sich die Verfolgung der Juden auf die sogenannte Saloniki-Zone. In der italienischen Zone blieben die Juden zunächst weitgehend unbehelligt - bis zur Kapitulation Italiens im September 1943.
Ein Sonderkommando des Chefideologen der Nazis, Alfred Rosenberg, war der 12. Armee angegliedert. Für "Exekutivmaßnahmen" stand dem Sonderkommando Wehrmachtspersonal aus der Geheimen Feldpolizei (GFP) und der Militärverwaltung zur Verfügung. Archive, Bibliotheken, Zeitungsredaktionen, Kirchenämter, Behörden, Bankschließfächer, Krankenhäuser, Wohn-, Geschäfts- und religiöse Gemeinschaftseinrichtungen wurden durchsucht und brutale polizeiliche Verhöre durchgeführt. Das Kommando hat historisch wertvolle Dokumente, Kulturgüter und lithurgische Gegenstände beschlagnahmt und nach Deutschland transportiert, darunter 100 000 Bücher aus den jüdischen Bibliotheken in Thessaloniki. Ziel dieser Aktionen war die Gewinnung von Argumenten für die antisemitische Propaganda und die Sammlung von statistischem Material, von Namen, Adressen, Arbeitsstellen, Eigentums- und Vermögensverhältnissen, Angaben, die für die von Rosenberg vorbereitete "rationelle" Art des Völkermords, für Hitlers "Endlösung der Judenfrage", von Bedeutung waren.
Im Sommer 1942 verschärfte die Wehrmacht den Druck auf die Juden Thessalonikis. Die Militärverwaltung ordnete die Zwangsarbeitspflicht für Juden an. Unter unmenschlichen Bedingungen wurden die Arbeiter in der Erzförderung, u.a. in den vom Krupp-Konzern in Essen für die deutsche Kriegswirtschaft ausgebeuteten Chromerzgruben, sowie im Straßen- und Flugplatzbau eingesetzt. Die Aktion trug alle Merkmale der "Vernichtung durch Arbeit". Dieses "Prinzip" bei der Ausmerzung ethnischer oder politischer "Feinde" wandte das Nazi-Reich insbesondere ab Herbst 1941 angesichts der hohen Verluste der Deutschen vor Moskau an. Es beinhaltete, die Arbeitskraft der Todeskandidaten vor der Vernichtung möglichst vollständig zu verwerten. Dazu hatte der Chef des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes, SS- Obergruppenführer Pohl, befohlen, der Einsatz müsse "im wahren Sinn des Wortes erschöpfend sein, um ein Höchstmaß an Leistung zu erreichen". An der Ausführung dieses Befehls waren im Gebiet Saloniki-Ägäis in kurzer Zeit über vierhundert jüdische Zwangsarbeiter gestorben. Aus erschöpften, todkranken Arbeitern war keine Leistung mehr herauszuholen. Um aus dieser "Angelegenheit" dennoch Gewinn schöpfen zu können, verfiel Kriegsverwaltungsrat Merten auf den "Dreh", die jüdische Gemeinde für die Auslösung aus der todbringenden Zwangsarbeit eine Ablösesumme in Höhe von umgerechnet mehreren Millionen Reichsmark zahlen zu lassen. Einen großen Teil dieses Geldes hat Merten offenbar in die eigene Tasche gesteckt.
Anfang 1943 verstärkten deutsche Militärs und Diplomaten den Druck auf die italienischen Militärbehörden, die in ihrer Zone lebenden Juden den "Endlösungs"-Maßnahmen zu unterwerfen. Generaloberst Löhr, Oberbefehlshaber der in Griechenland befehlsführenden Heeresgruppe E, bedrängte den italienischen Oberbefehlshaber, General Carlo Geloso, mit den dort lebenden griechischen Juden nach deutschem Beispiel zu verfahren.
"Endlösung" in Thessaloniki
Als die Italiener das ablehnten, begannen die Deutschen ab Frühjahr 1943 in ihrer und in der bulgarischen Zone Griechenlands mit der "Endlösung". Als erste deportierte man die etwa 4 000 griechischen Juden der Provinz Belomorje, wie die Bulgaren das Gebiet nannten, in Vernichtungslager, meist nach Treblinka, wo fast alle - etwa 97 Prozent - sofort im Gas erstickt wurden.
Anfang Januar 1943 fanden in Athen Beratungen zwischen dem Bevollmächtigten des Reiches in Griechenland, Dr. Günter Altenburg, dessen Vertreter in Saloniki, Generalkonsul Schönberg, dem Oberkommando der Heeresgruppe E, dem Befehlshaber Saloniki-Ägäis und der SS statt, auf denen die Einzelheiten einer schnellen "Endlösung" im Bereich Saloniki- Ägäis besprochen sowie der Ablauf und die Verantwortlichkeiten festgelegt wurden. Für die "Endlösung" im Befehlsbereich Saloniki-Ägäis stellte die hochrangige Januarbesprechung eine Frist von sechs bis acht Wochen.
Zwei Drittel aller Juden Griechenlands, etwa 50 000 Menschen, lebten in diesem Befehlsbereich. In einer konzertierten Aktion der Wehrmacht, der Dienststellen des Reichsbevollmächtigten Altenburg und der Kommandos der Sicherheitspolizei und des SD ab Januar 1943 erfolgten die Erfassung, Enteignung, Ghettoisierung und Deportation der Juden.
Am 6. Februar 1943 ordnete die Militärverwaltung unter Max Merten die Kennzeichnung und Ghettoisierung an. Am 1. März mußten alle Juden eine detaillierte Vermögenserklärung abgeben. Wenige Tage danach wurde ihr gesamter Besitz beschlagnahmt. Alles Bargeld mußte abgeliefert werden. Es wird vermutet, daß Merten, wie schon bei der Zwangsarbeiteraktion des Jahres 1942, einen erheblichen Teil der konfiszierten Güter und des Bargeldes für sich abgezweigt hat - eine weitere Quelle, aus der sich der vermutete Schatz in dem Wrack vor Kalamata speist. Die Militärverwaltung (Merten) verkündete kraft der ihr verliehenen vollziehenden Gewalt die Terrormaßnahmen. Deren Durchführung übertrug sie den in "Endlösungsfragen" erfahrenen Profis der Außenstelle des Sicherheitsdienstes Thessaloniki und dem Sonderkommando des Sicherheitsdienstes unter Leitung des Eichmann-Mitarbeiters SS-Hauptsturmführer Wisliceny (Sonderkommando der Sicherheitspolizei für Judenangelegenheiten).
Am 15. März 1943 ging der erste Transport in das Tausende Kilometer entfernte Auschwitz. Um die zu Kriegszeiten knappen Transportkapazitäten restlos auszunutzen und den vorgegebenen Zeitplan einzuhalten, pferchte man die Menschen eng zusammengedrängt in Viehwaggons. 2 600 bis 2 800 Menschen wurden auf diese Weise pro Transport deportiert. Viele überlebten den neuntägigen Transport nicht und kamen tot in Auschwitz an. Fast alle Juden aus Griechenland wurden von der Rampe sofort in die Gaskammern getrieben. Im Sommer 1944 erwähnte der Kommandant von Auschwitz, Höß, beiläufig, daß die griechischen Juden zur Arbeit u. a. in den Betrieben der IG-Farben-Industrie AG körperlich nicht fähig und sofort zu ermorden sind. Nur einige junge Frauen habe er in den Block 10 überstellen lassen, wo Professor Clauberg qualvolle medizinische Experimente an ihnen durchführte.
Als im April 1943 der Oberrabbiner Koretz an den Kollaborationsministerpräsidenten Rallis bei dessen Besuch in Thessaloniki appellierte, dafür zu sorgen, "daß die seit 2 000 Jahren bestehende Kultusgemeinde zu Saloniki nicht liquidiert werden möge", lehnte Rallis eine Intervention kategorisch ab. Der Befehlshaber Saloniki-Ägäis sah in diesem Vorfall einen Versuch "der Gegenwirkung gegen einen militärischen Befehl", ließ Koretz mit seiner ganzen Familie festnehmen und auf die Liste jener Juden setzen, die "mit einem der nächsten Transporte abbefördert" werden sollten, wie es in einem Bericht des Generalkonsuls Schönberg vom 16. April 1943 an Altenburg über den "Skandal" hieß. Der Bericht Schönbergs spiegelt die Zustimmung des Altenburg-Apparats mit den Maßnahmen des Befehlshabers wider. Der im Januar vorgegebene Zeitplan wurde eingehalten. In kurzer Zeit deportierten die Nazis etwa 50 000 Juden aus der deutschen Besatzungszone in die Vernichtungslager.
Menschenjagd in der italienischen Zone
Der Oberbefehlshaber Löhr und der "Reichsbevollmächtigte" Altenburg steigerten den Druck auf die Italiener, in ihrer Zone endlich mit der "Endlösung" zu beginnen. Um das Argument der Italiener zu entkräften, wegen der Deportationen aus Thessaloniki hätten die Deutschen zur Zeit kein Schiffs- und Waggonraum zur Verfügung, schlug das Auswärtige Amt vor, daß die Juden der italienischen Zone bis zur Gewinnung neuer Deportationsmöglichkeiten vorübergehend "in Sammellagern zusammengezogen und die arbeitsfähigen Kräfte als Baukompanien für Festungsbauten oder zur Verbesserung von Eisenbahnlinien" nach dem Vorbild der Aktion vom Sommer 1942 in Thessaloniki eingesetzt werden sollten. Altenburg halte "einen solchen Plan für sofort durchführbar und wünschenswert", heißt es in dem Schreiben. Dem Druck der Deutschen versagten sich die italienischen Befehlshaber auch weiterhin, so daß die Juden im größten Teil Griechenlands noch eine kurze Atempause erhielten.
Nach der Kapitulation Italiens wurde die deutsche "Endlösung" sofort auf ganz Griechenland ausgedehnt. Am 3. Oktober 1943 ordnete der Höhere SS- und Polizeiführer die Erfassung der Juden an. Da sich nur wenige Juden zur "Erfassung" meldeten, befahl der Befehlshaber in Griechenland, General Speidel, alle Juden, die sich nicht hatten registrieren lassen, sofort zu enteignen. Wehrmacht und Sicherheitsdienst der SS begannen mit der Jagd auf die Juden. Auf dem Festland konnten viele von ihnen untertauchen oder sich durch Flucht zu den linksgerichteten ELAS-Partisanen retten. Auf den Inseln jedoch und im Gebiet um Joannina, wo die rechtsgerichtete Partisanenarmee EDES die antijüdischen Maßnahmen unterstützte, fielen fast alle in deutsche Hände. Über die Deportation der Juden von Joannina am 25. März 1944 berichtete ein Kommando der Gruppe Geheime Feldpolizei (GFP) 621 beim XXII. Gebirgsarmeekorps. Nach vorheriger Ghettoisierung seien dank "vorbildlicher" Zusammenarbeit von GFP mit anderen Wehrmachtseinheiten, der Feldgendarmerie sowie griechischer und deutscher Polizei alle Juden verhaftet und 95 Prozent von ihnen deportiert worden - insgesamt 1725 Menschen. Widerstand habe es nur von der linksgerichteten Befreiungsfront EAM gegeben. Aus den rechtsgerichteten EDES-Kreisen werde "volle Zustimmung laut".
Kurze Zeit später begannen die Maßnahmen gegen die 2 000 Juden auf Korfu. Der Feindlagebearbeiter (Ic) der Korpsgruppe Joannina bat am 28. April 1944 seinen vorgesetzten Abwehroffizier der Heeresgruppe E, beschleunigt mit den "Endlösungs"-Maßnahmen auf der Insel zu beginnen. Der Ic-Offizier machte auf einen besonderen Vorteil der schnellen Deportation aufmerksam: Viele "unnütze Esser" würden verschwinden. Der Abtransport bedeute "eine nicht unerhebliche Erleichterung der Ernährungslage". Nachdem die Kriegsmarine den knappen Schiffsraum und die Heeresgruppe den ebenso raren Kraftstoff für den Transport auf dem Festland bereitgestellt hatten, begann die Deportation. Am 17. Juni 1944 meldete der Befehlshaber der Sicherheitspolizei dem für Korfu verantwortlichen Generalkommando des XXII. Gebirgsarmeekorps, von der Insel seien alle Juden, insgesamt 1795 Personen, abtransportiert worden.
Kriegsverbrechen bis heute ungesühnt
Die letzten Opfer waren die Juden auf Rhodos. Am 13. Juli 1944 befahl der Kommandant Ost-Ägäis, Generalleutnant Kleemann, die Erfassung, Ghettoisierung und Enteignung der Juden. Danach begann die Deportation. Wenige Wochen vor dem Ende der deutschen Herrschaft in Griechenland ging der letzte Transport von Rhodos in die Gaskammern des fast 3 000 Kilometer entfernten Auschwitz. Der "Endlösung" fielen etwa 58 900 Menschen zum Opfer.
Für die Mitwirkung an der Ermordung der griechischen Juden mußte sich bis heute keiner der Offiziere oder Beamten des deutschen Besatzungsregimes verantworten. Viele der damals Verantwortlichen, insbesondere aus der Wehrmacht und dem Apparat des "Reichsbevollmächtigten", konnten nach 1945 ihre Karriere nahezu bruchlos im auswärtigen Dienst oder in der Bundeswehr fortsetzen. Nur Max Merten bekam wegen seiner Tätigkeit als oberster Verwaltungschef in Thessaloniki zeitweilig Schwierigkeiten. Wegen seiner alten Verbindungen zu griechischen Kollaborationskreisen und guten Beziehungen zum Bonner Establishment selbstsicher geworden, reiste er 1957 zur Erledigung privatgeschäftlicher Angelegenheiten nach Griechenland. Dort wurde er verhaftet und zu 25 Jahren Haft verurteilt. Die Bundesregierung forderte seine Freilassung. Die Griechen verlangten im Gegenzug, daß Merten vor ein deutsches Gericht gestellt wird und die Bundesrepublik die Opfer der deutschen Besatzungszeit entschädigt. Die Bonner Regierung lehnte die Entschädigung ab, um keinen Präzedenzfall zu schaffen.
Druck auf Bonn durch DDR-Initiative
Bei diesem Verhandlungsstand trafen in Bonn für die Bundesregierung bedrohliche Nachrichten aus Ostberlin ein. Die DDR erklärte sich bereit, die griechischen Opfer zu entschädigen und bot Verhandlungen auf höchster Ebene an. Es war klar, daß dies über kurz oder lang zur Anerkennung der DDR durch Griechenland führen würde. Damit wäre an einem geostrategisch sensiblen Punkt die Bonner Hallstein- Doktrin durch einen NATO-Verbündeten durchlöchert worden. Die Doktrin artikulierte bekanntlich die Anmaßung, die Bundesregierung vertrete alle Deutschen in West und Ost. Jede Anerkennung der DDR durch einen anderen Staat zog den Abbruch der diplomatischen Beziehungen der BRD zu diesem Staat mit allen ökonomischen Konsequenzen nach sich.
Bonn änderte Griechenland gegenüber sofort seine Haltung. Die Bundesrepublik überwies 1960 eine Einmalentschädigung in Höhe von 115 Millionen DM für politisch, rassisch oder religiös verfolgte Griechen. Merten wurde nach Westdeutschland abgeschoben und dort festgenommen. 1968 stellte ein Westberliner Gericht das Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Mangels an Beweisen bzw. wegen Verjährung ein. Für seine fast dreijährige Haft in Griechenland erhielt er eine Entschädigung. Er starb 1976 als juristisch unbescholtener Mann. Die über 90 000 Opfer anderer deutscher Terrormaßnahmen sind bis heute noch nicht entschädigt.