Bundesregierung bedauert das Vorgehen der Waffen-SS in Griechenland - Geld will sie trotzdem nicht bezahlen
Von Stefan Geiger, Stuttgarter Zeitung 13.06.2003
Die SS hat ein Massaker verübt. Alle sagen, dass den Opfern damals schreiendes Unrecht widerfuhr. Die geforderte Entschädigung wird es wohl dennoch nicht geben. Es fehlt die "Anspruchsgrundlage". Und es könnte jeder kommen.
Am 10. Juni 1944 umstellen Soldaten der 4. SS-Panzergrenadierdivision das griechische Dorf Distomo nahe Delphi. Die deutschen Soldaten erschießen 218 Bewohner, in der Mehrzahl Frauen, Greise, Kinder. Sie brennen den Ort nieder. Zuvor hatten griechische Partisanen 18 Deutsche aus einem Hinterhalt heraus getötet. Distomo war nur eines von vielen Massakern, das die Deutschen damals in Griechenland anrichteten; zwischen 1941 und 1944 sind nach Schätzungen 460 griechische Ortschaften völlig zerstört und rund 30 000 Griechen ermordet worden.
Argyris Sfountouris überlebte das Massaker von Distomo; er war damals vier Jahre alt. Seine Eltern wurden erschossen, das elterliche Haus zerstört. Jetzt klagt der Professor gemeinsam mit anderen vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe gegen die Bundesrepublik, um eine Entschädigung zu bekommen. Vor dem III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs ist gestern, 59 Jahre danach, von der Tat kaum noch die Rede.
Die Bundesregierung lässt ihren Anwalt eine kurze Erklärung verlesen, dass im Zweiten Weltkrieg von Deutschen vielfältiges Unrecht begangen worden ist, dass das Vorgehen in Distomo besonders brutal war, und dass die Regierung die große Zahl von Schäden an Leben, Gesundheit, Freiheit und Vermögen zutiefst bedauere.
Geld will sie trotzdem nicht bezahlen. Deshalb wird danach nicht mehr über die Verwerflichkeit der Tat, sondern stundenlang über die "Anspruchsgrundlage" verhandelt und gestritten - weil man in Karlsruhe das Problem, wie der Vorsitzende Richter Eberhard Rinne anmerkt, "nur mit den bescheidenen Mitteln des Rechts lösen" kann und deshalb jeder, der Geld will, eine Anspruchsgrundlage braucht.
Klägeranwalt Joachim Kummer meint, die jüngste Entwicklung des Völkerrechts könnte eine Anspruchsgrundlage bilden, weil es dort inzwischen "Tendenzen" gebe, auch einzelnen Personen einen Anspruch auf Entschädigung für Kriegsverbrechen zuzubilligen. Das traditionelle Völkerrecht hat dies ausdrücklich ausgeschlossen und es allein zur Sache der beteiligten Staaten gemacht, nach einem Krieg über Wiedergutmachung zu verhandeln. Aber so ganz sicher ist sich Kummer seiner Sache erkennbar selber nicht. Er kann, wie der Anwalt der Bundesregierung, Professor Achim Krämer anmerkt, für seine These nur einzelne Rechtsgelehrte als Zeugen anführen, aber kein einziges Gerichtsurteil, nirgendwo auf der Welt.
Und deshalb versucht der Opferanwalt Kummer darzulegen, was eigentlich niemandem, den Opfern schon gar nicht, zu erklären ist: dass es sich bei dem Massaker von Distomo nicht um eine militärische, sondern um eine Polizeiaktion gehandelt habe. Der Partisanenkampf sei nämlich schon etliche Minuten und wenige Kilometer entfernt beendet gewesen, als die SS-Leute mit ihrem Massenmord in Distomo begannen. Wäre es eine Polizeiaktion gewesen, so Kummer, dann könnten die Opfer ihre "Anspruchsgrundlage" vielleicht in der Amtshaftung sehen, die es schon damals gab. Damals freilich galt die Amtshaftung ausdrücklich nicht gegenüber Ausländern.
Der Anwalt will den "eklatanten und unerträglichen Widerspruch" nicht akzeptieren, dass den Klägern schwerstes Unrecht widerfuhr und nur deshalb nicht gezahlt wird, weil es keine "Anspruchsgrundlage" gibt. Er wird es, so steht nach dem Verlauf der Verhandlung zu befürchten, wohl akzeptieren müssen.
Das hängt auch damit zusammen, dass die Bundesregierung sehr wohl weiß, was auf dem Spiel steht. Distomo war nur eines von vielen Massakern in einem von vielen Ländern. Wenn die Opfer von Distomo entschädigt würden, dann hätten plötzlich tausende von weiteren Klagen, die allein von Griechen erhoben worden sind, und derzeit ruhen, neue Chancen.
Kummer zitiert aus der Haager Landkriegsordnung von 1899, in der auch heute noch Verblüffendes über die "militärische Gewalt auf besetztem feindlichen Gebiete" steht, beispielsweise, dass die Besatzungsmacht "die öffentliche Ordnung und den regelmäßigen Gang der öffentlichen Angelegenheiten wieder herzustellen" hat, beispielsweise dass "jede absichtliche Entfernung, Zerstörung oder Beschädigung" von privaten wie öffentlichen Gebäuden, Schulen und Krankenhäusern verboten und zu ahnden ist. Der Vortrag bewirkt an dieser Stelle einen unbeabsichtigten, aber unvermeidlichen Zeitsprung in den Irak von heute - mehr nicht.
Argyris Sfountouris kämpft schon lange um sein Recht, nicht nur in Deutschland. Das Landgericht im griechischen Levadia hatte 1997 den Opfern von Distomo eine Entschädigung von 55 Millionen Mark zugesprochen. Doch das Oberste Sondergericht in Athen hat dieses Urteil für nicht vollstreckbar erklärt, wegen der im traditionellen Völkerrecht verankerten "Staatenimmunität". Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg sah das genau so. Die Einschränkung der Klagemöglichkeiten sei gerechtfertigt, weil die "Staatenimmunität" dem friedlichen Zusammenleben der Völker diene.
Am 26. Juni wird der Bundesgerichtshof verkünden, wie er den Fall sieht.