Das Testament der Toten von Distomo und die Saat des Friedens
Vortrag von Argyris Sfountouris beim Hearing am 7.6.2003
Epigramm für Distomo
Hier ist die Erde bitter, es ist die bittere Erde von Distomo. Vorsicht, Besucher, gib Acht, wohin dein Fuss tritt - es schmerzt das Schweigen hier, schmerzt jeder Stein am Weg, es schmerzt vom Opfer und auch vom harten Menschenherz. Hier eine schlichte Tafel bloss, eine Stele aus Marmor mit allen Namen, ganz bescheiden - und die Ehre steigt empor, Seufzer um Seufzer, Sprosse um Sprosse einer langen, langen Leiter.
Jannis Ritsos
Es gibt eine grosse Palette von Lebenszielen und Aufgaben für die Zukunft - für eine friedlichere Zukunft, die viele Menschen erhoffen. Welche von diesen Zielen der einzelne Mensch für sich auswählt und wie er deren Bedeutung für sein Leben und Wirken gewichtet, bestimmen nach und nach seine familiäre Erziehung, die schulische Bildung und der Einfluss der Umgebung, in der er aufwächst und reift. Gleichzeitig mit diesen Vorstellungen reift auch das persönliche Engagement, einen Teil seiner Kräfte für eine ideale oder zumindest für eine akzeptable Gesellschaftsordnung einzusetzen. Aussergewöhnliche persönliche Erlebnisse eines Menschen können eine Grundprägung bewirken, die für alle seine Lebensentscheidungen einen existentiellen Imperativ darstellt.
In meinem Leben stellt der 10. Juni 1944 ein solches dramatisches und tragisches Erlebnis dar. Mein Heimatdorf Distomo wird von deutschen Besatzungstruppen massakriert. Meine Eltern und dreissig weitere Mitglieder der Grossfamilie Sfountouris werden ermordet, das Vaterhaus niedergebrannt. Nach knapp zweistündigem Wüten der Täter sind 218 Dorfbewohner getötet, Greisinnen und Greise, Frauen und Männer, Kinder, Säuglinge. Ähnliches geschah in Dutzenden weiterer Gemeinden in Griechenland während der deutschen Besatzungszeit, in Hunderten von Orten in Europa, in Tausenden von Städten überall auf der Welt während des Zweiten Weltkrieges. Es gab Konzentrationslager und Krematorien. Es war eine Epoche der Mordaktionen und Todesfabriken betrieben von Hunderttausenden, von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern, Soldaten, Arbei-terinnen und Arbeitern, die sich einspannen liessen zur Vernichtung von Menschenleben. Sie zerstörten gleichzeitig ihre eigene Würde und Menschlichkeit ganz tief in ihrem Innern durch ihre Beteiligung an diesen Verbrechen, auch durch ihre verschweigende Duldung dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Aussen und Innen.
Zufällig überlebten meine Schwestern und ich. - Zufällig? Ein deutscher Soldat beobachtete, wie wir aus dem brennenden Haus zu fliehen suchten. Statt wie die meisten seiner Kameraden auf die Kinder zu zielen oder sich mit dem Bajonett auf sie zu stürzen, winkte er uns heimlich zu, uns zu verstecken. Es war ein urmenschliches, wenn auch in der damaligen finsteren Zeit ungewöhnliches Verhalten. Im Dschungel, im Nazi-Wahn des Übermenschentums gab es Lichtblicke. Es gab neben der grossen Masse der feige Gehorchenden den mutigen Einzelnen, den wirklich freien Menschen. In unserem Leben steht jede und jeder von uns einmal vor der schwerwiegenden Entscheidung, ob sie, ob er ein freier Mensch sein darf, sein kann, sein will. Ein von Schuld freier Mensch. Diese Entscheidung ist mit einer Desertion vom Ausführungszwang verbrecherischer Befehle verbunden. Von dieser Freiheit zur Desertion, dieser moralischen Pflicht zur Desertion, diesem heiligen Menschenrecht zur Desertion werden wir, wird unsere Jugend noch heute, auch in unseren sonst so demokratischen Gesellschaften leider noch immer kaum unterrichtet. Nicht einmal in der Religionsstunde. Trotzdem kennen wir sie alle, diese innere Stimme - Aber wann folgen wir ihr? Es sind die panische Angst vor möglichen Folgen und unsere Scham, positiv aufzufallen, die uns zu Untertanen machen.
Umso erstaunlicher ist es, dass an jenem apokalyptischen Abend in Distomo noch Menschen unter den monströsen deutschen Übermenschen existierten, die den Befehl der inneren Stimme höher stellten als den von Mördern ausgestellten Befehl zum Morden. Es sind verschiedene Fälle von deutschen Soldaten bekannt, die am 10. Juni 1944 in Distomo mehrere Menschen vor dem sicheren Tod retteten und vor ihren mordenden Kameraden versteckten, im Bewusstsein der Folgen, wenn ihre Taten entdeckt und sie vor Kriegsgericht gestellt würden. Es ist kaum zu glauben, dass es im fünften Kriegsjahr noch junge deutsche Soldaten gab, die nach zwölfjährigem Drill zum Übermenschentum noch diese Fähigkeit zur urmenschlichen Handlungsweise bewahrt hatten. Dieser geschichtlichen Tatsache verdanke auch ich mein Überleben.
Wie konnten solche Untaten möglich werden? Welches sind die Beweggründe, die Motive der Befehlenden, welches die psychischen Enthemmungsmechanismen der Täter, die sich immer wieder als bloss Gehorchende verstehen? Was ist seit jenem schwarzen 10. Juni 1944 im Zusammenhang mit den Untaten von Distomo in Griechenland und in Deutschland geschehen? Wie ist darüber in den Medien, wie in den Schulen berichtet worden, welche historische, welche gesellschaftspolitische Aufarbeitung hat stattgefunden? Sind die Täter zur Rechenschaft herangezogen, die Nachgeborenen in einem anderen Geist erzogen worden? Welches waren und sind die Bemühungen zur Sühne und Aussöhnung, zur Verständigung und wahren Freundschaft zwischen ehemals verfeindeten Völkern? - Wie weit kann die Gesprächsbereitschaft gehen? Ist zwischen Menschen, die sich damals als Mörder und Opfer in die Augen sehen mussten, eine Begegnung, ein Gespräch sinnvoll und zumutbar? Wo liegen die Grenzen des Hasses, welches sind die Mittel zu dessen Verarbeitung, oder gar zu dessen definitiven Überwindung? - Ist die Geschichte bloss eine unbekannte Funktion des Schicksals, oder kann der Mensch, kann die Menschheit Zusammenhänge entdecken, die es ermöglichen, Wiederholungen vorzubeugen? Wie hoch ist der Preis, wie gross der Gewinn solcher Entdeckungen? Und wer wird schliesslich darüber entscheiden, ob der Preis zumutbar sei angesichts eines so grossen Gewinns für die Menschheit - oder ob dieser Preis zu hoch ist?
Dies sind Fragen, die mein Leben bestimmten. Nicht täglich, nicht ununterbrochen. Aber ich konnte nicht lange in den Sternhimmel schauen, durch die astronomischen Fernrohre Schönheit und Vollkommenheit der unbelebten Natur bewundern und den menschlichen Geist bestaunen, der über Jahrtausende in kontinuierlichen und konsequenten, Kontinente und Nationen überdeckenden gemeinsamen Anstrengungen all dieses Wissen erarbeitet und gesichert, kritisch überprüft und immer wieder verändert und angepasst hat, immer im Bestreben der Wahrheit näher zu kommen - ich konnte an dieser unerschöpflichen Freude nicht teilhaben, ohne an den Deutschen Philosophen Immanuel Kant zu denken und an seinen Vergleich des "bestirnten Himmels über mir" mit dem "moralischen Gesetz in mir".
So war ich immer wieder an mein Überleben erinnert und gleichzeitig an die quälenden Fragen, die ich nach und nach immer klarer und verständlicher zu artikulieren suchte, um den bedrückenden Damm des Schweigens zu durchbrechen und mitdenkende Gleichgesinnte zu erreichen. Nur gemeinsam können wir Antworten suchen zur Überwindung der Absurdität der Geschichte, des persönlichen und nationalen Egoismus, die allzu oft das menschliche Handeln bestimmen. Niemand macht sich beliebt, der solches Handeln hinterfragt, sich kontinuierlich bemüht, die Schwerarbeit der Analyse der Verschiedenheiten zu verrichten, um darin die eigentlichen Gemeinsamkeiten zu entdecken. Wenn wir die Kluft leugnen, die uns einst getrennt hat, können wir diese nie wirklich überbrücken. Die Landschaft unserer Biografien ist durch die Erosionen der Geschichte geprägt. Nur wenn wir diese wahrnehmen und akzeptieren, können wir sichere Strassen bauen, die uns verbinden. Dies ist nur durch die Kraft der Erinnerung möglich.
Erinnern heisst: wider das Vergessen ankämpfen. Vergessen ist bequem aber unfruchtbar. Das gemeinsame Gedenken stärkt die individuelle Erinnerung an das erlebte Furchtbare. Das Massaker von Distomo - wie alle Massaker - setzt eine ungeheuerliche Verrohung des Menschen voraus, welche die Endstufe eines raffinierten Prozesses darstellt, der von den Verantwortlichen immer geleugnet, von den Aussenstehenden aber geduldet wird, indem sie sich in Unglauben flüchten und in ein dadurch begründetes Schweigen, das zum Verschweigen wird. Zu diesem Verschweigen gehörten und gehören auch die juristischen Verjährungsbemühungen und die politische Trägheit der Untersuchungsbehörden und Gerichte bei der Suche nach den Schuldigen und deren Verurteilung. Das ethische Prinzip solcher Prozesse liegt nicht nur in der Bestrafung des Täters, sondern in erster Linie in der Verurteilung der Tat! Dadurch erst erhält die Geschichte ihren moralischen und didaktischen Wert.
Allzu oft hört man, und dies erstaunlicherweise sowohl in patriotischen als auch in anscheinend völkerverbindenden Reden, man solle vorwärts! schauen. - Doch in welcher Richtung liegt dieses vorwärts? Jedes Kind lernt in den ersten Geometriestunden, dass eine Gerade - und mit ihr eine Richtung - durch zwei Punkte bestimmt wird. Dasselbe gilt für die Moral. Die Moral hat eine Richtung und lässt nichts in der Schwebe. Nur durch die Kenntnisnahme und Analyse der Untat kann eine Struktur zur Verhinderung von deren Wiederholung entwickelt werden, was bei konsequenter Anwendung zu einer ethisch besseren Gesellschaft führen muss. Das demagogische vorwärts! dagegen ist eine Aufforderung zur Verdrängung. Die unheimlichen Patrioten wollen damit ihre Anhänger sowohl das angerichtete als auch das erlittene Leid vergessen machen und sie rasch wieder zum blinden Untertanergehorsam führen, während die ebenso unheimlichen eindimensionalen Internationalisten unterbinden wollen, dass die Völker aus kriegerischen oder kolonialistischen Erfahrungen klüger werden.
Dieses vorwärts! ist nichts anderes als das mit verbundenen Augen im Kreis Herumlaufen der Maultiere, die für andere - für jene, die vorwärts! und vorwärts! befehlen - das Wasser fördern. Dieses richtungslose vorwärts! hält die Trabanten des Verführers auf eine unheimliche Bahn, auf den angeblich fatalen circulus germanicus, aus dem es anscheinend kein Entrinnen geben kann. Im Buch der Geschichte lässt sich allerdings immer wieder nachlesen, dass das Geschäft des Vergessens das gewaltigste und gewalttätigste Unternehmen der Ausbeutung darstellt. Es diktiert unserem menschlichen Erinnerungsvermögen einerseits, alles Erlittene, das uns schmerzt, aus dem Gedächtnis auszulöschen, andererseits, allen Taten, die uns beschämen, das Andenken zu kündigen. Doch wie werden diese Abschreibungen in der Buchhaltung der Geschichte verbucht? Führt diese Bilanzfälschung zu einer Gesundung der politischen Systeme oder zur Perpetuierung von Verschlimmerung und Verfall.
Den Schmerz auszulöschen und die Scham - die nichts anderes als der ethische Schmerz unserer Seele ist - zu vertilgen, bedeutet nichts anderes als den Körper unserer gesellschaftlichen und staatlichen Organismen unempfindlich auf Störungen und damit untauglich für Verbesserungen zu machen. Diese Schmerzen sind die Seismografen der geschichtlichen Erschütterungen. Durch die Abschaffung von Seismografen wird man kein Erdbeben verhindern, aber ein wichtiges Mittel zu deren Verständnis verlieren.
Wer würde sich ein zweites Mal einem Arzt anvertrauen, der den Schmerz allein bekämpft, ohne nach dessen Ursachen zu suchen und diese zu kurieren? Unsere Politiker aber wählen wir wieder und wieder, obwohl die Auseinadersetzung mit diesen verleugneten Teilen der Geschichte eine unvertauschbare und unverzichtbare Gelegenheit darstellt, welche von diesen Politikern kaum je ernsthaft ergriffen wird, um aus dem scheinbar unvermeintlichen Kreis des Bösen auszubrechen. Es gibt viele karitative Organisationen, die sich für das Gute einsetzen und es selbstlos überall hintragen, wo das Böse waltet oder gewaltet hat. Neben diesem ausserordentlich wertvollen kurativen Wirken werden Bemühungen, das Böse selbst zu vermindern und längerfristig zu minimalisieren für das Überleben der Menschheit immer dringender. Dass Vorbeugen besser als Heilen ist, wird uns immer bewusster im persönlichen Alltag, in der Erziehung unserer Kinder, zu unserem Schutz beim Autofahren und in unseren ökologischen Bemühungen, ganz besonders dort, wo wir bereits erkannt haben, dass es ein Heilen gar nicht mehr geben kann. Der Schutz unserer Umwelt vor irreversibler Zerstörung ist aber nur die eine Seite der Medaille unseres Seins. Auf der an-deren Seite steht die neben der biologisch-materiellen zweite lebenswichtige menschliche Substanz: die geistig-ethische. Zu deren Schutz benötigen wir dringend auch eine Ökologie der Ethik.
Die Prinzipien dieser Ethischen Prophylaxe können wir aus den Verdrängten Teilen der Bilanz der Menschheitsgeschichte herleiten, die wir zu einer Charta des Friedens vereinigen werden:
1.die Berichte der Opfer über ihr Erleiden, die wir noch immer nicht genügend zur Kenntnis genommen haben, und
2.die Zeugnisse der Täter über ihr Handeln, deren Seltenheit auf die bisher sehr hohe gesellschaftliche Schwelle der Reue hinweist.
Diese Charta des Friedens könnte in Anlehnung an die Südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission zu einem Wahrheits- und Versöhnungsbericht werden, in welchem in einer "Forschungs- und Begegnungsstätte für deutsch-griechische Geschichte" die erinnerten Opfer- und Täterschicksale aufgenommen, weitererforscht und archiviert werden zu keinem geringeren Zweck als jenem der Kriegsprävention.
Dies alles tönt sehr utopisch, scheint aus einer anderen Welt - einer in Deutschland noch immer unbekannten Welt zu stammen. Und doch wünschen wir alle, dass diese Welt der menschlichen Einsicht, die Welt der Einsicht ins Menschliche endlich wieder auch in Deutschland Einlass findet.
Wir müssen aber mit dem Anfang, mit dem ersten Schritt beginnen, was auch nach sechzig Jahren nicht zu spät, sondern noch immer notwendig ist:
Der erste Schritt ist Trauer und Reue. Trauer und Reue die erste, unverfälschte Form des Erinnerns. Wir trauern um die Toten, die keine Stimme mehr hatten, um von ihrem für uns alle nicht nachfühlbaren Schrecken angesichts des Todes Zeugnis abzulegen. Von jenen Sekundenbruchteilen zwischen dem Blick in die blauen Augen des Meisters aus Deutschland an ihrer Türschwelle und dem Spüren des deutschen Bleis in ihrem ahnungslosen Herzen. Aber wir trauern auch um die Lebenden, um jene, die seit dem 10. Juni 1944 in Distomo die schwere Bürde des Überlebens auf ihren Schultern tragen. Sie müssen seit sechzig Jahren mit einer schrecklichen Erfahrung leben. Nichts kann sie davon befreien, und wenig ist unternommen worden, um es ihnen erträglicher zu machen - gar nichts von Seite der Täter und ihrer Familien, in deren staatlichen Gemeinschaft keine Reuearbeit möglich wurde. Auch um diese versteinerten Täter trauern wir, denen der Weg zurück ins wirkliche Leben nicht gelungen ist. Alle Fenster an ihren schwarzen Seelen bleiben zugenagelt, damit kein Lichtschimmer eindringen kann und sie mit der Klarheit der Reue läutert und aufweckt. Angesichts dieser Wahrheit bleiben fast alle deutschen Augenlider seit sechzig Jahren fest verschlossen. Doch "die Wahrheit ist den Menschen zumutbar" (Ingeborg Bachmann).
Unsere Trauer ist nicht Selbstzweck, sondern Besinnung darüber, was wir als Einzelne, als kleine Gruppe, als Staatswesen unternehmen können, damit die drohenden Wolken am Horizont der Menschheit uns nicht erneut unvorbereitet antreffen. Unsere schreckliche Erfahrung verpflichtet uns dazu, andere zu warnen. Nach der Katastrophe und der vermeintlichen Katharsis sprechen wir von der Nachkriegszeit, arbeiten jedoch nicht für den Frieden, sondern an unseren Wohlstand. Dadurch erreichen wir seit Menschengedenken - seit der Vertreibung aus dem Paradies und dem Turmbau zu Babel - immer von neuem, dass keine wahre Nachkriegszeit entsteht, sondern nur Kriegs- und Zwischenkriegszeiten - wie alle Chroniken von der Keilschrift bis zu den heutigen websites bezeugen. Und doch bleibt es noch immer denkbar, dass die Menschheit an einer wahren Nachkriegszeit arbeiten will.
Die Läuterung muss mit der eigenen Trauer- und Reuearbeit beginnen, denn Reue ist die einzige Betrachtungsweise unseres Tuns, des Lebens, der Gesellschaft, die uns ethisch wirklich weiterführen kann. Dies ist in Deutschland immer und immer wieder hinausgeschoben worden. Erst heute setzt die Diskussion darüber an, denn nach dem Krieg, als Deutschland bei der Befreiung durch die Siegermächte der dämonischen Gegenwelt des Übermenschentums jäh entrissen wurde, stand eine ganze Generation - wie einst Herakles - am Scheideweg. Aber es fehlte an Tradition und herkulinischer Stärke zur ethischen Eigenständigkeit des Individuums. Jene, welche sich zu weit in die Gegenwelt des absolut Bösen (Hannah Arendt) begeben hatten, waren hinter den Kulissen noch immer einflussreich und mächtig geblieben. Eine Rückkehr zur emotionalen Normalität ist durch gesellschaftliche Gegen-Zwänge bewusst verzögert worden. Die Unfähigkeit zu trauern, dieses gesellschaftliche Tabu, auf die eigene Katastrophe schauen zu dürfen und nach deren Ursachen zu fragen, hat nichts anderes bezweckt und erreicht als die Befähigung zur Reue zu verhindern. Denn die Gleichzeitigkeit macht die Intensität und in diesem Fall die intensive Qual der Erinnerung und Trauer aus. Man trauert um die eigenen Toten, erfährt von den Ermordeten und trauert auch um diese - muss auch um diese trauern. Es darf keine Rangfolge geben, nur die zeitliche Abfolge der Wahrnehmung. Trauer, Erinnerung und Reue arbeiten im gesunden ethische Organismus wie das Ein- und Ausatmen. Es handelt sich um vitale Funktionen des Menschen. Des Menschlichen.
Es ist und bleibt ein urmenschliches Recht, um seine Toten trauern zu dürfen (Antigone). Dieses göttliche Gebot lässt sich nicht hinausschieben. Doch die Erinnerung an die eigenen Toten ist bloss eine halbe Trauer, solange man nicht die natürliche Fähigkeit zurückerlangen kann (und öffentlich darf!), auch über die anderen, die fremden Opfer zu trauern, umso mehr als man deren Opferung verschuldet und selbst ausgeführt hat. Erst nach dieser Einsicht werden wir uns - versöhnungsbereiter! - auf einer anderen Ebene wirklich näher kommen.
Gemeinsam können wir dann von einer Menschheit träumen, in der es möglich sein wird, aus solchen tragischen Ereignissen wirksame Konsequenzen zu ziehen. Die Geschichte nimmt nicht länger ihren Lauf, als wäre nichts geschehen. Unsere gemeinsam bewahrte Erinnerung wird die Wiederholung verhindern können, denn alles, was wir Menschen wünschen und benötigen, kann über Generationen durch eine ungetrübte Vision und kontinuierliche, geduldige Arbeit auch erreicht werden. Ein internationales Forschungs- und Begegnungszentrum mit Sitz in Distomo könnte - in unserem Traum! - zum Keim einer Friedensforschung und Kriegsprävention werden. Durch Tagungen und Jugendtreffen würde die Saat des Friedens gelernt und gelehrt, um die Hoffnung und Zuversicht auf diesen Frieden für Generationen immer wieder durch wachsames Erinnern und ethischer Verantwortung ernten und unauslöschlich bewahren zu können.