Deutschland nimmt Verantwortung für NS-Untaten auf sich, will den Opfern aber nichts zahlen
Von Helmut Kerscher, Süddeutsche Zeitung vom 13. Juni 2003
Millionen von Opfern rütteln an einem Tor und wollen von Deutschland Milliarden an Schadenersatz und Entschädigung. Auf dem Tor steht aber nach Meinung der Bundesregierung: "Nur für Staaten." Das Völkerrecht sehe aus guten Gründen vor, dass Reparationen nur von einem Staat an einen anderen gezahlt würden - und nicht von einem Staat an einzelne Bürger anderer Staaten. Vier Opfer, Überlebende und Hinterbliebene des SS- Massakers im griechischen Distomo, sehen das anders.
Mit ihrer Klage drangen sie bis zum obersten Gericht ihres Heimatlandes vor und nun auch zum obersten Zivilgericht des Landes der Täter, dem Bundesgerichtshof (BGH). Dessen 3. Zivilsenat hat wegen seiner Zuständigkeit für Amtshaftungsprozesse unter dem Vorsitz von Richter Eberhard Rinne zwar häufig mit der Bundesrepublik als Beklagter zu tun. Doch diesmal ging es nicht um irgendwelche Schäden durch Fehler von Beamten, Richtern oder Soldaten - sondern um die Haftung Deutschlands als Funktionsnachfolgerin des Dritten Reiches für Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs.
In zwei Wochen will der BGH darüber entscheiden, ob das Tor für Privatpersonen und ihre Ansprüche verschlossen bleibt. Oder ob sich Deutschland auf Klagen von ausländischen Kriegsopfern in dreistelliger Milliardenhöhe einstellen muss. Kein Wunder, dass zwei hochrangige Mitarbeiter des Bundesfinanzministeriums zur Verhandlung am Donnerstag gekommen waren. Anwalt Achim Krämer trug eine Erklärung der Bundesregierung vor. Man bedauere zutiefst das vielfältige im Zweiten Weltkrieg von Deutschen begangene Unrecht, hieß es darin. Die Vorgänge in Distomo stünden für besonders brutales, aber leider nicht einmaliges Vorgehen deutscher Soldaten. Deutschland werde sich immer bewusst bleiben müssen, dass es im Zweiten Weltkrieg große Schuld auf sich geladen habe.
BGH-Anwalt Joachim Kummer, der Vertreter der Opfer, zeigte sich wenig beeindruckt. Einen "eklatanten und unerträglichen Widerspruch" nannte er es, dass die Bundesrepublik den Klägern trotz dieser Beteuerungen keinen Schadenersatz zahlen will. Dabei stehe das Völkerrecht, so wie es sich entwickelt habe, der Durchsetzung privater Ansprüche nicht mehr entgegen.
Kummer führte die Haager Landkriegsordnung von 1907 mit der Ergänzung von 1949 an, wonach die Zivilbevölkerung vor Angriffen auf Leib, Leben und Eigentum geschützt sei. Und er zitierte eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1996, wonach Privatpersonen zunehmend Klagemöglichkeiten gegen Staaten eingeräumt werden. Seiner Meinung nach gehöre das Verfahren vor das Bundesverfassungsgericht.
Das sah sein "verehrter Herr Gegner", wie sich die BGH-Anwälte traditionell titulieren, anders. Eine Vorlage an das Verfassungsgericht sei nicht gerechtfertigt, sagte Krämer, weil an der Exklusivität des Völkerrechts und an der Staatenimmunität gar kein Zweifel bestehe. Nach der für die Distomo- Klage geltenden Rechtslage des Jahres 1944 gebe es keinen völkerrechtlichen Anspruch von Personen gegen Staaten. Krämer warnte vor den "immensen Konsequenzen" einer Änderung und einer Vielzahl möglicher Rechtsstreitigkeiten, beispielsweise auch gegen Großbritannien wegen der Zerstörung Dresdens. Er nahm auch zum Londoner Schuldenabkommen von 1953 Stellung, in dem deutsche Kriegsschulden bis zum Abschluss eines Friedensvertrags "zurückgestellt" worden seien. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990, sei ein solcher Vertrag. Damit seien alle Verpflichtungen der Bundesrepublik zu weiteren Reparationszahlungen ausgeschlossen. Das gelte auch für Privatpersonen wie die Distomo-Kläger.
Auch die klassische Haftung des Staates für Amtspflichtverletzungen, die im Paragrafen 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches geregelt ist, greife nicht. Die gelte nur für Schäden im Rahmen einer geordneten Staatsverwaltung, sagte Krämer. Eine Anwendung auf Kriegsschäden sei systemwidrig. Nach Ansicht von Opferanwalt Kummer wurde das Massaker in Distomo gar nicht während einer Kriegshandlung verübt. Vielmehr habe die SS es in Ausübung der Polizeigewalt der deutschen Besatzer begangen. Ein Zuhörer formulierte es weniger bürokratisch und bezeichnete die Geschehnisse in Distomo als Massenmord.