Deutschland will vergessen machen
Martin Höxtermann, junge Welt vom 13.06.2003
Bundesgerichtshof in Karlsruhe verhandelt über Entschädigung griechischer Naziopfer von Distomo
Am 10. Juni 1944 verübten Angehörige einer deutschen SS-Einheit in der griechischen Ortschaft Distomo nordwestlich von Athen eines der grausamsten Massaker der deutschen Besatzungszeit und töteten insgesamt 218 Dorfbewohner, darunter Kinder, Frauen, Greise und Säuglinge. Die Verantwortlichen für dieses Verbrechen wurden nie zur Rechenschaft gezogen, Entschädigungszahlungen an die Hinterbliebenen der Opfer bis heute von Deutschland verweigert.
Am gestrigen Donnerstag wurde der Fall in einem Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe verhandelt. Mit Abschluß des Zwei-Plus-Vier-Vertrages im Jahr 1990 wurde erstmals die Möglichkeit eingeräumt, Entschädigungen für NS-Verbrechen gegenüber dem deutschen Staat gerichtlich geltend zu machen. Parallel zu Prozessen, die in Griechenland erfolgreich geführt wurden und die Deutschland zu Entschädigungszahlungen von 28 Millionen Euro verpflichten, wurden auch hierzulande Klagen eingereicht. Die ersten Instanzen wiesen die Klagen jedoch ab.
Am Donnerstag stellten Kläger und Beklagte ihre Standpunkte vorm BGH erneut dar. Nach Ansicht der Bundesregierung handelt es sich bei der Klage um eine Reparationsforderung, die nicht von Einzelpersonen, sondern nur vom griechischen Staat geltend gemacht werden könne. Demgegenüber sieht der Anwalt der Opfer durchaus eine juristisch stichhaltige Anspruchsgrundlage: Laut Haager Abkommen über das Kriegsrecht müsse ein Staat für die Taten seiner Exekutivorgane haften. Die Bundesrepublik Deutschland sei als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches daher zu Schadensersatz verpflichtet.
Vor Prozeßbeginn hatten rund 30 Mitglieder der Roten Antifa Karlsruhe und des Hamburger Arbeitskreises Distomo vor dem BGH demonstriert und die sofortige Entschädigung der griechischen NS-Opfer gefordert. Die Haltung der Bundesregierung stelle eine Mißachtung der Opfer von NS-Verbrechen dar, die selbst im nachhinein gegenüber dem erlittenen Terror der deutschen Besatzer rechtlos gestellt würden, kritisierte der AK Distomo in einer Stellungnahme. "Für die Bundesregierung ist das Thema Entschädigung erledigt. Ihre Wunschvorstellung ist es, nach Abschluß des Projekts NS-Zwangsarbeiterentschädigung nun zum letzten Mal für die deutschen Verbrechen des Nationalsozialismus gezahlt zu haben."
Ob der BGH zugunsten der Opfer entscheidet, hänge nicht nur von der rechtlichen Wertung, sondern auch vom politischen Druck in der Öffentlichkeit ab, sagte Michael Klingner vom AK gegenüber junge Welt. Ob die Richter ein Urteil fällen oder den Fall dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, sei nach der gestrigen Verhandlung noch offen. In zwei Wochen will das Gericht seine Entscheidung bekanntgeben.