Mein Opa ist Kriegsverbrecher und wohnt in Mittenwald

Erste Szene

aus interim 569 (3.4.2003) Am 18. Mai vergangenen Jahres gab es in dem Nahe der österreichischen Grenze gelegenen Ort Mittenwald eine ungewöhnliche Konfrontation: Nach Presseangaben besuchten dort 56 Autonome aus Köln in der Kneipe Postkeller das fünfzig lange Jahre ungestörte Kameradschaftstreffen der Gebirgsjäger. Ohne größere Behinderungen gelangten sie über eine Treppe und in einem kommunistischen Sinne vorbei an einem Eintrittstisch in den mit ca. 200 Gebirgsjägern, Bundeswehrsoldaten und ihren Angehörigen voll besetzten Kneipensaal. Sie positionierten sich dicht in einen lang gezogenen Pulk gedrängt ungefähr in der Mitte des Saales und sorgten mit der an die Tanzkappelle gerichteten Aufforderung: "Hey, du machst jetzt mal die Musik aus!" für einen kurzen Ruhemoment. Eine Sprecherin erklärte den zunächst verblüfften Anwesenden, das man nun hier eine Schweigeminute für die von den Gebirgsjägern in Griechenland während des zweiten Weltkrieges massakrierten Zivilisten durchführen werde. Die Orte dieser Massenverbrechen waren dabei auf einer ganzen Reihe von mitgebrachten Schildern gut sichtbar aufgeführt. Die Angesprochen verstanden den Sinn dieser Ansprache sofort, und wussten genau wer und was gemeint war. So dauerte es noch nicht einmal 30 Sekunden, bis sie anfingen zu brüllen, rabiat und handgreiflich zu werden. Im Nu verwandelte ihre direkte Reaktion den Veranstaltungssaal des Postkellers in einen Hexenkessel. Ziemlich schnell gelang es ihnen von einem für den Raum zu grossen Megaphon das Kabel zum Mikrophon abzureißen. Glücklicherweise konnte ein Genosse von einem Tisch aufrecht stehend mit einem zweiten erheblich besser handhabbaren Megaphon dafür sorgen, die brüllenden Kneipeninsassen über das legitime Anliegen dieses Besuches zu unterrichten: "Komeno, Distomo - Edelweiß - Totenweiß" ; "Gebirgsjäger - Totenjäger". Die vom Rhein angereisten Genossinnen scheinen auf die wutentbrannt vorgetragenen tatkräftigen Zugriffe der Gebirgsjäger nicht ganz unvorbereitet gewesen zu sein. Es muss allen klar gewesen sein, das sie in einer bayrischen Kneipe mit einer ganz anderen Form der körperlichen Gewalt konfrontiert sein würden, als bei einem Polizeieinsatz. So sorgten sie dicht aneinander gedrängt mit direkt in Gebirgsjägergesichter geschriene aggressive Flüche für einen ersten gewissen körperlichen Abstand. Wurden die Genossinnen doch von den Gebirgsjägern angelangt, so sorgten alle umstehenden in Form direkter Zugriffe, mit denen zuweilen sechs bis 10 Hände die Angreifer packten und zurück stießen, sofort für eine unmissverständliche Abwehr derartiger Übergriffe. Vorbildlich hier die Aktion eines Genossen, der einem drohend gestikulierenden Gebirgsjägeropa durch die kurzerhand durchgeführte Entfernung des Tirolerhutes vom Kopf Schach Matt setzte. Während die prügelwilligen Gebirgsjäger in den für Momente hasserfüllten Auseinandersetzungen im Postkeller auch in einem subjektiven Sinne in kaum gehemmten Formen der Gewalttätigkeit agieren konnten, galt für die Genossinnen ultimativ, alles zu vermeiden, das ein Gebirgsjäger sichtbar für alle anderen getroffen dort zu Boden ging. Das hätte unter Umständen zu einer Eskalation des ganzen Geschehens mit unabsehbaren Folgen für alle Beteiligten geführt. Ein paar lange intensive Minuten nutzten die Genossinnen die Gelegenheit ihren tiefen Unwillen und ihre reflektierte Wut auf die Gebirgsjäger herab zu schütten, bevor sie langsam den Veranstaltungssaal der Kneipe ohne Hektik wieder verließen. Während des Abzuges der Genossinnen nutzen noch ein paar anwesende kampfsportgeübte Bundeswehrsoldaten die Gelegenheit, um diesen im Vorbeigehen und ohne von außen erkennbarer Aggressivität direkt und von anderem kaum zu bemerken, gezielt ins Gesicht zu schlagen. Nach dem erfolgreichen Verlassen der Kneipe verschwanden die Genossinnen über ein paar Ho-Chi-Minh-Pfade Mittenwald so unerkannt wie sie überraschend von irgendwoher aufgetaucht waren.

Zweite Szene

Am Frühmorgen den 19. Mai wurden von der bayrischen Polizei nahe der Ortschaft Mittenwald in einer Jugendherberge rund 50 Aktivistinnen aus dem gesamten Bundesgebiet für einen langen Tag in Hausarrest genommen. Ein hier von den AktivistInen gestellter Antrag unter Hinweis auf die spätestens durch eine populäre Ausstellung als bekannt vorrauszusetzenden Verbrechen der Wehrmacht eine Spontandemonstration in der Region durchzuführen wurde von der Polizei abgelehnt. Sie befürchte wohl nicht ganz zu Unrecht eine weitere Störung der anhaltenden Gebirgsjägerfeierlichkeiten. Die 50 Arretierten hatten aber in der Jugendherberge die Gelegenheit frei und unkontrolliert über die nun aufgrund jener Aktion vom Vortrag eingetretene Situation politisch zu diskutieren. Also nutzen sie die Gelegenheit um eine Pressemitteilung an die demokratische Weltöffentlichkeit zu übermitteln. Wie wurde nun darin jene Aktion im Postkeller beschrieben? In der ersten, zur allgemeinen Diskussion frei gegebenen Fassung hieß dazu in der entsprechenden Passage sinngemäß: "Bei dem Versuch von Antifaschisten eine Gedenkminute für die von den Gebirgsjägern in griechischen Dörfern ermordete Zivilbevölkerung abzuhalten, wurden diese im Postkeller unter Schlägen und Tritten aus dem Saal heraus gedrängt. Dieses Beispiel zeigt nur erneut, dass in Deutschland Geschichtsrevisionismus hegemonial ist." Unterschrieben war die Presseerklärung mit "Antifaschisten im Hausarrest". An der oben sinngemäß zitierten Passage entzündete sich in der Folge eine lebhafte Diskussion. In ihr wurde im zunehmenden Verlauf deutlich, wie verschieden und wie weit entfernt die Perspektiven jener mutmaßlich an der Kneipenaktion beteiligten Aktivisten waren. Insofern war auch die oben zitierte Presseangabe von "56 angereisten Autonomen" genauso falsch, wie der bei den Gebirgsjägern nach der Aktion haften gebliebene Eindruck, sie seien von "Grünen" und "Preußen" mit "Erziehungsproblemen" konfrontiert gewesen. Jedenfalls war am Ende der Debatte ein bemerkenswerter Argumentationswechsel in der Beschreibung jener Aktion festzustellen. Denn im Vorfeld war noch als ein zentrales Element der praktischen wie politisch-philosophischen Perspektive der ins Visier genommenen Aktion von den Protagonisten unmissverständlich klar gestellt worden, dass es im Postkeller keineswegs darum gehen dürfe auch nur irgend etwas Inhaltliches an die Anwesenden zu vermitteln. Es gehe mit der Aktion um einen direkten Angriff auf die Gebirgsjäger, schließlich seien diese nichts anderes als "Mörder", denen es nichts mitzuteilen gäbe.

Wenn das tatsächlich stimmte, dann hätte es - wie es in der oben sinngemäß zitierten 1. Fassung der Presseerklärung nachzulesen steht - nicht die Formulierung geben dürfen, ausgerechnet an diesem Ort eine Gedenkminute für eine bestimmte Sorte von Toten während des zweiten Weltkrieges abzuhalten, an dem sich auch die Gebirgsjäger befinden. Schließlich wurde ihnen durch die Verwendung dieser Form eigentlich die Möglichkeit zu einem praktischen Anschluss eröffnet, die sie bei etwas größerer intellektueller Kreativität durchaus hätten nutzen können. Anders formuliert: Wenn die Gebirgsjäger nicht so sturzdumm gewesen wären, hatten sie die an diesem Ort ungewöhnliche Initiative der Antifaschisten einfach in der Weise eines Ad-Hoc-Mitgedenkens an die von ihnen Ermordeten aufgegriffen. Das taten diese aber glücklicherweise und wenig überraschend nicht und - glaubt man dieser Presserklärung - machten stattdessen die weit herbei gereisten Antifaschisten "mit Schlägen und Tritten" zu dem was diese in Deutschland durchaus sein dürfen: Zu Opfern. Aber da das in der Regel für eine politische Einschätzung nicht ausreichend erscheint, wird der hier souverän erscheinende gewalttätige Zugriff der Gebirgsjäger in eine Reihe mit einem in Deutschland als "hegemonial" benannten "Geschichtsrevisionismus" gestellt. Damit wurde der Gegner nicht nur in direkter Weise stark gezeichnet, er wurde auch als politisch fast allmächtig beschrieben. Diese Einschätzung wirft auch im nachhinein eine ganze Reihe von Fragen auf. Zu den leichteren gehört dabei die, wie genau die Wirkung und der relative Publikumserfolg der ansatzweise als kritisch verstandenen Ausstellung über die Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht in eben jene als hegemonial behauptete Stellung des deutschen Geschichtsrevisionismus eingeordnet wird. Immerhin hatten dieselben Aktivisten doch noch kurz zuvor unter Berufung darauf gegenüber der bayrischen Polizei - wenn auch ohne grossen Erfolg - versucht, eine Spontandemonstration gegen die Gebirgsjägerfeierlichkeiten zu annoncieren. Komplizierter aber für eine mittelfristig wirksame Perspektivbestimmung bedeutsamer, ist die Frage danach, welche politische Qualität man dem tätigen Widerspruch zumisst. Aus der Sicht einiger Diskussionsteilnehmerinnen sei der doch in diesem Falle sowohl gesellschaftlich spätestens durch die Wehrmachtsausstellung und zweitens durch die von ihnen gemeinsam durchgeführte wunderbare Aktion im Postkeller selbst offenbar geworden. Und überhaupt habe man sich an dieser schönen Aktion gerade nicht als Antifaschist sondern als Autonomer beteiligt. Spätestens diese wahrlich nicht von Allen geteilte Aussage rief einen einzelnen anwesenden sehr jungen sich als "Antideutsch" verstehenden Genossen auf den Plan. Der wollte natürlich mit der Selbstbezeichnung Autonomer rein gar nichts zu tun haben - was auch sein gutes Recht ist. Und so wies er die für die Aktion geltend gemachte Widerspruchs- und Protestperspektive in der Diskussion mit der etwas gepresst und knapp wirkenden Bemerkung zurück, das das was es in diesem Land an Widerspruch und Protest im Angesicht der Gräueltaten “Deutschlands” gäbe, doch "völlig irrelevant" und damit auch nicht weiter der Rede geschweige denn einer Erwähnung in einer Presseerklärung wert sei. Wenn das stimmt, dann stellt sich umso mehr die Frage, wieso eigentlich irgendwer in diesem Land überhaupt hat auf den Einfall zu dieser Aktion im Postkeller kommen können. Darüber hinaus hätte, zumindest wenn man der Logik der eifrigen Argumentation jenes Antideutschen folgt, von vornherein klar sein müssen, dass eben diese auch nur "irrelevant" sein und bleiben konnte. Das legt zumindest für jenen in einem später geführten privaten Gespräch durchaus charmanten Antideutschen den Schluss nahe, dass er sich an dieser Protestaktion weniger aus politischen als vielmehr aus masochistischen Gründen beteiligt hat. Diese Aussage gilt aber natürlich nur, wenn man davon ausgehen kann, dass der Antideutsche mit seinem “Irrelevant”-Verdikt weder sich noch andere belogen hat. Und das ist gerade mit einer um “Deutschland” herum einbetonierten Perspektive gar nicht so einfach. Jedenfalls verflog unter allen Teilnehmerinnen in der ungerechtfertigter Weise von der bayrischen Polizei belagerten Jugendherberge nach und nach die Leidenschaft aus dem komplizierten Diskussionsprozess über die politischen Perspektiven jener inkriminierten Protestaktion.

Pressetexte

In der dann fertig gestellten Presseerklärung pendelte man sich irgendwo zwischen Erschöpfung und bleierner wie kopfschüttelnder Unlust über die allseitige argumentative Bewegungslosigkeit in den konkreten Formulierungen auf eine Art antifaschistisch etikettierten Minimalkonsens ein. Er schloss selbstredend die in Teilen erfolgreich im Postkeller realisierte Praxis des politischen Angriffes, mit der man doch vorher als Idee noch mobilisiert hatte, aus. Die entsprechende Passage lautete wie folgt: "Am gestrigen Pfingstsamstag besuchten ca. 50 Antifaschistinnen das im Rahmen der Gedenkfeier stattfindende "Schweinebratenessen" der Gebirgssoldaten in Mittenwald. Dort waren aktive und pensionierte Angehörige der Gebirgsdivision, zwischen 20 und 80 Jahren, versammelt. Zu ihrem Vorhaben eine Gedenkminute für die Opfer an dem Versammlungsort der Täter zu veranstalten, kamen die Antifaschistinnen allerdings nicht: Die aufgebrachten Traditionspfleger versuchten ihnen, die mitgebrachten Schilder auf denen die Kriegsverbrecher benannt wurden, zu entreißen. Auf die Konfrontation mit ihren Verbrechen reagierten die Täter mit Schlägen und Tritten.” Es ist einer Passage in einem wohlwollenden Bericht auf der Seite Eins der Frankfurter Rundschau vom 21. Mai über jene Mittenwald-Aktion zu verdanken, dass sie noch einmal für den linksliberalen Teil der bundesdeutschen Öffentlichkeit implizit aber deutlich über die in der ersten Fassung der Presseerklärung eingenommene antifaschistische Opferperspektive referierte. Und die Antifaschisten wurden hier nicht nur geschlagen, sondern sollen auch während der Aktion - zumindest wenn man dieser Darstellung glaubt - ein Schicksal erlebt haben, das viele Millionen Deutsche am Ende des Zweiten Weltkrieges ereilte: Sie wurden "vertrieben". O-Ton FR: "Eine Gruppe von Demonstranten (tauchte) unerwartet beim Kameradschaftsabend der Soldaten auf, um auf die Verbrechen der Gebirgsjäger im Zweiten Weltkrieg aufmerksam zu machen. Ihr Versuch, an die Opfer zu erinnern, ging allerdings im Tumult unter: Mit Fäusten, Stühlen und Krückstöcken vertrieben die alten und jungen Kameraden ihre Kritiker. "Drecksmüll" seien diese Leute, schimpfte ein aktiver Hauptfeldwebel der Bundeswehr und ärgerte sich, nicht handgreiflicher geworden zu sein." Was für eine paradoxe Wendung einer doch ganz anders intendierten und auch durchgeführten Aktion.

Schluss

Die Protestaktion inmitten der seit 50 Jahren ungestörten Feier der Gebirgsjäger im Postkeller in Mittenwald war ein fulminanter logistischer Sieg der Aktivistinnen. Es war damit nicht nur gelungen die Gebirgsjäger an einem für sie sinnstiftenden und kollektiv-symbolischen Ort komplett zu überrumpeln. Die während des zweiten Weltkrieges massakererprobten und heute ziemlich alt gewordenen Soldaten durften es noch erleben: Ihnen wurde in aufrechter Haltung und in umfassend-integerer Verkörperung unangemeldet auf ihrer Feier direkt in ihr Gesicht das gesagt und geschrieen, was ihnen hätte schon lange ins Gesicht gesagt und geschrieen werden müssen. Damit wurde an diesem bedeutsamen Ort die von Ministerpräsident Edmund Stoiber in diesem Zusammenhang getroffene Aussage einer "unangreifbaren Traditionspflege" mit einer wuchtig vermittelten Präsenz im Nichts versenkt. Auch wenn der von einigen Trüffelschwein-Aktivsten exzellent recherchierte politisch-historische Begründungszusammenhang der Mittenwald-Aktion zweifellos von der Polarität Faschismus-Anti-Faschismus geprägt ist: Der kurze historische Moment der Konfrontation in Form der Besetzung der Gebirgsjägerfeier im Postkeller, der intensiven und direkt in die Gesichter der Gegenüber geschleuderten Unmutsbekundungen und der geschlossen d.h. ohne Zurückgebliebene bzw. Festgenommene durchgeführten Rückzug von diesem Ort verdient es, eine exemplarische autonome Aktion genannt zu werden. Das gilt auch dann, wenn - wie oben beschrieben - in Rechnung zu stellen ist, dass diese Perspektive sogar von den Protestaktivistinnen entweder gar nicht verstanden oder hier im Konsens mit der Bevölkerung mehrheitlich abgelehnt wird.

Gerhard Polt