Rede in Hebertshausen, 29. April zum Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau
Rede von Ernst Grube, Präsidium der Lagergemeinschaft Dachau Vor 5 Jahren stand ich hier zum ersten Mal. Ich sprach von meinen persönlichen Erlebnissen mit russischen Menschen. Wie ich mit meinem Vater 1943 hungernden sowjetischen Kriegsgefangenen Brot brachte. Ich erzählte von meiner Befreiung durch die rote Armee in Theresienstadt. Wie wir damals durch das geöffnete Lagertor liefen und die Menschen in ihren braunen Uniformen und mit dem roten Stern auf den Mützen umarmten. Ich sprach aber auch über die Geschichte. Über den Kommissarbefehl, über die Ermordung tausender sowjetischer Kriegsgefangener, hier an diesem Platz, der ehemaligen SS-Schießstätte, und im Konzentrationslager. In Lastwagen wurden sie hierher gebracht, gnadenlos erschossen - ohne auch nur den Hauch einer Chance zu überleben.
In diesem Jahr jährt sich zum 60. Mal der Überfall auf die Sowjetunion. Am 22. Juli 1941 überfielen deutsche faschistische Truppen dieses Land. Millionen deutscher Soldaten überschritten in breiter Front die Grenzen der Sowjetunion.
Dieser Krieg war gut vorbereitet. Er begann schon viele Jahre vorher. Es waren die großen Lügen über die jüdischen und bolschewistischen sogenannten Untermenschen verbreitet worden. Mit System wurden Menschen in Kategorien eingeteilt: Da waren die deutschen Herrenmenschen, die Juden wurden zu einer minderwertigen, arbeitsscheuen Rasse abqualifiziert, die Slawen zu mordenden und raubenden Unmenschen abgestempelt. Die Nazis hatten damit ein leichtes Spiel. Die Masse der deutschen Bürger und Bürgerinnen folgte begeistert den Kriegs- und Haßparolen Hitlers und seiner Helfershelfer. Und nicht zu vergessen ist die deutsche Wirtschaft, die deutsche Großindustrie, die diesen Krieg tatkräftig unterstützt hat. Im Bereich der Rüstungsindustrie, und nicht nur dort, witterte man das große Geschäft. Gemeinsam mit den Nazis bereicherte man sich an dem Vermögen der Juden.
Mit der Erfahrung von annähernd zwei Kriegsjahren erfolgte der Überfall auf die Sowjetunion. Mit Hilfe der Wirtschaft gut ausgerüstet setzten die Faschisten ihren am 1.September 1939 mit dem Überfall auf Polen begonnenen Raubzug in Europa fort. Gutgeschneiderte Uniformen, passende Stiefel, modernste Panzer und Kanonen, Krupps Räder, sie "rollten für den Sieg".
Dies geschah, während hier in Deutschland in den Konzentrationslagern, in den Gefängnissen Widerstandskämpfer verfolgt, jüdische Männer, Frauen und Kinder in den Vernichtungslagern grausam ermordet und russische Kriegsgefangenen reihenweise erschossen wurden.
Seit 10 Jahren lädt einmal jährlich der "Förderverein für internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit" ehemalige Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau ein. Sie kommen zu uns, um noch einmal de Stätte ihrer Qualen, ihrer verlorenen Jugendjahre zu sehen. Vielleicht das letzte Mal in ihrem Leben. Sie kommen zu uns als Freunde, ohne Haß und Vorwürfe. Sie erzählen uns, wie sie sich an die Zeit im Lager erinnern, sie erzählen uns von ihrem neuen Leben in der damaligen Sowjetunion und sie erzählen von ihrem traurigen Leben heute. Oft einsam und verlassen, krank von den Verfolgungen der Nazizeit. Sie erzählen von ihren Frauen und Kindern. Sie erzählen vom Warten auf den Tod. Aber oft keimt Hoffnung auf. Hoffnung auf etwas Hilfe. Sie erleben in der Begegnung mit uns und Vertretern der Stadt Dachau bisher kaum gekannte Freundlichkeit, Aufmerksamkeit, Sorge und Hilfe. ein Vertreter unserer Gäste, die unter uns weilen, wird anschließend selbst erzählen, was sie empfinden.
Und wir Deutsche erleben durch diese Begegnung hautnah, wie notwendig diese Menschen unsere Hilfe brauchen. Wenn sie nach Hause in ihren Alltag zurückkehren, sollten sie die Gewißheit haben, daß wir ihnen die wenigen Jahre ihres Lebens, die ihnen noch bleiben, mit geringen Mitteln verschönern und dadurch vielleicht verlängern.
Deshalb ist das Trauerspiel, daß wir um die Entschädigung ehemaliger Häftlinge und Zwangsarbeiter seit über zwei Jahren erleben, umso beschämender.
In dem im vergangenen Jahr im Bundestag verabschiedeten Gesetz zur Errichtung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Versöhnung" geht es in erster Linie um die "Rechtssicherheit" für die Industrie, und erst an zweiter Stelle geht es um die betroffenen Menschen, die Entschädigung der Zwangs- und Sklavenarbeiter aus der Nazizeit. Dieses Gesetz verhindert heute, daß die nun vorhandenen 10 Milliarden Mark zügig an die notleidenden Menschen in Rußland, Polen, Tschechien, Ukraine und Weißrußland ausgezahlt werden. Die Banken und Versicherungen, die deutschen Unternehmer und die Industrie haben an der Ausbeutung jüdischer Häftlinge und Zwangsarbeiter Milliarden verdient. Obwohl in den letzten Jahren immer wieder neu die Verknüpfung der Unternehmen mit dem Nazisystem dokumentiert wird, weigern sich bis heute die meisten Firmen, die heute noch lebenden Opfer in angemessener Weise zu entschädigen. Erst auf Druck der Öffentlichkeit sind die 5 Milliarden Mark von der Industrie bereitgestellt worden.
Ich frage mich: Geht es der "deutschen Wirtschaft" überhaupt ums Geld, um die Rechtssicherheit? Niemand wird doch im ernst glauben, daß eine Wirtschaft, die problemlos Milliarden Mark aufbringt, um Konkurrenten aufzukaufen und Konzerne zu verschmelzen, nicht in der Lage ist, 5 Milliarden Mark für die Entschädigung aufzubringen. Und bei der Frage der Rechtssicherheit geht es meiner Meinung nach um etwas ganz anderes. Jeder neue Prozeß um Entschädigung, jede Forderung nach Ausgleich für entgangenen Lohn, würde unweigerlich das Verhalten und die Rolle der Wirtschaft während der Nazizeit zur Disposition stellen.
- Es würden vielfältige Fragen auftauchen, z.B. nach den firmeneigenen Konzentrationslagern
- nach dem KZ Auschwitz-Buna der IG Farben
- nach den horrenden Gewinnen durch die Ausbeutung der Zwangsarbeiter
- oder warum bis zum letzten Kriegstag die Rüstungsmaschinerie auf Hochtouren lief.
Dies sind nur einige Fragen, und sie würden die Diskussion über die Rolle der Wirtschaft während der Nazizeit in einer für sie unangenehmen Weise aufleben lassen.
Rechtssicherheit für die Industrie heißt also: Keine Rechtssicherheit für die ehemaligen Zwangsarbeiter! Rechtssicherheit für die Industrie heißt also in Wirklichkeit: Einen Schußstrich unter die Vergangenheit ziehen, über die Verbrechen der Nazis und die eigenen Verstrickungen darin nicht mehr sprechen. Das notwendige Erinnern und die Beschäftigung mit unserer jüngsten Vergangenheit soll für immer beendet sein.
Wenn wir heute der Toten, von den Nazis ermordeten gedenken, uns die Verbrechen der Nazis, die in deutschem Namen geschahen, vergegenwärtigen - so müssen wir uns doch fragen: was wäre eigentlich geschehen, "wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte"? Diese Frage braucht hier nicht im einzelnen beantwortet werden. Nur so viel sei angemerkt:
- Keiner der jüdischen Häftlinge hätte die Konzentrationslager überlebt
- Im über ganz Osteuropa ausgedehnten Deutschland würde über viele Jahrzehnte Sklaverei und Unterdrückung herrschen.
- Die Menschen in ganz Europa, in West und Ost, in Nord und Süd wären unfrei.
- Ein Rechtssystem irgendwelcher Art wäre undenkbar.
Daß dieses nicht eingetreten ist, daß wir in Europa über viele Jahrzehnte ohne Krieg in Frieden leben konnten, verdanken wir dem Sieg der Alliierten, aber insbesondere den Truppen der Roten Armee, von denen Tausende an diesem Ort ihr Leben lassen mußten. Dieses anzuerkennen bedarf es keiner politischen oder ideologischen Überzeugung. Dies ist Fakt.
Wir haben bisher alle Jahre dieser Menschen gedacht und werden es auch in Zukunft tun. Wenn wir auch nichts mehr rückgängig machen können, so werden wir doch diesen Platz in Ehren halten. In den letzten Wochen und Monaten wurde sehr viel zur Erforschung der tatsächlichen Geschehen unternommen. Gerade in den letzten Tagen wurden bei Grabungen wichtige Indizien gefunden, die uns über den Vorgang der Ermordung tausender sowjetischer Menschen Auskunft geben.
Dieser Ort hier ist für mich jedoch nicht nur ein Platz der Erinnerung, sondern auch ein Ort, wo Gefühle der Wut und des Zorns in mir hochkommen. Wut und Zorn darüber, wie man in unserem Lande mit den alten Menschen umgeht, die als Jugendliche in unser Land gezwungen wurden. An einer Aktion "fünf nach zwölf" in Berlin haben Schülergruppen darauf hingewiesen, daß alle 11 Minuten ein ehemaliger Zwangsarbeiter stirbt. Wir fordern deshalb von diesem Platz die Bundesregierung auf, für die sofortige Entschädigung aller ehemaligen Häftlinge und Zwangsarbeiter zu sorgen. "Für die Überlebenden gibt es keine Wartezeit mehr."