Raus auf die Straße!
Berlin/Leipzig.Für den 1. Mai ’98 ergibt sich eine ähnliche Situation wie schon 1997: In Berlin finden wieder zwei revolutionäre 1. Mai-Demonstrationen statt. In Leipzig haben NPD und JN wieder einen großen Aufmarsch angekündigt. Außerdem finden in verschiedenen Städten, wie z.B. Nürnberg kleinere revolutionäre 1. Mai-Demos statt oder es gibt revolutionäre Blöcke auf den regionalen DGB-Demos. Stellt sich also wieder die Frage „Was tun?", die Antwort sollte die gleiche bleiben: „Was tun!". Es ist genauso wichtig, den 1. Mai als Kampftag der revolutionären Linken zu erhalten, wie einen faschistischen Aufmarsch, gerade am 1. Mai, zu verhindern.„Was tun!", also „Raus auf die Straße", sollte als zentrale Aufgabe der radikalen Linken auch in diesem Jahr begriffen werden. Es kann nicht Ziel der Aktionen am 1. Mai sein, sich gegeneinander auszuspielen, auch wenn gerade in Berlin und Leipzig die Vor-zeichen für einen erfolgreichen 1. Mai sehr viel ungünstiger stehen, als es uns lieb sein kann.
1997 ist es der Polizei gelungen, den Widerstand im Vergleich zu den Vorjahren im Griff zu behalten. Durch das Verbot von Straßenfesten zur Walpurgisnacht, massiven Vorkontrollen, unzähligen Platzverweisen, ständigen Angriffen auf die beiden Demos und zahlreiche Festnahmen behielt Innensenator Schönbohm einigermaßen die Kontrolle. Hatte im letzten Jahr in Leipzig der zaghafte bürgerliche Protest und eine bundesweite antifaschistische Mobilisierung noch dafür gesorgt, daß mit Berufung auf die allseits bekannte Gefährdung der öffentlichen Ordnung angesichts eines „Polizeinotstandes" der Aufmarsch der Nazis verboten wurde, ist ein Verbot in diesem Jahr unwahrscheinlich. Die NPD beruft sich erstens auf den laufenden Wahlkampf und zweitens hat sie den Aufmarsch bereits am 7. Mai ’97 für 10 000 Teilnehmende angemeldet. Ziel der frühen Anmeldung eines großen Aufmarsches ist es, einem Verbot aus „Polizeinotstand" entgegenzuwirken.
Von diesen Bedingungen muß die radikale Linke ausgehen. Doch auch andere wichtige Einflüsse auf linksradikale Demonstrationen haben sich verändert. Eine Schutzfunktion gegenüber dem Polizeiterror durch eine starke linksliberale Öffentlichkeit existiert nicht mehr. Antifaschistische Demonstrationen werden immer mehr zu martialischen Polizeistaatsaufmärschen. Die bürgerliche Presse und damit auch große Teile der öffentlichen Meinung empfinden dies offenbar als normal und richtig.
Aber trotzdem: In Leipzig mobilisiert ein breites Bündnis zu Aktionen gegen den Nazi-Aufmarsch. Eindeutiges Ziel ist die Verhinderung des Aufmarsches. So schreibt das Bündnis gegen Rechts Leipzig, das die bundesweite Mobilisierung autonomer AntifaschistInnen organisiert, in einem ersten Aufruf: „Es ist nicht geplant, in sicherer Entfernung von den Faschos eine Demonstration durchzuführen, denn wir wollen den FaschoAufmarsch verhindern! Das geht natürlich nur dort, wo die Faschos sind." Daher gibt es am 1. Mai in Leipzig drei Treffpunkte direkt an der Route des geplanten Nazi-Aufmarsches. Sollte der geplanten Verhinderung des Aufmarsches durch den Polizeistaat ein Strich durch die Rechnung gemacht werden, gilt es zumindest massenhaft antifaschistische Präsenz zu zeigen und sich am Rande ergebende Möglichkeiten für praktischen Antifaschismus zu nutzen.
Für NPD und JN ist es bisher in diesem Jahr sehr gut gelaufen, Leipzig soll der vorläufige Höhepunkt nach Dresden und Passau werden. Die 1000 Nazis in Dresden waren seit der Demo gegen die Wehrmachtssaustellung in München mit 5000 Nazis die erste gelungene große Aktion gegen die Ausstellung. In Passau konnte, auch wenn es eine Saalveranstaltung war, an die Größenordnung von München direkt angeknüpft werden. So dürfte das faschistische Mobilisierungspotential das letzte Jahr, auch wenn die über Internet angekündigten 10 000 Faschisten wohl etwas hochgegriffen sind, deutlich übersteigen, mehrere tausend Nazis sind an diesem Tag als realistisch zu betrachten. Der geplante Aufmarsch ist für die NPD und JN immens wichtig. Er soll für die starke rechte Jugendsubkultur im Osten ein Zeichen setzen. Ein Aufmarsch, der der bislang größte im Osten werden könnte, soll die noch nicht so weitgehend organisierte Ost-Nazi-Szene stärker an die NPD- und JN-Strukturen binden. Die Szene im Osten stellt zwar ein großes Potential dar, wie Dresden und Passau gezeigt haben, ist aber noch nicht so sehr an die Parteilinie gebunden, zumal sich 1997 am 1. Mai und beim mißglückten Heß-Aufmarsch gerade viele Ost-Nazis verheizt fühlten. Eine Verhinderung des Aufmarsches wäre nicht nur ein antifaschistisches Signal am 1. Mai, sondern auch ein herber Rückschlag für die NPD/JN im Osten.
Der revolutionäre 1. Mai in Berlin ist der Tag, an dem der herrschenden Meinung regelmäßig die Möglichkeit genommen wird, revolutionären Widerstand zu verschweigen oder zu integrieren. Am 1. Mai werden keine Kompromisse mit dem System gemacht. Es werden die eigenen Inhalte auf die Straße getragen, sie finden ihren praktischen und eindeutigen Ausdruck in entglasten Banken etc. und in Angriffen auf Polizisten. Der 1. Mai ist kein Ritual, sondern Ausdrucksform der revolutionären Linken und zwar in Theorie und Praxis. So werden zum selbst bestimmten Zeitpunkt, also außerhalb eines aktuellen Bezuges, linke Forderungen und Ziele von verschiedensten Gruppierungen geäußert. Der Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung und für eine sozialistische Alternative steht am 1. Mai ganz vorne, aber immer im Zusammenhang mit tagespolitischen Forderungen. So sollte beispielsweise in diesem Jahr die Gelegenheit genutzt werden, zumal die RL-Platz-Demo extra wegen Leipzig auf 18h verschoben wurden, auf die zahlreichen Verschärfungen im Bereich der „Inneren Sicherheit" Antworten von der Straße zu geben. Gerade Berlin ist geprägt von den „Säuberungswellen" Schönbohms. Schönbohm hat zur Großoffensive gegen Sprayer, Obdachlose, Junkies, MigrantInnen und natürlich auch Linke geblasen.
Fazit kann nur sein, daß es wie immer wichtig ist, am 1. Mai aktiv zu werden, sich die Straße erneut zu nehmen. Die letzten Großereignisse haben nämlich nicht nur gezeigt, daß viele Nazis mobilisierbar sind und daß dem Polizeistaat fast nichts mehr zu peinlich ist, sondern auch, daß mit Bereitschaft und entschlossenem Vorgehen einiges möglich ist bzw. gewesen wäre.