Straßenschlachten erschüttern Schönbohms "Innere Sicherheit"

"1. Mai, Straße frei - Nieder mit der Polizei!"

Berlin. Der 1. Mai 1998 in Berlin war ein heißer Tag. Nicht nur, daß die Sonne ihr Bestes gab, als wolle sie deutlich machen: "Ich bin auf Eurer Seite!"

Nein, auch sonst war dieser Tag in vielerlei Hinsicht ein heißer Tag. Heiße Würstchen beim DGB auf dem Alexanderplatz und jede Menge heiße Luft in den Reden der DGB-Oberen, die ganz auf Rot-Kohl Schröder setzten. Heiße Sehnsucht nach Revolution auf der 1. Mai-Demo am Oranienplatz und heiße Ohren beim Lauschen am Handy nach neuesten Informationen der GenossInnen aus Leipzig. Heiße Rythmen auf der Demo abends am Rosa-Luxemburgplatz, und schließlich heiße, brennende Barrikaden im Prenzlauer Berg. Manchem Bullen und dem Dienstherr, Innensenator Schönbohm, wurde es da ein wenig zu heiß. Sie verordneten Abkühlung durch Wasserwerfer, kühle Kompressen und kalte Herrschaftslogik.
[Schönbohm]
Ein bißchen zu heiß für Schönbohm?
Als Reaktion erklärte Schönbohm, daß in Zukunft ein Verbot der 1. Mai-Demonstration geprüft werden müsse oder daß diese Demonstration nur noch an von der Polizei festgelegten Orten außerhalb der Innenstadt stattfinden dürfe, am liebsten wohl gleich auf dem Hof einer Polizeikaserne.

Außerdem ließ Berlins Meister Propper durchblicken, daß er gegen die VeranstalterInnen vorgehen will, da diese angeblich nach Auflösung der Demonstration über den Lautsprecherwagen zur Randale aufgerufen hätten. Vom Berliner GdP (Gewerkschaft der Polizei)-Vorsitzenden wurde in diesem Zusammenhang bereits die Antifaschistische Aktion Berlin (AAB) direkt verantwortlich gemacht. Die Äußerungen Schönbohms lassen sich daher auch als Ankündigung von stärkeren Repressionsmaßnahmen gegen diese Gruppe deuten, die seit 3 Jahren maßgeblich an der Vorbereitung der 1. Mai-Demonstration im Prenzlauer Berg beteiligt ist.

Auffällig am Abend des 1. Mai war die (relativ) geringe Polizeipräsenz, obwohl die Berliner Polizei bereits seit 10 Jahren bestens auf diesen Tag vorbereitet ist und ihre Einsatztaktik seitdem immer mehr ausgefeilt hat. Entgegen ihrer üblichen Praxis, DemonstrantInnen mit brachialer Gewalt zu räumen und eimal geräumte Plätze und Strassenzüge dauerhaft zu besetzen, blieb dieses Jahr viel Raum zum agieren. Kurzes Räumen und dann schnell wieder verschwinden; da war klar, daß niemand nach Hause gehen würde...

Sicherheitsmaßnahmen der anderen Art ...
Für dieses ungewohnte Vorgehen der Polizei kommen zwei Gründe in Frage: entweder war der Widerstand in diesem Jahr tatsächlich größer, als die Polizei erwartet hatte, oder es entsprach ihrem Auftrag, größerer Auseinandersetzungen, Barrikadenbau und Plünderungen in Kauf zu nehmen. Die Wahrheit liegt vermutlich dazwischen. Zum einen beteiligten sich in diesem Jahr tatsächlich sehr viel mehr Menschen an den Auseinandersetzungen. Die Stimmung auf der Demonstration war von Beginn an sehr offensiv gegen das Auftreten der Polizei gerichtet, anders als im letzten Jahr, wo die Polizei immer wieder in die Demo prügeln konnte, ohne eine passende Antwort zu erhalten.
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An den späteren Auseinandersetzungen beteiligten sich auch sehr viele unorganisierte, nicht der autonomen Szene zugehörige Leute, die ihre Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen militant ausdrückten. Die Erfahrung, daß Widerstand auch gegen einen noch so starken Polizeiapparat möglich ist, blieb als positives Ergebnis des Tages sicher in vielen Köpfen hängen.

Schwere Krawalle in Berlin, ob gewollt oder nicht, paßten also durchaus ins Konzept, anschließend einhellig die "Gefahr von rechts und links" zu beschwören. Ganz im Sinne der Totalitarismustheorie, die linken Widerstand gegen den kapitalistischen Normalzustand mit faschistischer Gewalt gleichsetzt, der seit Beginn der 90er Jahre bereits mehrere hundert Menschen zum Opfer gefallen sind. So kann sich der Staat mit seinen "Ordnungshütern" als neutrale Instanz darstellen, die scheinbar zwischen den Extremen steht. Und damit von der eigenen Politik ablenken, die zunehmend auf den Abbau erkämpfter sozialer Standards und auf eine aggressive Außen- und Innenpolitik setzt, die Minderheiten für die verschlechtete soziale Situation verantwortlich macht und damit den Faschisten zum Abschuß freigibt.

Und diejenigen, die am 1. Mai auf die Straße gingen, ob friedlich oder militant, sollten wissen, daß sie nicht alleine sind. In Seoul, Mexico-City, Moskau, Istanbul und anderswo gingen ebenfalls Hunderttausende auf die Straße.

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