Das Gericht hat sein Urteil zum Lübecker
Brandanschlag gesprochen und jetzt auch schriftlich
begründet. Dem Angeklagten Safwan Eid wurde
vorgeworfen, das Haus, in dem seine Familie lebte, in Brand
gesteckt zu haben, um sich anschließend seelenruhig
ins Bett seines Zimmers im Dachgeschoß zu begeben und
dort zu warten, bis die Flammen ihn erreichen. Beweisen
ließ sich von alledem nichts, deswegen Freispruch.
Die eingelegte Revision einer Nebenklagepartei dürfte
wenig aussichtsreich sein und kaum zu einer Wiederholung
des ganzen Prozesses führen.
Trotz Freispruch steckt dieses Urteil voller Vorurteile.
Es steht im Kontext eines institutionellen und staatlichen
Rassismus, der sich tarnt und versteckt hinter den
Beteuerungen von Toleranz und friedlichem Zusammenleben und
eben doch Rassismus ist: Die Ungleichbehandlung und
Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Abstammung oder
Hautfarbe.
Urteil aus politischem Kalkül
Die jüngst vorgelegte Urteilsbegründung schreibt
als offizielle Wahrheit fest: Die Brandstifter an jenem 18.
Januar 1996, die zehn Menschenleben auf dem Gewissen haben,
müssen HausbewohnerInnen, Flüchtlinge gewesen
sein. Gegen den Angeklagten blieben Verdachtsmomente. Voll
glaubwürdig fand das Gericht die Aussage des einzigen
Belastungszeugen, daß der angeklagte Safwan ihm in
der Brandnacht „wir warn’s“ gesagt habe
und damit eine Tatbeteiligung angedeutet habe.
Einer logischen Überprüfung hält dies nicht
stand. Warum angesichts der Lärmkulisse und
Verständigungsschwierigkeiten nicht ein schlichter
Hörfehler die Ursache für das
„Geständnis” sein könnte, wird nicht
ausgeführt. Daß die volle Geschichte des
„Belastungszeugen“ Jens Leonhard über das
Benzin, das aus Rache an eine Tür gegossen worden sei
und dann brennend die Treppe hinunter gelaufen sei, mit
keinem möglichen Brandszenario in Deckung zu bringen
ist, wird zwar bemerkt, aber übergangen. Ganz zu
schweigen von den unzweifelhaften Verbindungen des Zeugen
zu einer paramilitärischen Gruppe von Gotcha-Spielern.
Jede Menge Gründe für Zweifel, aber das Gericht
glaubt dem Zeugen.
Beweise vom Tisch gewischt
Das Gericht glaubt auch, daß alle Türen und
Fenster des Hauses fest verschlossen waren. Dabei muß
es zugeben, über den Zustand der Scheibe in der
Eingangstür (eines der vielen wichtigen, durch die
Polizei nicht gesicherten oder „verschwundenen”
Beweisstücke) nichts sagen zu können. Die
Aussagen zahlreicher Flüchtlinge, da wäre ein
Fenster gewesen, das sich von außen aufdrücken
ließ, wurden vom Tisch gewischt. Völlig
ausgeblendet bleibt die Frage nach den tatverdächtigen
Neonazis aus Grevesmühlen. Für das Gericht ist
die Frage mit der Feststellung erledigt, der Brand sei im
Inneren des Hauses gelegt worden. Eine Theorie, zu der sich
zahlreiche Widersprüche ergeben, und die
zusätzlich auf der grundlosen Annahme fußt,
neonazistische Brandstifter würden stets von
außen angreifen und niemals tief in Häuser
eindringen.
Rassistische Medienhetze
So interessiert heute keinen mehr, wie die
verdächtigen Neonazis zu ihren Brandspuren im Gesicht
gekommen sind, von denen der Gerichtsmediziner im
Prozeß ausgeführt hat, sie seien „die
typischen Spuren von Brandstiftern”. Das staatliche
und mediale Manöver der Umfälschung des bislang
folgenschwersten rassistischen Anschlags in der BRD zu
einer Tat unter den Flüchtlingen selbst hat
funktioniert. Nur kurz war das Erschrecken nach der Tat,
kurz die Frage, ob nicht die Politik staatlicher
Ausgrenzung und Diskriminierung Flüchtlinge zum
leichten Ziel für Nazi-Terroristen werden
läßt. Die Ausländer warn’s selber,
beruhigte man sich. Daß der Brand von Lübeck
heute als ungeklärt gilt, tut dieser Beruhigung keinen
Abbruch. Wichtig war nur, die Empörung der ersten
Stunde abzubiegen, mit den kritischen Fragen der
ausländischen Presse fertig zu werden. Mit dem
Freispruch, an dem nur die Begründung falsch ist, ist
alles erreicht: die große Empörung der wenigen
kritischen Stimmen im Lande bleibt aus, und der
Seelenfrieden all derer, die den Normalzustand dieses
Landes gutheißen, ist gerettet.
Rassistische Ermittlungen
Für die antirassistische Bewegung jedoch kann der Fall
nicht erledigt sein. Thematisiert werden muß, in
welch unverfrorener Weise die Staatsanwaltschaft die
Ermittlungen gegen die verdächtigen Neonazis
geführt, bzw. nicht geführt hat, während sie
gleichzeitig den Flüchtling Safwan mit abenteuerlichen
Konstruktionen vor Gericht zerrte. „Rassistische
Ermittlungen” haben wir dies genannt und es gibt
trotz versuchter Kriminalisierung keinen Grund, es
zurückzunehmen.
Ziviler Ungehorsam
Den Überlebenden wurde von Lübecks
Bürgermeister Bouteiller ein dauerhaftes Bleiberecht
zugesichert. Wohlwissend, daß der politische
Spielraum der Stadt allein nicht ausreicht, dies zu
verfügen, hatte Bouteiller schon damals darauf
hingewiesen, daß das Bleiberecht - wenn nötig -
mit den Mitteln des „zivilen Ungehorsams”
durchgesetzt werden müsse. Dafür war er
zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt. Nicht nur daß er
stapelweise Droh- und Schähbriefe faschistischen und
rassistischen Inhalts erhielt, auch seine SPD-Genossen in
der Landesregierung schossen sich auf ihn ein.
Paßersatzpapiere, die Bouteiller für
Überlebende ausstellte, damit diese zu den
Bestattungen ihrer ermordeten Familienmitglieder in die
Heimatländer fahren und auch wieder zurückkehren
konnten, wurden zum Anlaß genommen, ein
Disziplinarverfahren einzuleiten. 6000 DM Strafe sollte er
für diesen Akt praktischer Humanität zahlen - ein
Widerspruchsverfahren läuft noch.
Erwartungsgemäß hielt die große
Anteilnahme nach dem Brandanschlag nicht lange vor. Die
staatsanwaltschaftliche Beschuldigung änderte die
Situation grundlegend. Laut meldeten sich die rassistischen
Pöbler zu Wort, die zunächst beschämt
geschwiegen hatten. Und so muß sich die Lübecker
Staatsanwaltschaft den Vorwurf gefallen lassen, mit ihrer
falschen Beschuldigung - wahrscheinlich ungewollt - jenen
Kreisen Auftrieb verschafft zu haben, die im vergangenen
Jahr Lübeck durch Kirchenbrandstiftungen und
Hakenkreuzschmierereien erneut in die Schlagzeilen
brachten.
Gesichtertes Bleiberecht?
Die Frage des Bleiberechts wurde zunächst wegen des
andauernden Prozesses vertagt, hierfür wurden die
Überlebenden als ZeugInnen benötigt, waren daher
zunächst in Sicherheit. Nicht unerwähnt bleiben
darf jedoch, daß einer der Brandüberlebenden,
Victor Atoe, bereits im Frühjahr 1996 nach Nigeria
abgeschoben wurde. Er hielt sich in der Brandnacht nicht
offiziell in Lübeck auf, sodaß der Kreis
Ostholstein für ihn zuständig war. Eine
Beschuldigung wegen angeblich doppeltem Sozialhilfebezug
reichte aus, um eine breite Solidarisierung zu verhindern.
Das Ansinnen Lübecks, die Zuständigkeit zu
übernehmen, wurde im Einvernehmen mit der
Landesregierung abgelehnt. Anfang 1997 startete der
„Runde Tisch“ (ein Gremium, gegründet von
Bouteiller und der Jüdischen Gemeinde, in dem
Ämter, Kirchen, Parteien und auch unabhängige
antirassistische Initiativen mitarbeiten) eine
Unterschriftenaktion für das Bleiberecht. Über
5000 Menschen in Lübeck und anderen Städten
unterschrieben die Resolution, in der auch die Bereitschaft
zum „zivilen Ungehorsam” für den Schutz
der Flüchtlinge erklärt wurde.
Hierauf zeigte sich erste Bewegung in den Reihen der
Landesregierung. Hatte Innenminister Wienholtz noch im
August 1996 auf einer Veranstaltung jede
Äußerung zu „Einzelfällen”
abgelehnt und stur auf Gesetze und Verordnungen verwiesen, folgte jetzt eine
Entschließung des schleswig-holsteinischen Landtags:
Wienholtz solle darin „unterstützt” werden
von Bundesinnenminister Kanther die Zustimmung für
eine Gruppenregelung zum Bleiberecht zu erhalten. Das war
nicht viel, aber immerhin ein öffentliches Bekenntnis,
daß das Bleiberecht politisch gewollt ist. Es folgte
ein bis heute andauerndes Hin und Her zwischen Kiel und
Bonn. Denn selbstverständlich dachte Manfred Kanther,
der in puncto Rassismus ja wahrlich keinen Ruf mehr zu
verlieren hat, nicht im Traum daran, seine Zustimmung zu
erteilen. Die einzige Reaktion Schleswig-Holsteins besteht
darin, immer neue Briefe nach Bonn zu schicken. Dabei
besteht - auch wenn dies von Wienholtz immer wieder
bestritten wird - die Möglichkeit, daß
Bleiberecht im Alleingang zu verfügen. Zwar nicht
für die Überlebenden als Gruppe, sondern für
jeden individuell. Ein Eingreifen Bonns in eine solche
Entscheidung ist juristisch nicht möglich.
Warum wird diese Möglichkeit jedoch nicht ergriffen?
Warum dieses unwürdige Ping-Pong-Spiel, während
den Betroffenen noch immer nicht die Möglichkeit
gegeben wird, sich hier eine Lebensperspektive aufzubauen?
Es muß vermutet werden, daß die SPD -
spätestens durch die faktische Abschaffung des
Asylrechts 1993 zur Komplizin des staatlichen Rassismus
geworden - nichts mehr fürchtet, als von der CDU wegen
vermeintlich illegaler Aktionen zugunsten von
Flüchtlingen angegriffen zu werden. Gleichzeitig
scheut man aber auch den Imageverlust und die
Auseinandersetzungen, die mit dem Versuch verbunden
wären, die Brandopfer tatsächlich abzuschieben.
Da ist es am bequemsten - und übliche
bürokratische Praxis -, die Verantwortung von sich
wegzuschieben und sich nach allen Seiten
abzusichern.
Bleiberecht als
Wahlversprechen?
Hinter vorgehaltener Hand hört man gar, die SPD
spekuliere darauf, daß im Falle eines
sozialdemokratischen Wahlsieges im Herbst
’98 ja ein anderer Bundesinnenminister sein O.K. zur
Gruppenregelung geben könne. Bis dahin wird man sich
weiter mit befristeten, aber immer wieder verlängerten
Duldungen behelfen. Eine abenteuerliche Strategie, die
fatal an die SPD-Konzepte für den Atomausstieg
erinnert - ein nicht eingelöstes Wahlversprechen aus
dem Jahre 1988.
Die große Gefahr für die Flüchtlinge
besteht darin, daß jede weitere Verzögerung ihre
Situation mehr und mehr in Vergessenheit geraten
läßt, bis sie sich eines Tages vielleicht doch
still und heimlich abschieben lassen. Daß es dazu
nicht kommt, ist unsere Verantwortung.
Am 9. Januar wurden die Unterschriften für das
Bleiberecht - verbunden mit der Forderung an das Land,
endlich zu handeln- an Ministerpräsidentin Heide
Simonis übergeben. Die Ministerpräsidentin
äußerte ihre Bereitschaft sich für ein
dauerhaftes Bleiberecht der Überlebenden einzusetzen,
schob jedoch schon im nächsten Satz die Verantwortung
von sich und ihrer Partei in Richtung
Bundesinnenministerium. Unter anderem machte sie deutlich,
dieses Thema in der Zeit des Wahlkampfes nicht an die
große Glocke hängen zu wollen, sondern hoffe, im
Falle eines Regierungswechsels die Sache unkomplizierter
über die Bühne bringen zu können. Von
unserer Seite wurde wiederholt deutlich gemacht:
Eine Abschiebung der Brandopfer wäre nur mit einem
massiven Polizeieinsatz gegen unseren entschlossenen
Widerstand durchsetzbar!