Bericht von den Aktionen der französischen "sans papiers
Staatlicher Rassismus
Im folgenden dokumentieren wir einen Beitrag zum aktuellen Stand
der "sans-papiers-Bewegung in Frankreich. Die Bewegung nahm ihren Ausgangspunkt
mit der Besetzung der Saint-Bernard-Kirche in Paris 1996. Die
zentrale Forderung der "papierlosen MigrantInnen war/ist: Papiere
für alle! Die gewaltsame Räumung und darauffolgend die Abschiebungen
von mehreren BesetzerInnen konnten nicht verhindern, daß sich
die Bewegung ausbreiten konnte und von vielen Menschen und Gruppen
in Frankreich unterstützt wird. Mittlerweile sind die "sans-papiers auf der politischen Bühne zu einem festen Begriff geworden und
aus antifaschistischen und antirassistischen Mobilisierungen,
sowie der Arbeitslosenbewegung in Frankreich nicht mehr wgegzudenken.
Der Artikel wurde der französischen Antifa-Zeitung No Pasaran entnommen und übersetzt.
Sans-Papiers: Chronik einer ausländerfeindlichen Woche
Die zusammenarbeitende Linke steht der Rechten [1] in den Bereichen
der Repression, des Rassismus und der staatlichen Ausländerfeindlichkeit
in nichts nach. Aber müssen wir uns darüber noch wundern?
Sonntag, 15. März:
Gegen 10 Uhr besetzen hundert "sans-papiers des 6. Kollektivs (gegründet vor einigen Tagen im 18. Arrondissement)
die Notre-Dame de la Gare-Kirche am Place Jeanne dArc. Sie fordern
die sofortige Freilassung von Bathili Boubakar, der am 10. März
festgenommen wurde. Die BesetzerInnen verfolgen desweiteren noch
ein anderes Ziel: Die Wiedereröffnung der Akten für eine Regelung
für alle.[2] Schnell kommen UnterstützerInnen und Leute aus dem
Viertel, um ihre Solidarität und ihre entschlossene Haltung an
diesem Tag der "großen Wahlmesse [3] zum Ausdruck zu bringen.
Darauffolgend die ebenfalls schnelle Stationierung eines beeindruckenden
Truppenkontigents der Polizei, die jegliche Kommunikationsmöglichkeit
mit den "sans-papiers verhindert. Die Spannung steigt als die CRS die "djumbés [4] verbietet. Trotz der Blockade gelingt es den UnterstützerInnen,
Lebensmittel und Decken in die Kirche zu bringen, wobei sie Angriffen
der Polizei ausgesetzt waren. Während dieser Zeit verlaufen die
Verhandlungen über die Freilassung von Barhili Boukabar im Sande.
Die Zusagen der Behörden lösen sich schnell ins Nichts auf, als
auf einen Anruf bei der DICILEC folgend bekannt wird, daß die
BesetzerInnen belogen worden sind, da Bathili schon nach Roisy
gebracht wurde, um von dort abgeschoben zu werden. Gegen 20 Uhr
lassen die Bewegungen von Spezialeinheiten darauf schließen, daß
eine bevorstehende Räumung droht. Die massenweise Präsenz von
UnterstützerInnen trägt nach Meinung vieler ohne Zweifel dazu
bei, daß die Behörden unschlüssig und wenig dazu geneigt sind,
einen Wahlabend mit dem Bild einer zweiten Kirche Saint-Bernard
zu versehen. Die Haltung des von der Pfarrgemeinde beauftragten
Priesters war während des ganzen Tages besonders widerlich. Sehr
intensiv beschäftigt mit der Reinhaltung der Kirche, schließt
er die Toiletten, dreht die Heizung und den Strom ab, um dann
die Schlüssel der Kirche schließlich den Ordnungskräften zu übergeben
Schon am frühen Morgen um 6 Uhr findet eine Demonstration der
Stärke statt, die mit denen vergleichbar ist, die man schon in
der Vergangenheit erlebt hat. Beschimpfungen, Schläge, die Trennung
von Weißen und Schwarzen ... Die "sans-papiers werden sofort in Polizeigewahrsam genommen und zum "dépôt de
la Cité verfrachtet. Einer der Delegierten des 6. Kollektivs
kommt in den Genuß des "Rechts auf eine besondere Behandlung:
digitale Registrierung seiner Fingerabdrücke, Fotos, rassistische
Beschimpfungen und Demütigungen aller Art. Die repressive Gewaltspirale
hat nun erst begonnen und wird sich im Laufe der Woche verschärfen.
Montag, 16. März:
Um 12 Uhr Versammlung vor der Polizeipräfektur "La Cité. Alles ist schon vor Ort, um jegliche Auseinandersetzungen zu
ersticken. Spezialeinheiten und Geheimdienst sind überall, auf
dem Platz vor der Polizeipräfektur und in der Metro. Ankommende
UnterstützerInnen und "sans-papiers werden sofort festgenommen. Diejenigen, die der Mausefalle entgehen
und sich sammeln können, werden sofort eingekreist und niedergeknüppelt.
Weitere Protestversuche derselben Art an diesem Tag erfahren dasselbe
Schicksal.
Mittwoch, 18. März:
Um den zweiten Jahrestag der Besetzung der Kirche Saint-Ambroise
zu feiern, besetzen hundert AfrikanerInnen, die aus den Arbeitervierteln
von Paris und ihrer Vorstädte gekommen sind, dieses Mal die Kirche
Saint-Jean de Montmartre im 18. Arrondissement. Unglücklicherweise
können sie dort nur einige Stunden bleiben, bevor sie alle verhaftet
werden. Insgesamt gab es also während einiger Tage mehr als 300
Verhaftungen in Paris.
Die Woche endet mit dem Eifer und der einfach bemerkenswerten
Leistung der Justizbehörden. Der 35. "bis, der Menschen ohne geregelte Aufenthaltsgenehmigung verurteilt,
hat anschließend mehr als 24 Stunden ohne Unterbrechung getagt,
wie in den guten alten Zeiten von Saint-Bernard. Bis zu diesem
Zeitpunkt wurden schon ungefähr 10 Menschen mit dem Flugzeug abgeschoben,
gefesselt, betäubt mit Alkohol und Chloroform, ganz in der Tradition
von Pasqua-Debré. [5] Die anderen verhafteten "sans-papiers warten im Gefangenenlager, bis sie an der Reihe sind. Die Regierung
versucht offenkundig das unvermeidliche Wiederaufleben der "sans-papiers-Bewegung im Keim zu ersticken. Man schätzt, daß heute ungefähr
70.000100.000 Menschen einen Bescheid über das Verlassen des
französischen Territoriums erhalten haben. Diese 100.000 Menschen,
die alle die Akten für eine Regulierung ihrer Situation ausgefüllt
haben, befinden sich in einer schlimmeren Situation, wie vor dem
Rundschreiben von Chevènement [6], weil daran erinnert werden
muß, daß die Polizeibehörden nun Karteikarten mit Adressen, Arbeitsplätzen
und Koordinationen der Leute, die "sans-papiers beherbergen, in ihren Händen halten. Sie werden nicht zögern,
neue Verhaftungen durchzuführen.
Seit mehreren Wochen taucht die Bewegung der "sans-papiers wieder auf und verstärkt sich: Die erste langandauernde Besetzung
der Kathedrale von Évry von 40 Menschen des Kollektivs 91, gefolgt
von 50 Menschen des Kollektivs 94, die die Kathedrale von Créteil
besetzten. Neuigkeiten und neue Möglichkeiten ergeben sich durch
das Erscheinen der mehr und mehr wichtigen Mobilisierung in den
Arbeitervierteln von Paris und ihren Vorstädten auf der politischen
Bühne. Dies zeigt, daß der seit zwei Jahren andauernde, engagierte
Kampf heute damit beginnt, Früchte zu tragen. Zum Zeitpunkt der
Besetzungen schlossen sich auch AfrikanerInnen mit legalem Aufenthaltsstatus
der Bewegung solidarisch an. Aber die Solidarität endet nicht
hier, wie der relative Erfolg der letztlich durchgeführten, unterschiedlichen
Aktionen auf dem Flughafen von Roissy gezeigt hat. Zum wiederholten
Male haben sich Passagiere entweder geweigert, das Flugzeug zu
besteigen oder mit Nachdruck ihren Unmut demonstriert. Die Behörden
waren dazu gezwungen, die "sans-papiers aus dem Abschiebeverfahren herauszunehmen.
Es ist nicht verwunderlich festzutellen, daß diese Regierung versucht,
jede Solidarität zwischen Franzosen und AusländerInnen zu verhindern.
Das ist das Ziel der geänderten Fassung des 21. Artikels des Erlasses
von 1945, der von Chevènement verbessert wurde. Nach diesem Artikel
würden sich Gewerkschaften, Organisationen und Kollektive, die
die "sans-papiers unterstützen, vor Gericht strafbar machen. Es ist ein wahrhaftes
Solidaritätsdelikt, das an das Gastfreundschaftsdelikt des ersten
Gesetzes von Debré erinnert. In diesen Zeiten der feierlichen
Erinnerung an die großen Werte der Republik von seiten Jospins
und Chiracs, ist das Gegenteil der Fall. Die Brutalitäten der
Polizei, die Mißachtung elementarer Rechte, die Desinformation
und die Lüge begleiten das Wieder-an-die-Macht-kommen der Sozialisten.
Die erfolgreiche Anstrengung der Regierung, AusländerInnen zu
den Sündenböcken der französischen Politik zu machen bestätigt,
daß die staatliche Ausländerfeindlichkeit der gemeinsame und wichtigste
Wert der Demokraten der zusammengesetzten Linken und Rechten ist.
Comission SCALP/REFLEX
(aus: No Paseran! April 1998)
[1] "Gauche plurielle et Droite plurielle verweisen zum einen auf die derzeitige linke Regierungskoalition
aus Sozialisten (PS), Kommunisten (PCF) und Grünen unter dem Ministerpräsidenten
Lionel Jospin und zum anderen auf das ehemalige Regierungsbündnis
der konservativen und republikanischen Rechten (RPR und UDF).
[2] Die zentrale Forderung der BesetzerInnen der Saint-Bernard-Kirche
1996 war die Wiedervorlage und Bearbeitung aller Akten von "sans-papiers und ihre Anerkennung mit legalem Aufenthaltsstatus.
[3] An diesem Tag fanden in Frankreich Regionalwahlen statt.
[4] Gemeint sind wahrscheinlich afrikanische Trommeln.
[5] Pasqua und Debré waren die jeweiligen Innenminister der letzten
beiden rechten Regierungskoalitionen unter Chirac und Juppé.
[6] Chevénement ist der derzeitige Innenminister der linken Regierungskoalition;
er gehört dem linksnationalistischen Flügel der Sozialistischen
Partei an. |