Grenzen überschreiten!
Ein Bericht über das Camp gegen die Festung Europa
Das Grenzcamp in Forchtenstein im Burgenland sollte ein kleiner Beitrag
dazu sein, den staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus zu thematisieren.
Diskussionen, Aktionen, Vorträge, Workshops und kulturelles Begleitprogramm
waren vorbereitet worden, um möglicherweise massiveren und wirksameren
Widerstand gegen das staatliche Vorgehen auf die Beine zu stellen. An die
200 Leute sind dem Aufruf autonomer Gruppen gefolgt, und haben in der Woche
vom 10. bis 16. August die Außengrenze der Europäischen Union
angegriffen!
TATblatt
Die burgenländische Grenze nach Ungarn ist seit bereits acht Jahren
Schauplatz menschenverachtender Vorgangsweisen des österreichischen
Bundesheeres in braver Erfüllung des Schengener Abkommens. Fast ausschließlich
Grundwehrdiener sind es, die
dazu angehalten sind, mit scharfer Munition auf diejenigen zu zielen,
die von Hunger und Not getrieben den Versuch wagen, die Insel des Wohlstandes
zu erreichen.
Größtenteils jüngere Autonome und sonstige Linke, hauptsächlich
aus Wien, Graz, Linz und Wels, aus Vorarlberg und anderen Bundesländer
- teils aber auch aus Deutschland, Italien und Frankreich - sind es, die
eine Woche lang die EU-Außengrenze zwischen Loipersdorf und Klingenbach
unsicher machen wollen. Manche kommen auch nur für einen oder mehrere
Tage, um sich mit bereits bestehenden MigrantInnen-Selbstorganisationen
und UnterstützerInnen- und Antirassismusgruppen zu vernetzen und eventuell
auch neue zu bilden.
Bereits am Montag, dem Anreisetag, treffen etwa 50 Leute ein. Der Dienstag
beginnt mit einem Workshop zum Thema Chaowali - trotz höchst unterschiedlicher
Positionen bleibt die Diskussion halbwegs im Rahmen. Es sind jetzt etwa
80 Leute im Camp. Nach einem Vortrag von Hannes Hofbauer über die
Peripherisierung Osteuropas gibt es das erste große Gesamtplenum,
in dem Aktionsvorschläge unterbreitet werden. Da diese nicht besonders
ausgefeilt sind und den meisten Leuten die Situation vor Ort nicht ganz
klar ist, wird beschlossen, am nächsten Tag einen Lokalaugenschein
an der Grenze in Loipersdorf vorzunehmen.
Die erste Aktion
verläuft daher eher spontan, verfehlt in dem kleinen Ort Loipersbach,
welcher direkt an der Grenze liegt, aber sicherlich keinesfalls ihre Wirkung.
Treffpunkt der Shuttledienste vom Camp ist beim Freibad in Loipersbach,
wo bereits ein Gendermarieauto die GrenzcamperInnen empfängt, die
sich blitzschnell zur unangemeldeten Demonstration formieren. Ein ungewohntes,
buntes Bild bietet sich der Ortsbevölkerung: Transparente werden ausgerollt
und Flugblätter an die Badegäste verteilt, die nicht unbedingt
alle mit den politischen Forderungen der etwa 40 AktivistInnen übereinstimmen.
Offensichtlich hat die Gendarmerie schon den Aufbruch aus dem Camp beobachtet,
denn Verstärkung trifft schnell ein. Bis zum Bach, der teilweise auf
ungarischem Gebiet verlaufen soll, sind es nur wenige Minuten. Dort warten
ungefähr 10 Soldaten auf das Eintreffen der GrenzcamperInnen, die
zuerst etwas planlos herumstehen und Soldaten und Gendarmen verbal zu provozieren
versuchen. Die Grundwehrdiener haben anscheinend Sprechverbot, nur der
Kommandant äußert sich. Ob dies eine Aufforderung zur Befehlsverweigerung
sei, fragt er streng, als AktivistInnen den Soldaten vorschlagen, doch
eine Flasche Wein beim Dienst aufzumachen und einfach wegzusehen, falls
Flüchtlinge vorbeikämen. Dann wird damit begonnen, im Bach eine
symbolische Staumauer zu errichten, die die Grenze wegschwemmen soll. Rostiger
Stacheldraht - der alte eiserne Vorhang - wird dabei im Bach entdeckt.
Nach etwa 15 Minuten versucht die Gendarmerie einzuschreiten, indem sie
Personalien wegen illegalem Grenzübertritt aufnehmen will. Dies ist
auch für ÖsterreicherInnen strafbar. Nach kurzen Protesten wird
beschlossen, sich zurückzuziehen, keine der AktivistInnen muß
sich ausweisen. Bei der Rückfahrt nach Forchtenstein gibt es dann
doch noch eine Ordnungsstrafe von 300 öS, weil zuviele Leute im Kleinbus
mitfahren.
Die grüne Grenze
im Wald, abseits von Orten und Menschen, ist am Donnerstag Ziel der GrenzcamperInnen.
Zwei Gruppen zu 10 und 15 Leuten wollen am Nachmittag versuchen, an verschiedenen
Stellen über die Grenze zu kommen. Mit den Soldaten soll diesmal freundschaftlich
und solidarisch kommuniziert werden - zu offensichtlich war am Vortag zu
erkennen, daß die etwa 18- oder 19jährigen Burschen mit wenig
Begeisterung ihren Dienst versehen. Die meisten wirkten eher offen und
interessiert an den Anliegen der EU-GegnerInnen - dies soll heute ausgenützt
werden, um politische Inhalte zu vermitteln, anstatt mit Provokationen
vor den Kopf zu stoßen.
Doch die 10er-Gruppe spaziert über zwei Stunden zwischen Rohrbach
und Loipersbach direkt an der grünen Grenze herum, ohne auf Grenzschutztruppen
zu treffen. Auffällig ist, daß der gesamte Wald auf österreichischer
Seite völlig von Unterholz gesäubert wurde. Wo auf ungarischer
Seite ein Dickicht verschiedenster Büsche und Gewächse vegetiert,
steht auf österreichischem Gebiet alle 50 Meter ein Grenzschutzhochstand
zwischen nackten Baumstämmen.
Die 15er-Gruppe versucht bei Siegendorf auf einem Forstweg an die Grenze
zu kommen. Nach ungefähr einem Kilometer werden sechs Leute von einer
Gendarmeriestreife aufgehalten und die Personalien aufgenommen. Der Rest
der Gruppe verzieht sich in den Wald und wird nicht kontrolliert. Nach
einer Stunde gibt die Gruppe die Suche nach der Grenze auf. Der richtige
Forstweg wurde nicht gefunden.
Straßentheater in Mattersburg
ist der Höhepunkt des Freitags, nachdem mittags schon Workshops und
Rollenspiele mit einer Vertreterin der Asylkoordination stattgefunden haben.
Diesmal wird der Ablauf der Aktion genau abgesprochen und gut vorbereitet.
Am Hauptplatz von Mattersburg, dem größten Ort in der Gegend,
lassen sich zwei Frauen, ein junger Mann und ein Baby nieder. Sie tragen
bunte, zerschlissene Kleider, spielen Gitarre und singen jüdische
Lieder; die jüngere der Frauen geht mit dem Baby im Tragetuch herum,
um Geld zu sammeln. Sie sind StraßentheaterdarstellerInnen; ebenso
die Bundesheertruppe, die jetzt den Platz quert und mit Megaphon lautstark
eine Personenkontrolle ankündigt. Die Theatersoldaten nehmen die offensichtlichen
Nicht-ÖsterreicherInnen mitsamt dem Baby fest und verlangen Arierausweise
von PassantInnen. Die Bevölkerung reagiert eher ablehnend, einige
Leute lassen sich auf Diskussionen mit den AktivistInnen ein. Von einigen
jungen Menschen gibt es positive Rückmeldungen.
Auch am Samstag, um 13.00 Uhr, bei der antirassistischen
Kundgebung am Grenzübergang Klingenbach
wird Straßentheater eingesetzt. Etwa 100 Menschen sind gekommen,
um die im Stau stehenden WochenendtouristInnen mit Flugblättern auf
den Grund der langen Grenzwartezeiten aufmerksam zu machen. Transparente
sind gut lesbar plaziert. Die im Schrittempo Vorbeifahrenden müssen
an zwei zugedeckten Toten vorbei (zwei Paar Schuhe und eine Plane genügen
zur täuschend echten Darstellung), neben denen auf einem Schild zu
lesen steht: "Bei der illegalen Einreise ums Leben gekommen". Einige Meter
weiter wird ein Soldat gefoltert; er hat einen Flüchtling übersehen.
Seine Kollegen schleppen derweil eine ärmlich aussehende Frau mit
einem kleinen Kind brutal die Straße entlang. Einer der Soldaten
reißt sich immer wieder die Uniform vom Leib, rennt davon und schreit:
"Ich mach nicht mehr mit bei dieser Scheiße! Ich will nicht mehr!"
Die Gendarmerie macht fast keinen Streß. Einige Male entstehen groteske
Situationen, als sich echtes Grenzpersonal mit TheatergrenzschützerInnen
vermischen: Echte stellen sich lässig neben den "Leichen" auf, von
wo sie vorher Unechte verwiesen haben, deren Aufgabe es war, stolz neben
den Leichen zu stehen. Sie sind somit in das Schauspiel voll integriert
und die Unechten sind frei um an anderer Stelle einem vermeinlichen Flüchtling
nachzujagen. Insgesamt war diese Geisterbahn für die Vorbeifahrenden
sicher ein beeindruckendes Schauspiel; die Flugblätter wurden von
fast allen Autoinsasen angenommen. Die Kundgebung dauerte bis 16.00 Uhr.
Da es sehr heiß war, entschlossen sich danach noch einige CamperInnen,
eine
Durchschwimmung des Stausees
in Forchtenstein, unweit des Grenzcamps, vorzunehmen. Nach dem Vorbild
der bereits 1995 in Wien vorgenommenen "Donaukanaldurchschwimmung", sprangen
etwa zehn teils nackte Leute mit Kleiderbündel auf dem Kopf ins Wasser
und riefen nach Asyl. Ihre Schreie wurden über das Wasser getragen,
sodaß es von allen Ufern aus gut zu hören war. Auf der anderen
Seite angelangt wurden sie von Uniformierten in Empfang genommen, niedergeprügelt
und in ein imaginäres Schubgefängnis gesteckt. In anschließenden
Diskussionen mit dem Publikum zeigte sich teils Verständnis für
die politischen Anliegen der AktivistInnen, insgesamt hielten die ortsansäßigen
Leute andere Ansätze als Grenzen dicht machen für utopisch. Ein
Mann schimpfte über die "Sexbelästigung", bevor er abzog.
Abends gibt es das große Abschlußplenum -- einer der wichtigsten
Beschlüsse ist es, eine Kampagne zur Entkriminalisierung von Fluchthilfe
in Angriff zu nehmen. Danach findet noch ein
nächtlicher Grenzspaziergang
statt. Neun Leute gehen etwa eine Stunde lang die grüne Grenze ab,
wo am Donnerstag kein Soldat zu sehen war. Auch diesmal treffen die CamperInnen
auf keine Kontrolle. Als sie jedoch zu den Autos zurückkommen, besucht
sie ein Bundesheerjeep. Nach Angaben der Grenzschützer, welche die
nächtlichen SpaziergängerInnen sofort auf ihre vollständige
Anzahl überprüfen, waren sie schon lange vorher per Nachtsichtgerät
entdeckt worden. Kurze moralische Apelle an die Soldaten erfolgen, danach
dürfen die CamperInnen ohne Personalienaufnahme fahren. Ein Gendarmerieauto
folgt ihnen noch bis Rohrbach.
Grenzen überschreiten
wollten aber am Sonntag, dem Abreisetag, doch noch einige. Mehrere Gruppen
zu je drei Leuten versuchen, von ungarischer Seite kommend, die Grenze
der Festung Europa illegal zu überschreiten. Über die Grenze
selbst zu kommen, stellt sich als einfach heraus, doch das Hinterland ist
gut überwacht. Das Ergebnis der Recherche ist deprimierend: nur einem
Drittel der Gruppen gelingt es, ohne Kontrolle bis Rohrbach zu kommen,
die anderen werden von Soldaten überprüft, aber unbehelligt weitergelassen.
aus: TATblatt nr. +102 (14/98) vom 24. september 1998
(c)TATblatt
alle rechte vorbehalten
Nachdruck, auch auszugsweise, nur in linken, alternativen
und ähnlichen medien ohne weiteres gestattet (belegexemplar erbeten)!
In allen anderen fällen nachdruck nur mit genehmigung
der medieninhaberin (siehe impressum)
[zum
TATblatt-inhaltsverzeichnis]