TATblatt


 
Buchrezension:
Reinhard Kühnl
Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten

Deutscher Faschismus

hobo

"Neben der Forderung eines Kolonialreiches" hieß es schon 1915, "muß Belgien wegen der Sicherung unserer Seegeltung (...) der deutschen Reichsgesetzgebung unterstellt werden". "Was Frankreich betrifft", tönte es weiter, "(...) muß der Ausweg zum Atantik als eine Lebensfrage (...) betrachtet werden". Und der Osten? "(...) Der im Westen zu erwartende große industrielle Machtzuwachs (muß) ein Gegengewicht durch ein gleichwertiges, im Osten zu erwerbendes Landwirtschaftsgebiet finden." Eine "großangelegte deutsche ländliche Besiedlung" müsse ermöglicht werden. (1)

Der erste Versuch, diesen Wünschen honorer Herren Rechnung zu tragen, war zwischen 1914 und 1918 fehlgeschlagen. 1931 wurde daher mit schon deutlicherem Vokabular verlangt: "Dann sollte es angehen, bis zu den Pripjetsümpfen und der Donaumündung unserem unerträglich zusammengedrängten Volk Lebensraum, Ackerland und Arbeitsgelegenheit zu geben." (2)

Als es dann endlich wieder so weit war, sahen sich alsbald selbst jene Herren zu dramatischen Apellen genötigt. "Die Situation ist so, daß wir in einem Krieg stehen, der um Sein oder Nichtsein nicht nur der Partei, sondern jedes einzelnen von uns geht. Wer sich darüber nicht klar ist, der sollte sich besinnen." Nicht aber etwa zum Aufgeben, zur Einsicht, zur Umkehr, sondern: "Aufrechterhaltung der Armee und Versorgung der Armee mit den besten Waffen!" Ein Versagen dabei würde bestraft, denn: "Unsere Regierung ist darin nicht zimperlich und sie wird denjenigen, der versagt, zur Rechenschaft ziehen, und zwar mit aller Schärfe. Und das ist nach meinem Dafürhalten auch richtig." (3)

Freilich dachten andere Köpfe aus der Riege der Bonzen noch nüchtener: "Es ist der Gedanke ausgesprochen worden, für die Vielzahl der einfachen, untergeordneten und primitiv erscheinenden Arbeiten nicht-volksdeutsche Arbeitskräfte zu verwenden, vielmehr sollen solche Arbeiten ausschließlich von Angehörigen sogenannter Hilfsvölker (vorwiegend Slawen usw.) ausgeführt werden." (4)

Von weniger honoren Herren, dafür aber solchen, die an vorderster Front mit dabei sein durften, stammen Zeilen aus Feldpostbriefen wie diese: 

"Einen Juden, der noch die Pistole bei sich trug, haben wir an Ort und Stelle umgelegt. So ist der Dienst zur Zeit sehr abwechslungsreich wie das Wetter ... " (5)

So mancher sollte sogar durch sein besonderes Engagement in die Geschichte eingehen: 

"Gelegentlich einer Dienstreise hatte mein Vertreter, der Hauptsturmführer Fritzsch, aus eigener Initiative Gas zur Vernichtung dieser russischen Kriegsgefangenen verwendet und zwar derart, daß er die einzelnen im Keller gelegenen Zellen mit den Russen vollstopfte und unter Verwendung von Gasmasken Zyklon B in die Zellen warf, und das den sofortigen Tod herbeiführte. (...) Beim nächsten Besuch Eichmanns berichtete ich ihm über diese Verwendung von Zyklon B; und wir entschlossen uns, bei der zukünftigen Massenvernichtung dieses Gas zur Anwendung zu bringen." (6)
 

Reinhard Kühnl, Politikwissenschafter an der Uni Marburg und Autor u.a. von Der Faschismus, Ursachen, Herrschaftsstruktur, Aktualität; Eine Einführung und Deutschland seit der französischen Revolution, Untersuchungen zum deutschen Sonderweg (vgl. Tb 14/96)  hat 380 Dokumente zusammengetragen, die in den Worten der AkteurInnen der Zeit den Aufstieg, das Wesen und das Wirken des deutschen Faschismus ins Licht rücken. Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten (7. Auflage; Erstauflage 1975) stellt damit eine unschätzbare Ressource bereit für die Diskussion von Fragen nach dem Nutzen des Faschismus für die herrschende Klasse, den ProfiteurInnen an Weltkrieg und Massenmord, nach seiner sozialen Zusammensetzung und seinen willfährigen VollstreckerInnen. Nicht unbeachtet bleiben aber auch die Versuche aus der ArbeiterInnenbewegung, dem System Widerstand entgegen zu setzen.

Die Gliederung der Dokumente folgt folgenden Schwerpunkten:

- Sozialökonomische und politische Voraussetzungen für Entstehung und Aufstieg des Faschismus
- Die faschistische Bewegung bis 1933
- Die Errichtung der Diktatur
- Die Wirklichkeit des faschistischen Systems
- Krieg und Massenmord
- Widerstand

"Deutschland hat - keineswegs zufällig - die bisher extremste und brutalste Form des Faschismus hervorgebracht", schickt Reinhard Kühnl einleitend voraus. Nach 1945 hätte Literatur zum Thema hauptsächlich Rechtfertigungscharakter besessen, und der Faschismus sei vorwiegend aus der Person Hitler zu erklären versucht worden. Zur Zeit des Kalten Krieges hätte die Totalitarismustheorie (vgl. TATblatt +125 (17/99)) an Einfluss gewonnen, die nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Staatensystems Dominanz in Politik und Wissenschaft erlangt hätte.

Dieser Entwicklung soll der vorliegende Band entgegenwirken. Das Buch will "keine neuen Forschunsergebnisse vorlegen, sondern das der Öffentlichkeit zugänglich und bewußt machen, was die Forschung über den deutschen Faschismus schon erarbeitet hat". Dazu bietet es authentisches Material in Form von Quellen und Dokumenten. Jedem der erwähnten sechs Kapitel ist eine kurze Einleitung vorangestellt, die den historischen Kontext umreißt. Seit der ersten Auflage hinzugekommen sind insbesondere Abschnitte über faschistische Frauenpolitik, besonderes Augenmerk legt Kühnl zudem auf die Rolle der Kirchen im faschistischen System. 

Damit ist der Band weit mehr als eine Zusammenstellung einzelner Dokumente. Vielmehr ergänzen sich die einzelnen Bausteine zu einem umfassenden Bild des nationalsozialistischen Systems in seiner Bestialität und Banalität. 

Eine unschätzbare Grundlage. 
 
 
 

Reinhard Kühnl
Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten
PapyRossa Verlag, 2000
540 Seiten; öS 184.- 

 
 

FUSSNOTEN:

(1) Aus Dokument Nr.8; Kriegszieldenkschrift der sechs größten Interessenverbände der Industrie und des Großgrundbesitzes an den Reichskanzler Th.v. Bethmann-Holweg vom 20. Mai 1915.
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(2) Aus Dokument Nr. 76; Schreiben des Konzernführers Hugo Stinnes an Hitler vom Juli 1931.
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(3) Aus Dokument Nr. 209; Rede des Geheimrats Dr. Bücher, Gerneraldirektor der AEG, auf der Fabriksdirektorensitzung der AEG vom 5. November1942.
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(4) Aus Dokument Nr. 230; Streng vertrauliche Denkschrift der Reichsgruppe Industrie vom 1. August 1940.
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(5) Aus Dokument Nr. 256; Feldpostbriefe und Geständnisse deutscher Kriegsgefangener.
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(6) Aus Dokument Nr. 257a; Aussagen von Rudolf Höß, Kommandant des KZ Auschwitz. 
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