TATblatt

LeserInnenbrief zur Antisemitismus-Debatte u.a. im MUND

(ging an www.ballhausplatz.at, MUND und TATblatt)
 

Auch du bist antisemitisch?

Von eineRm TATblatt-LeserIn

artikel und beiträge, die nur argumentieren und festhalten, was alles NICHT antisemitisch ist, leisten keinen beitrag zur aufarbeitung des antisemitismus. daher soll in der folge anhand einiger fakten dargestellt werden, wie tief antisemitismus hierzulande verwurzelt ist - auch in linken, fortschrittlichen und feministischen bewegungen

seit wochen wird im internet-nachrichten-dienst mund diskutiert, ob und inwieweit antisemitismus vorhanden ist, bzw. was antisemitismus und antisemitisch bedeuten.

fast alle österreicherInnen haben antisemitische denk-, sprach- und handlungsmuster (auch fast alle ballhausplatz.at-leserInnen und mundleserInnen) - ein erster schritt zur aufarbeitung wäre die auflistung von antisemitismen auf allen ebenen und nicht die leugnung oder verdrängung. daher scheint es mir notwenig, folgende fakten an dieser stelle nochmals darzustellen.

 * antisemitismus hat in österreich eine lange, bis heute anhaltende tradition (vom mittelalter, dem kirchlichen antisemitismus, über den politischen antisemitismus bis zum rassischen antisemitismus und der ermordung von millionen jüdinnen/juden)

 * der antisemitismus in österreich nach 1945 (nach der ermordung von 65.000 österreichischen juden/jüdinnen, nach der vertreibung fast aller anderen österreichischen juden/jüdinnen, nach der industriellen ermordung von millionen juden/jüdinnen, nach dem raub des jüdischen eigentums in österreich) hat eine eigene ausprägung

 * antisemitismus gibt es in österreich in allen staatlichen stellen und in allen staatlichen institutionen, bis in die regierungsebene

 * antisemitismus gibt es in den österreichischen massenmedien bis hin zum orf

 * antisemitismus gibt es in österreich in allen gesellschaftlichen schichten und gruppierungen auch in den linken, autonomen und feministischen gruppierungen

 * antisemitische sprach- und denkmuster werden von klein auf, im kindergarten und schule tradiert, in den familien weitergegeben, mit hilfe des österreichischen antisemitischen nicht sichtbaren grundkonsens weitervermittelt, in pear-groups, im freundInnenkreis bestärkt und bestätigt, ... mit nicht sichtbaren sprachmustern - in der alltagssprache - fast tagtäglich untermauert ...

 * alle österreicherInnen (ausgenommen jene, die sich mit antisemitismus auseinandergesetzt haben und die ihre eigenen antisemitismen bewußt tiefgreifend und umfassend aufgearbeitet haben) haben antisemitische denk-, sprach- und handlungsmuster

 * fast alle österreichischen familien haben von den arisierungen profitiert oder waren für die nürnberger rassengesetze und für die ausgrenzung der jüdinnen/juden

 * fast alle österreichischen familien sind somit profiteurInnen von den arisierungen oder moralisch mitschuldige an der ermordung der 65.000 österreichischen jüdinnen/juden und der vertreibung der anderen österreichischen juden/jüdinnen

 * staatlicherseits wurde und wird die mitschuld am antisemitismus und der ermordung geleugnet (österreich war nur das erste opfer des nationalsozialismus und nicht auch großteils täter), persönlich und familiär wird die mitschuld ebenfalls verharmlost und geleugnet (wir haben nichts gewußt, wir haben alle gelitten, wir sind auch ausgebombt worden, schaut was in israel passiert, was kann ich dafür, ich bin erst nach 1945 geboren)

 * die verzahnung der staatlichen schuld, mitschuld und leugnung über hunderte jahre antisemitismus und die familiäre/ persönliche schuld, mitschuld und leugnung am antisemitismus und der ermordung der österreichischen juden/jüdinnen hat die österreichische gesellschaft tiefgreifend und nachhaltig geprägt. der antisemitismus sitzt so tief verankert, daß er staatlicherseits und persönlich nicht wahrgenommen wird, verdrängt wird, geleugnet wird unter rassismus subsumiert wird.

 * die gleichung, autonome, linke und feministische bewegungen haben immer schon gegen faschistische bewegungen und ideologien gekämpft, daher haben sie auch immer schon - gleichsam automatisch - gegen antisemitische ideologien, sprach-, denk- und handlungsmuster gekämpft, ist grundfalsch. (der spanische und italienische faschismus war lange nicht so antisemitisch wie teile der polnischen untergrundbewegung.)

 * die gleichung, ich bin in einer linken, autonomen oder feministischen bewegung, daher bin ich nicht antisemitisch, ist ebenso grundfalsch

 * nochmals: alle österreicherInnen (die sich nicht mit antisemitismus auseinandergesetzt haben und ihre eigene antisemitismen nicht tiefgreifend aufgearbeitet haben) haben weiterhin antisemitische denk- und sprachmuster, bedingt durch die staatliche und familiäre verzahnung von hunderten jahren antisemitismus in österreich in den unterschiedlichsten ausprägungen.

 die auseinandersetzung ob, wieweit, wie tiefgreifend und wie durchgehend der antisemitismus in österreich vorhanden ist, verläuft entlang eines grabens. auf der einen seite juden/jüdinnen und menschen, die sich mit antisemitismus (auch ihrem eigenen) auseinandergesetzt haben, auf der anderen seiten menschen, die sich linken, autonomen, feministischen bewegungen und gedankengut verbunden fühlen.

 die einen versuchen andauernd zu erklären was alles antisemitisch ist und wie tiefgreifend antisemitismus vorhanden ist, die anderen versuchen zu argumentieren was alles nicht antisemitisch ist (israel zu kritisiseren ist doch nicht antisemitisch, einen jüdischen nationalstaat abzulehnen ist doch nicht antisemitisch, überlegungen, ob jüdinnen/juden ein volk sind, sind doch nicht antisemitisch, solidarität mit palästinenserInnen ist doch nicht antisemitisch, antisemitismus unter rassismus zu subsumieren ist doch nicht antisemitisch und hat nichts mit verdrängung zu tun, antizionist sein heißt doch nicht antisemit zu sein, usw.) ...

 ein schritt zur aufarbeitung von antisemitismus wäre, festzuhalten, was alles antisemitisch ist, und wo eigene anteile vorhanden sind. ich fordere und bitte alle leserInnen dieses artikels, aufzuschreiben und aufzuzeigen, was alles antisemitisch ist, wo ihnen versteckter und latenter antisemitismus in der eigenen familie, in den "eigenen reihen", in der alltagssprache und nicht zuletzt bei sich selbst auffällt.

 artikel und beiträge, die nur argumentieren und festhalten, was alles nicht antisemitisch ist, und warum dieses und jenes nicht antisemitisch ist, leisten keinen beitrag zur aufarbeitung des antisemitismus.

 antisemitismus kann nur aufgearbeitet werden, wenn zunächst festgehalten wird, wo er überall vorkommt, wie tief er in den staatlichen institutionen sowie in linken, fortschrittlichen und feministischen bewegungen vorhanden ist, wie tief er in den eigenen familien und bei sich selbst verankert ist, wie er transportiert wird, wie er geleugnet und verdrängt wird. dies wäre ein erster schritt, antisemitismus sichtbar, spürbar und erlebbar zu machen und den scheinbar unüberbrückbaren, über jahrhunderte gepflegten und tiefer und tiefer gegrabenen antisemitischen graben zu überwinden.
 

aus TATblatt +153, S. 9
 
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