Nachtmarsch
"Auf beiden Unterarmen trugen sie die Tätowierung
deutscher Buchführung."
hobo
"Im Mai waren sie da, als Deutschland kapitulierte und sich russische
und amerikanische Soldaten an der Elbe trafen. In dieser Nacht waren die
Straßen (...) voller jubelnder Menschen. Soldaten und Mädchen
bevölkerten die Lokale (...), und alle umarmten sich und lachten -
bis auf die Juden, die die kalte, ernste Tatsache mit sich herumtrugen,
dass der Krieg noch nicht vorbei war, auch nie vorbei sein würde,
dass lediglich eine neue Kampfphase begonnen hatte."
1939 lebten 200.000 Menschen in Wilna (Litauen), ein Drittel davon waren Juden und Jüdinnen. Diese jüdische Gemeinde zerfiel in rivalisierende Gruppen: ZionistInnen, KommunistInnen, BundistInnen, Orthodoxe und assimilierte, sogar eine Gruppe mit deutlich faschistischen Zügen warb um AnhängerInnen.
Im Juni 1940 marschierten russische Truppen kampflos in Wilna ein. Die jüdische Bevölkerung sah sich gezwungen, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen, und sich damit die Möglichkeit zur Ausreise nach Palästina zu verwirken. Dutzende Juden und Jüdinnen wurden wegen ihrer Weigerung vom NKWD verhaftet. Doch schon ein Jahr später ergriffen die sowjetischen Truppen vor den deutschen die Flucht. Sofort nach deren Einmarsch wurden jüdische Politiker, Professoren und Rabbiner verhaftet, Sondergesetze erlassen: JüdInnen mussten den gelben Stern tragen, eine Ausgangssperre und das Verbot, die Gehsteige zu benützen, wurden verhängt. In den frühen Morgenstunden des 6. September 1941 drangen SS-Männer in jüdische Wohnungen ein. Die BewohnerInnen hatten zehn Minuten Zeit, das Notdürftigste zusammenzupacken, dann wurden sie unter dem Geifer der nichtjüdischen Bevölkerung in das ehemalige (mittelalterliche) Ghetto getrieben. Dieses bestand aus sechs engen Gässchen, in denen vor dem Krieg etwa tausend Menschen gelebt hatten. Jetzt würden es dreißigtausend sein. Das Ghetto wurde abgeriegelt, über einem Tor prangte das Schild: "Pest! Betreten verboten!"
Immer wieder erhielt der im Ghetto eingerichtete Judenrat Befehl, mehrere tausend Menschen für angebliche Arbeitseinsätze im Osten bereitzustellen. Litauische Soldaten veranstalteten daraufhin Treibjagden im Ghetto, bis Dezember war die EinwohnerInnenzahl auf die Hälfte geschrumpft.
Gleichzeitig aber hatten Mitglieder der Jungen Garde, einer zionistischen Jugendorganisation, einen Kurierdienst aufgebaut, der unter Lebensgefahr Nachrichten und Vorräte ins Ghetto schmuggelte. So gelang auch die Nachricht vom Wald bei Ponar, unweit von Wilna, in das Ghetto: der Ort der Massenerschießungen aller aus dem Ghetto Deportierten. Und zum Jahreswechsel 1941/42 sprach ein Anführer der Jungen Garde aus, was viele noch nicht wissen wollten oder begreifen konnten: Hitler hat die Absicht, alle Juden in Europa zu vernichten, und die Juden Litauens machen den Anfang. Das war das Signal zur Gründung einer Widerstandsgruppe innerhalb des Ghettos.
Im Frühjahr 1942 umfasste die Gruppe bereits an die hundert Mitglieder, und fünf Monate nach ihrer Gründung verübte sie den ersten Akt jüdischer Sabotage im von den Nazis besetzten Europa: ein deutscher Nachschubzug an die Ostfront wurde mit einer selbstgebastelten Bombe in die Luft gejagt. Bis zum Februar 1943 - Stalingrad hatte gerade die Kriegswende herbeigeführt - konnte die Gruppe über ein Dutzend erfolgreicher Anschläge für sich verbuchen. Gleichzeitig aber wurde die Lage im Ghetto immer prekärer. Insbesondere Angst vor Vergeltungsaktionen der Deutschen brachte die Stimmung gegen die Widerstandsgruppe auf, sodass sich ihre dreihundert Mitglieder im Juli 1943 gezwungen sahen, das Getto zu verlassen und sich russischen, polnischen und litauischen PartisanInnen in den Wäldern östlich von Wilna anzuschließen. Von dort aus wurde der Untergrundkampf mit erbarmungsloser Brutalität weitergeführt. Die jüdischen KämpferInnen wurden von den PartisanInnen mit Misstrauen bedacht, sie wurden in Gefahr im Stich gelassen und mussten damit rechnen, von gefangenen PartisanInnen oder der Bevölkerung an die Deutschen verraten zu werden. Demgemäß prägte der Krieg auch ihr Denken und Handeln. Vor allem aber wurden sie wegen ihrer Jüdischheit missachtet, und selbst Untergrundzeitungen, die die HeldInnentaten der PartisanInnen priesen, ließen die jüdischen Brigaden unerwähnt.
Selbst nach der Rückeroberung Wilnas durch die Rote Armee im Juli ´44 und gegen das sich abzeichnende Kriegsende hin sahen sich die jüdischen PartisanInnen allerorts mit Antisemitismus und Ressentiments konfrontiert. Es war die Zeit der Bricha, der Massenflucht (!) jüdischer Überlebender des Holocausts aus Europa nach Palästina. Im Sommer 1945 lebten in ganz Europa nicht einmal mehr eine Million jüdische Menschen, selbst sie waren aber ständigen Angriffen ausgesetzt, die in den ersten Jahren nach 1945 eintausendfünfhundert das Leben kosteten. Die ehemaligen PartisanInnen organisierten nun Transporte und Stützpunkte für die Flüchtenden.
Darüber hinaus aber war es für viele Juden und Jüdinnen
an der Zeit, den Kampf aus dem Ghetto fortzuführen. Aus der Brigade
jüdischer PartisanInnen entstand die Gruppe Nakam (hebräisch:
Rache), deren letztendlich zur Ausführung gelangender Plan die Vergiftung
von mehreren tausend Nazis in einem amerikanischem Anhaltelager bei Nürnberg
vorsah. Zu diesem Zweck wurde Arsen nach Nürnberg geschmuggelt und
in der Bäckerei des Lagers Brot damit bestrichen. Der Plan scheiterte
allerdings, unter den Nazis waren damals keine Todesopfer zu beklagen.
Rich Cohen schildert in seinem Buch Nachtmarsch die schier unglaubliche Geschichte der jüdischen Widerstandsgruppe aus dem Wilnaer Ghetto. Er selbst lernte die Geschichte in Israel kennen, durch Erzählungen von drei Gründungsmitgliedern der Gruppe: Abba Kovner, Ruzka Korcak und Vitka Kempner. Diese begleitet er literarisch durch die oben beschriebenen Stationen ihres Kampfes, dessen Sinn Ruzka in einem kurzem Satz zusammenfasst: "Für uns waren Revolte uns Rettung ein und dasselbe." Gleichzeitig aber warnt sie davor, über kämpfende und nicht kämpfende Opfer des Holocausts zu urteilen, "es wäre falsch".
Nichtsdestotrotz ist Nachtmarsch eine Geschichte über den Holocaust, wie sie bisher nur sehr vereinzelt zu hören war. Der Satz, "Geht nicht wie die Schafe zur Schlachtbank.", wird Abba Kovner zugeschrieben, und tatsächlich wurde ihm sein Kampf- und Widerstandsgeist nach dem Krieg in Israel mit viel Anerkennung gedankt. Anders sah es die Staatsanwaltschaft Nürnberg, die noch im Frühjahr dieses Jahres, nach einem TV-Bericht zum Thema, zum wiederholten Male Ermittlungen gegen Mitglieder von Nakam anstellte: wegen Mordversuchs im Falle der Plan B genannten Brotvergiftungsaktion.
Der Klappentext nennt die Geschichte von Abba, Ruzka und Vitka eine "ungewöhnliche Liebe in Zeiten des Krieges", und tatsächlich konnten die drei auf eine wahrscheinlich nicht alltägliche Dreiecksbeziehung zurückblicken. Jedoch tritt dies überhaupt nur durch die enge Anlehnung des Autors an ihre Lebensgeschichten an wenigen Stellen in den Vordergrund. Von einer Liebesgeschichte kann angesichts der unmenschlichen Überlebensbedingungen und der schonungslosen Entscheidungen, die sie den Menschen abverlangt haben, nur bedingt die Rede sein. Der Autor Rich Cohen wird diesen Umständen durch eine oft kompromisslos nüchterne Sprache gerecht, die von literarischen Ausschmückungen absieht, wo es nichts auszuschmücken gibt.
In diesem Sinne ist Nachtmarsch auch keine HeldInnengeschichte, dem
stehen schon allein die differenzierten Betrachtungen der unterschiedlichen
Überlebensstrategien im Ghetto - Kollaboration oder Widerstand - und
ihre jeweiligen Hintergründe entgegen. HeldInnen sind die drei Hauptfiguren
der Geschichte vielmehr auf jene Art, wie sie Rich Cohen in einem Interview
beschrieb: "Ich würde sogar sagen, dass Abba, Vitka und Ruzka nicht
des Holocausts bedurften, um ihn zu widerstehen."
Rich Cohen
Nachtmarsch
Eine wahre Geschichte von Liebe und Vergeltung
S. Fischer Verlag, 2000
352 Seiten; ca. öS 280.-
aus TATblatt +153, S. 10–11
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