EU-Gipfel in Nizza
Independent Media Center/Nizza, TATblatt
Mittwoch, 6. Dezember:
Am Tag vor der Eröffnung des EU-Gipfels in Nizza versammelten sich 70.000 Personen zu einer Demonstration in der französischen Stadt. Die Mehrzahl der DemonstrantInnen sammelten sich unter der Fahne der Europäischen Konföderation der Gewerkschaften (ECU/CES). Außer GewerkschaftsmitgliederInnen gab es noch Arbeitslosenverbände, ImmigrantInnen, UmweltaktivistInnen, kommunistische und anarchistische Gruppen, autonome Gruppen, kurdische und türkische AktivistInnen, Frauenkollektive, baskische und korsische AktivistInnen etc.
Ursprünglich waren zwei verschiedene Demonstrationen geplant: die Gewerkschaften auf der einen Seite, die GlobalisierungsgegnerInnen, Arbeitslosenverbände, ATTAC, progressive und linke Parteien etc. auf der anderen. Schließlich lief es so, dass beide sich in letzter Minute vereinten, auch wenn ihre Themen nicht dieselben waren. Tatsächlich unterstützt die ECU/CES die Annahme der Charta der Fundamentalen Rechte, kritisiert aber deren Schwäche, während das Kollektiv für den Gegengipfel (in dem zahlreiche Gruppen vertreten sind) diese Charta ablehnt. Die vom Bürgermeister von Nizza (einem Ex-Mitglied der faschistischen Front National) genehmigte Demoroute war nicht lang genug. Daher packten die GewerkschafterInnen bereits ihre Transparente ein und meinten, sie hätten ihre Sache gut gemacht, als das Ende der Demo gerade die erste Schritte machte. Diese Demonstration lief ruhig ab und die meisten GewerkschafterInnen kehrten nach der Demo wie geplant in ihre Heimatländer zurück (mit dem Flugzeug).
So wie in Prag waren hunderte ItalienerInnen für die Teilnahme
an der Demonstration in Nizza mobilisiert. So wie nach Prag nahmen sie
den "Global Action Express" für die Reise. Wie in Prag wurden die
1500 ItalienerInnen von Ya Basta, Tuti Binachi, Rifondazione Communista
an der Grenze aufgehalten. Trotz des Protests der italienischen Behörden
verweigerten die französischen Behörden, geschützt von Riot-Polizei,
den ItalienerInnen die Einreise. Unbeeindruckt versuchten einige, zu Fuß
die Grenze zu überschreiten. Die AktivistInnen wurden in der italienischen
Grenzstadt Vintimille aufgehalten, wo sie gegen 0.30 Uhr ankamen. Da der
Bahnhof von Carabinieri umstellt war, schliefen die italienischen AktivistInnen
im Zug. Sie besetzten auch noch einen anderen Zug, um etwas mehr Platz
zu haben. Am nächsten Tag, nach einigen Diskussionen, verließen
die DemonstrantInnen den Bahnhof gemeinsam, um beim französischen
Konsulat Visa zu beantragen. Die italienische Polizei griff sofort an und
es kam zu recht heftigen Kämpfen. Als Reaktion auf die Blockade des
Zugs in Vintimille besetzten in Nizza Tausende von DemonstrantInnen den
Hauptbahnhof und forderten die Öffnung der Grenze für die italienischen
AktivistInnen. Die Riot-Polizei (CRS) reagierte, indem sie die DemonstrantInnen
angriff und sie aus dem Bahnhof warf. Danach gab es ein paar Zusammenstöße
im Stadtzentrum von Nizza.
Donnerstag, 7. Dezember
Am Donnerstag bewegten sich tausende DemonstrantInnen im Morgengrauen auf die Acropolis, das Konferenzzentrum, zu, um die Eingänge zu blockieren. Ungefähr 5-6000 Leute bildeten verschiedene Großgruppen, um die GipfelteilnehmerInnen und die zahlreichen sie beschützenden PolizistInnen zu belästigen. Die Ankunft der Staatsoberhäupter in der Acropolis wurde eigentlich nicht gestört. Im Gegensatz dazu wandelte sich auf den Straßen die Ruhe des Vortages zu recht gewalttätigen Konfrontationen mit Sicherheitskräften. Der Straßenverkehr wurde in vielen Stadtteilen blockiert. Die DemonstrantInnen wurden angegriffen und griffen ihrerseits die überall vorhandenen Polizeisperren um die Sicherheitszone des Gipfels an. Die Wolken von Tränengas über Nizza erreichten ein solches Ausmaß, dass das Aircondition-System der Acropolis das Tränengas ansaugte und offenbar brachte das Präsident Chirac zum Niesen. Es gab Kämpfe, Banken brannten, Scheiben wurden eingeworfen. Es gab auch einige Festnahmen. Die DemonstrantInnen erreichten ihr Ziel nicht, weil das Konferenzzentrum zu gut bewacht war. Die 2000 europäischen DelegiertInnen wurden gut bewacht. Neben der Präsenz von verschiedenen aus ganz Frankreich zusammengezogenen Polizeieinheiten (und Armeeeinheiten) gab es auch Interventionsteams, die auch für Einsätze im Wasser und in der Luft ausgerüstet waren, falls es Personen gelingen sollte, auf diesen Wegen in die Sicherheitszone vorzudringen. Nach den Ereignissen am Morgen zogen sich viele Leute zum Gymnasium Leyrit zurück, dem Zentrum des Gegengipfels. Später wurde das Gymnasium mit der freundlichen Hilfe der Polizei von 2000 Personen befreit, weil die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern die Räume beschoss.
Donnerstagmorgen hat auch die Versammlung der NGOs und der europäischen
Verbände, genannt der "Scheideweg der bürgerlichen Gesellschaft",
in Nizza stattgefunden, um zu diskutieren, wie auf eine wirkliche europäische
Verfassung hingearbeitet werden kann, die nicht nur eine bloße Erklärung
von Prinzipien ist. Dieses Treffen verabschiedete einen Antrag in dem das
Vorgehen der französischen Behörden gegenüber dem Zug der
italienischen AktivistInnen als "anti-europäisch" verurteilt wird.
Am Nachmittag konfrontierten einige AntifaschistInnen die Sicherheitskräfte
der Nazipartei von Le Pen (Front National), die mit der Zustimmung des
Stadtrats eine Versammlung organisiert hatte. Die Polizei war nicht mehr
da, und ein Antifaschist wurde dabei schwer verletzt. Es gab auch eine
Demonstration europäischer FöderalistInnen. Eine Gruppe junger
Föderalisten machte ein Sit-in, das von der Riot-Police (RCS) gewaltsam
unterdrückt wurde - gerade eine Viertelstunde nachdem die europäischen
Staatsoberhäupter die berühmte Charta der Grundlegenden Rechte
angenommen hatte, gegen die sich die Demonstrationen der letzten beiden
Tagen richteten. Ebenfalls am Nachmittag gab es eine Stinkbombenaktion
von autonomen AktivistInnen (Banken, Supermärkte, Buffalo Grill),
um "den Leuten konkret zu zeigen, was in dieser Welt stinkt". Die Ziele
dieser Aktion mussten evakuiert werden. Am Abend fuhren viele DemonstrantInnen
nach Hause und versuchten, durch die Polizeiketten um den Bahnhof von Nizza
zu gelangen. Andere organisierten eine allgemeine Versammlung in der Aula
des Gymnasiums Leyrit, die offenbar nach der Räumung am Nachmittag
von anderen DemonstrantInnen wieder besetzt worden war.
Weitere Informationen:
Im Zusammenhang mit der Bewegung, zum EU-Gipfel nach Nizza zu fahren, wurden in Frankreich mehrere Kollektive gegründet, um mit kostenlosen Zügen anzureisen. In mehreren französischen Städten (Paris, Nancy, Dijon, Lille, Lyon, Bordeaux, Montpellier, Toulouse...) versammelten sich daher Leute, um gemeinsam zu fahren. Behörden und PolitikerInnen reagierten darauf mit Polizeiaktionen: Gleise wurden blockiert und Räumungsaktionen der Polizei, Verhandlungen wegen niedriger Fahrpreise, Leibesvisitationen, Polizeiangriffe, Verletzungen und Festnahmen. Nachdem es große Unterkunftsprobleme für die DemonstrantInnen gab, wurden die besetzten Häuser in Nizza geöffnet. Ein besetztes Haus wurde von der Polizei geräumt. In der Nacht vom 6. auf den 7. Dezember übernachteten DemonstrantInnen in der Aula des Gymnasiums Leyrit, in der der Gegengipfel tagen sollte. Es wurden ca. 60 Festnahmen gezählt (nach dem belgischen öffentlichen Rundfunk waren es 30). Verletzte gab es sowohl bei den DemonstrantInnen wie bei der Polizei. In mehreren europäischen Städten kam es zu Solidaritätsaktionen.
aus: TATblatt +156/157 S. 2
>> TATblatt-Inhaltsverzeichnis | >> Widerstandschronologie (Wien) | >> weitere aktuelle Meldungen |
©TATblatt
Alle Rechte vorbehalten
Nachdruck, auch auszugsweise, nur in linken, alternativen
und ähnlichen Medien ohne weiteres gestattet (Quellenangabe undBelegexemplar
erbeten)!
In allen anderen Fällen Nachdruck nur mit Genehmigung
der Medieninhaberin (siehe Impressum)