In den Niederlanden besteht ab nun durch Gesetz die Möglichkeit, mit
ärztlicher Sterbehilfe legal das Leben zu beenden. Drei Jahrzehnte haben
PolitikerInnen, Verbände und Öffentlichkeit diskutiert, ob jedeR das
Recht erhalten soll, selbst über den aktiven Schritt aus diesem Leben zu
entscheiden.
Auch ohne gesetzliche Regelung wird in Belgien bereits jede zehnte Person
frühzeitig zum Tode befördert, und in nicht geringem Ausmaß
ohne Wissen und Zustimmung des/der PatientIn. Die Ergebnisse der Untersuchung
über Belgien führten jedoch dazu, dass trotz des Legalisierungsschrittes
in den Niederlanden die Ablehnung in anderen Ländern eher zu- als abgenommen
hat.
TATblatt
In den letzten Jahren war Sterbehilfe in den Niederlanden unter bestimmten Voraussetzungen geduldet worden. Die Grauzone soll nun verschwinden. "Unerträgliches Leid und Aussichtslosigkeit auf Heilung" sollen die alleinigen Maßstäbe für zulässige Hilfestellung sein, aus dem Leben zu scheiden. Der Tod eines prominenten Ex-Politikers Senator Edward Brongersma hatte die öffentliche Debatte zuletzt noch einmal entfacht. Das 86 Jahre alt gewordene frühere Mitglied des Parlaments hatte sein Leben mit ärztlicher Hilfe beendet. Richter billigten später, dass dem allein stehenden Mann die gewünschte Unterstützung gewährt worden war. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft befasst sich jetzt aber die Berufungsinstanz mit dem Tod von Brongersma. Die Richter und der Arzt argumentierten, dass der Politiker nach gescheitertem Selbstmordversuch seelisch litt und mit dem Leben nicht fertig wurde. Das reicht der Justiz aber nicht, um gut zu heißen, dass der Arzt ihm den "Giftbecher" reichte. Der alte Mann war nicht krank und hätte im eigenen Haus ohne finanzielle Not weiterleben können, sagt der Staatsanwalt.
Die Grenzen der Diagnose verschwimmen zusehends. Lebensüberdruss und allein die Aussicht, nicht mehr auf würdige Weise dem Tod begegnen zu können, gelten nun - entgegen erster Absicht der Regierung - nicht mehr als rechtlich zulässige Gründe für aktive Sterbehilfe. Allerdings wird psychisches Leid anerkannt: Auch bei beginnender Alzheimer-Erkrankung soll der Patient nach der jetzigen Regelung Hilfe suchen dürfen.
Die von Kirchen sowie christlichen Parteien und Organisationen weiterhin abgelehnte Regelung verzichtet auch auf einen anderen Aspekt, der sehr kontroverse Stellungnahmen ausgelöst hatte: Ohne Zustimmung ihrer Eltern und der ÄrztInnen sollen Kinder nun doch nicht mehr die Beendigung ihres Lebens beantragen dürfen. Zunächst hatte man geplant, schon Zwölfjährige entscheiden zu lassen.
Auch wenn das Gesetz im Gesetzbuch steht, wird in den Niederlanden die Euthanasie-Debatte nicht enden. Gesundheitsministerin Els Borst hatte noch zuletzt abgelehnt, generell das Recht auf den viel zitierten "guten Tod" ohne Wenn und Aber einzuräumen. Die Gesellschaft habe dieses Thema nicht ausreichend erörtert, meinte sie im Parlament. Ob und wann der Gesetzgeber doch noch eine solche Möglichkeit zulässt, ist nicht abzusehen.
In Kommentaren wird davor gewarnt, dass die rechtliche Regelung auf Dauer in eine Art "praktische Alternative für eine mühsam gewordene Existenz" abgleiten könnte, im Klartext die Entledigung von Sozialfällen. GegnerInnen sprechen daher von "Nazimethoden". Euthanasie-GegnerInnen - denn als Euthanasie wird das auch in den Niederlanden betrachtet - fürchten, künftig könnten auch missliebige PatientInnen getötet werden.
Das Abgeordnetenhaus nahm die Gesetzesvorlage mit 104 zu 40 Stimmen an. Neben mehreren kleineren calvinistischen Parteien waren auch die oppositionellen ChristdemokratInnen (CDA) gegen das Gesetz. Dagegen begrüßte die mitregierende liberale Partei D66 die Legalisierung der Sterbehilfe als wichtigen Schritt nach vorn. "Dieses Gesetz ist für Leute, die unter großen Schmerzen leiden, keine Hoffnung auf Heilung haben und in Würde sterben möchten", sagte der Abgeordnete Thom De Graaf. Die Königlich-Niederländische ÄrztInnenvereinigung begrüßte das neue Gesetz und sagte, mit dem Gesetz werde die seit 20 Jahren praktizierte Sterbehilfe formell anerkannt.
Nach Angaben von Sterbehilfe-Organisationen haben niederländische ÄrztInnen im vergangenen Jahr 2.216 PatientInnen geholfen, ihr Leben zu beenden. Rund 90 Prozent der betroffenen PatientInnen litten unter Krebs. Doch die tatsächliche Zahl der Sterbehilfe-Fälle liegt wohl höher, da nach einer offiziellen Untersuchung 60 Prozent der Fälle aus Angst vor Strafverfolgung nicht der Gerichtsmedizin gemeldet werden.
Tödliche Medizin
Obwohl in Belgien Sterbehilfe gesetzlich nicht erlaubt ist, sterben dort schon jetzt 10% aller Todesfälle einen Euthanasietod durch ärztliches Nachhelfen. Ausgegangen wurde von einer vergleichbaren Untersuchung in den Niederlanden. Die Studie wurde in Flandern für den Zeitraum Jänner bis April 1998 durchgeführt und zeitigte überraschende Ergebnisse. Hochgerechnet von einer Stichprobe von annähernd 2.000 Todesfällen auf die gesamte Bevölkerung und auf das volle Kalenderjahr ergibt sich, dass in Belgien mehr als 700 Menschen (1,3% der Todesfälle) direkt auf Aufforderung euthanasiert oder von ÄrztInnen beim Selbstmord assistiert werden. Bei 1.800 Todesfällen (3,2%) wurden tödliche Medikamente ohne Ersuchen des/der PatientIn verabreicht, in 5,8% bzw. 3.200 Todesfällen wurde medizinische Betreuung ohne Ausdruck des Willens des Betroffenen zurückgehalten.
Dazu kommen vereinzelte Todesfälle, die durch das Pflegepersonal beschleunigt wurden, sowie bei 16,4% der Todesfälle Entscheidungen von ÄrztInnen eine laufende Behandlung nicht fortzusetzen. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sogenannte "Ende des Lebens"-Entscheidungen laufend getroffen werden, obwohl sie in Belgien nicht legal sind, und etwa genauso häufig sind wie in den Niederlanden, wo sie bisher halblegal geduldet wurden. Die Verabreichung von tödlichen Arzneimitteldosen ist ebenso häufig wie in Australien, wo dieses seit 1996 legal ist.
Allerdings fragen sich die StudienautorInnen der Universität Brüssel, warum in Belgien und Australien signifikant mehr ÄrztInnen als in den Niederlanden das Leben von PatientInnen absichtlich verkürzen, obwohl es keine Aufforderung von diesen dazu gibt.
Eine Antwort könnten Beschwerden von ÄrztInnen in Australien sein, die beklagen, dass sie von Verwandten Schwerkranker häufig gedrängt würden, deren Leben ein Ende zu setzen.
Ablehnung
In Österreich sind sich alle Parteien einig. Die FPÖVP hat sich in ihrem Regierungsprogramm eindeutig festgelegt: Aktive Sterbehilfe soll hier zu Lande nicht legal werden. Im Kapitel 5 (Gesundheit) heißt: "Jeder Schritt in Richtung Sterbehilfe wird entschieden abgelehnt. Vielmehr soll ein Plan für den Ausbau des Hospizwesens und der Palliativmedizin (Schmerzmedizin) entwickelt werden".
Auch SPÖ und Grüne lehnen jede Form der Sterbehilfe strikt ab. Die grüne Behindertensprecherin Theresia Haidlmayr warnte in Zusammenhang mit der Sterbehilfe in den Niederlanden einmal vor einem "ethischen Dammbruch".
Die Entscheidung in den Niederlanden könnte jedoch eine neue Diskussion auch in Österreich entflammen. Die letzte veröffentlichte Umfrage zu diesem Thema liegt zwar schon rund ein Jahr zurück, das Ergebnis war jedoch deutlich. In einer "profil"-market-Umfrage (August 1999) sprachen sich 69 Prozent der ÖsterreicherInnen für die Legalisierung einer kontrollierten Sterbehilfe durch ÄrztInnen für unheilbar kranke Personen aus. 19 Prozent waren dagegen. Bei den Männern lag der Anteil der Befürworter sogar bei 76 Prozent. Von den befragten Frauen sprachen sich 63 Prozent für eine neue Regelung zur Legalisierung der Sterbehilfe aus.
Trotz der eindeutig nazistischen Tradition von Euthanasie in Österreich mit einer spezifischen Note aus heuchlerischem Mitleid und unverblümten Gaskammerdenken sollten solche Ergebnisse nicht unbedingt als Wahrheit begriffen werden. Auch die Mehrheit der Deutschen ist angeblich für aktive Sterbehilfe. Dies ergab eine im Oktober vorgestellte Umfrage, die ausgerechnet die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) in Auftrag gegeben hatte, womit die Interessenslage solcher Befragungen klar hervortritt. Der Umfrage zufolge befürworten angeblich 68 Prozent der Deutschen aus moralischen und ethischen Gründen die Gewährung von aktiver, direkter Sterbehilfe durch einen Arzt, wenn ein todkranker Patient diesen mehrmals darum gebeten habe, sagte DGHS-Präsident Karlheinz Wichmann. 20 Prozent der Befragten hätten dies abgelehnt, zwölf Prozent seien ohne konkrete Meinung gewesen. Befragt wurden 1.002 Erwachsene.
Die British Medical Association hat jedenfalls in einer Konferenz zum Thema in einhelligem Konsens festgestellt, dass in Großbritannien von Seiten der ÄrztInnen keine Änderungen der Gesetzeslage, die ein striktes Verbot jeder Art von Todesbeschleunigung vorsieht, gewünscht wird: "Wir bleiben vehement gegen diese Praktiken".
nähere Infos: http://www.bizeps.or.at
aus: TATblatt +157, S. 1, 7
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