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Göteborg - eine erste Analyse

Eine erste politische Analyse der Ereignisse in Göteborg von der Anti-Fascist Action (AFA) Stockholm

Drei Tage, die Europa schadeten

Wir hätten niemals gedacht, dass die Proteste in Göteborg so sein würden. Die Ereignisse haben das Establishment - Medien, Polizei und PolitikerInnen - in einen Schockzustand versetzt. Und Schock ist noch das annäherndste, womit man den Zustand unserer Bewegungen beschreiben kann, die an den Protesten in Göteborg teilnahmen. Wir werden lange brauchen, zu verstehen, was dort passiert ist. Wir haben bei Motkraft [ein linkes Internetprojekt in Schweden] versucht, täglich über das zu berichten, was während des Gipfels in Göteborg passiert. Unsere Texte waren oft bloße Aneinanderreihungen der Ereignisse, wir haben keine Zeit gefunden, anzuhalten, nachzudenken und das Geschehene zu analysieren.

Dies hier ist ein erster Versuch, ein übergreifendes Bild zu zeichnen. Denn ein alternatives Bild ist notwendig, wenn man sieht, wie einheitlich pechschwarz die Schilderungen der etablierten Medien von den Protesten waren. Noch einmal hat sich gezeigt, wie wichtig es ist, über unabhängige Medien zu verfügen. Denn das Bild der kommerziellen Medien ist klar: Sie verteidigen das Eigentum mehr als die Menschen. Sie sind mehr empört über eingeschlagene Schaufenster, als über Übergriffe gegen soziale Bewegungen oder über angeschossene DemonstrantInnen. In den letzten Tagen hat es [in Schweden] keinen Raum für soziale Bewegungen gegeben, ihrer Empörung Gehör zu verschaffen und ihre Sichtweise deutlich zu machen. Die meisten Artikel sind von solch mieser Qualität, dass sie ebenso gut alle Pressemitteilungen der Polizei direkt abdrucken könnten. Wir warten immer noch darauf, dass sich die ersten kritischen Stimmen erheben.

Göran Persson [der schwedische Ministerpräsident] hat im Fernsehen versucht, uns als eine Armee darzustellen - mit viel besseren Waffen, großen ökonomischen Ressourcen und gut organisiert. Alle, die mit uns in Kontakt gekommen sind, wissen, dass nichts davon wahr ist. Der Teil der außerparlamentarischen Linken, zu dem wir gehören, ist in losen Netzwerken organisiert. Die internationale Organisierung passierte dadurch, dass wir per E-Mail Einladungen verschickten und dass wir herumreisten und auf Treffen in Europa Apelle hielten, wie bei der LL-Demo in Berlin und beim PGA-Treffen in Mailand. Das ganze Frühjahr über haben wir Soliparties organisiert, um etwas Geld zu bekommen und das meiste haben wir aus eigener Tasche bezahlt. Wir haben keine Zuschüsse für unsere Tätigkeiten bekommen.

In den Medien wurden wir als ein Anhängsel der "seriösen" Proteste dargestellt. Auch dieses Bild hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Wir haben einen großen Teil der Aktivitäten vor dem Gipfel organisiert, unter anderem durch unsere aktive Teilnahme am großen Bündnis "Göteborgsaktionen 2001". Dieses Bündnis wäre ohne die Arbeit der libertären Linken unmöglich gewesen.

Unsere Aktivitäten wurden mit den Krawallen, mit Gewalt und mit Vermummung verbunden. Ironischer weise gerade zu einem Zeitpunkt, an dem wir neue Wege des Protestes jenseits der Straßenschlacht suchten. Ya Basta entwickelte das White Overall-Konzept um aus der Sackgasse zu kommen, in die sie die italienische autonome Bewegung sahen. Im Norden waren sowohl "Globalisering Underifrån" [Globalisierung von unten] als auch die AFA [autonome Antifa] von diesen Formen inspiriert.

Wir entschieden uns, mit einer bedeutend größeren Offenheit zu arbeiten als sonst. Wir planten fantasievolle Blockaden, bei denen wir uns friedlich hineinschieben wollten mit Körperschutz, um nicht von den Polizeiknüppeln verletzt zu werden. Aus diesen Aktionen wurde nichts. Der Einsatzleiter der Polizei, Håkan Jaldung, erklärte frühzeitig, dass er willens sei, alle Aktionen zu stoppen, bevor sie ankommen [am Gipfelgelände]. Von daher begann die Gipfelwoche mit Zugriffen auf Schulen und Wohnungen. Die Repression traf besonders unsere Strukturen, sie verhafteten unsere AktivistInnen, verhinderten unsere Treffen und beschlagnahmten unseren Körperschutz.

Wir distanzieren uns nicht von den Krawallen, die ausbrachen, im Gegenteil, viele von uns nahmen aktiv daran teil. Aber wir können nicht sagen, dass wir es waren, die die Tagesordnung bestimmten.

Sämtliche Krawalle die entstanden, passierten nach Polizeiangriffen. Am Donnerstag führte die Einkesselung und Räumung der Hvitfeldska-Schule zu Ausbruchsversuchen. Gleichzeitig führte die Räumung des Vasaparkes vor der Schule zu Zusammenstößen. Am Freitagmorgen griff die Polizei DemonstrantInnen an, die auf die Absperrungen zugingen, wonach Krawalle auf der gesamten Avenyn [das Vorzeige-Boulevard von Göteborg] ausbrachen. Am Abend hatte die Polizei sich entschlossen, die Reclaim the City-Party um jeden Preis aufzulösen, die Stadt wurde mit Containern versiegelt und die Party angegriffen, Krawalle brachen aus und die Polizei eröffnete das Feuer.

Wenn die Polizei sich zurückhielt, liefen die Proteste friedlich ab, wie die Anti-Bush-Demo am Donnerstag, die Nein-zur-EU-Demo am Freitag abend und die große Bündnisdemo am Samstag. Göteborgsaktionen [das Bündnis] verstand sehr früh, dass der beste Weg, um Ruhe und Ordnung zu erhalten war, die Polizei dazu zu bekommen, sich so fern wie möglich zu halten, und sie bekamen Recht.

Einige Bilder haben sich einem eingebrannt. So die Sozialdemokraten, in Göteborg, die die Polizei lobt, die AktivistInnen angeschossen hat. Der Aushang der Zeitung "Aftonbladet", der diese Bullen zu Helden ernennt. Die Wirtschaft in Göteborg, die öffentlich der Polizei dankt. PolitikerInnen, Medien und Wirtschaft klopfen sich gegenseitig auf die Schulter.

Wir wurden niemals so gedemütigt wie während dieser Tage. Die schwedische Polizei war die erste, die das Feuer auf die Globalisierungs-Protestbewegung eröffnete. Drei unserer GenossInnen wurden niedergeschossen, wovon einer um sein Leben kämpft. In ganz Göteborg gab es willkürliche Verhaftungen während des Ausnahmezustandes am Samstag - "Operation Sanierung" - mit der Einkesselung aller Menschen auf dem gesamten Gebiet des Järntorget als Höhepunkt. Bei der Stürmung der Schiller-Schule am Samstag schleifen mit Maschinenpistolen bewaffnete Bullen junge Leute aus ihren Schlafsäcken und zwingen sie, in Unterwäsche vor der Schule auf dem Boden zu liegen. Die hunderte Personen von "Globalisering Underifrån", die an der Hvitfeldska-Schule verhaftet wurden, bewahrten dort ihre weißen Overalls für ihre gewaltfreie Aktion. Deutsche AktivistInnen wurden aufgrund des Terroristenparagraphen im Ausländergesetz verhaftet. Wie kann jemand erstaunt sein, dass so eine Situation explodiert?

Was wollten wir eigentlich? Aus Teilen der außerparlamentarischen Linken hatten wir uns einige konkrete Ziele für Göteborg gesetzt. Wir wollten den Gipfel stören, die Polizei sollte sehen, dass sie die Sicherheit des Gipfels nicht garantieren kann und wir wollten den Versuch der Sozialdemokraten brechen, einen neuen Konsens über das EU-Projekt aufzubauen. Die EU als Institution wurde gebildet, um einen europäischen Binnenmarkt zu schaffen und neoliberale ökonomische Politik durchzusetzen. Für die Mehrheit der EuropäerInnen (und der Weltbevölkerung) bedeutete dies eine gesteigerte Ausbeutung, da wir gezwungen werden, mehr zu arbeiten für weniger Geld, und weniger Einfluss und Macht über unser eigenes Leben zu haben. Wir haben uns entschieden, uns an den globalen Protestzug gegen ökonomische Gipfeltreffen anzuhängen, der in den letzten Jahren in Fahrt gekommen ist. Krass formuliert kann man sagen, dass dieses Ziel erreicht wurde.

Es wären niemals so viele Leute nach Göteborg gekommen, wenn es nicht darum gegangen wäre, auf der internationalen Protestwelle gegen die Gipfel mitzureiten. Deshalb brauchten wir keine Ressourcen oder eine große Organisation, um die Leute dafür zu interessieren, zu kommen.

Es sollte nicht merkwürdig anmuten, dass Leute aus ganz Europa kommen, um dagegen zu Protestieren, dass die "Entscheidungsträger" hier sitzen und eine Politik bestimmen, die ganz Europa betrifft. Aber dennoch ist es genau das, wogegen das Establishment Sturm läuft.

Die Ökonomie wird globalisiert. Die staatlichen Institutionen, die der Ökonomie dabei dienlich sind, werden globalisiert. Menschen werden global versetzt als passive Objekte, als Ware Arbeitskraft. Aber wenn die Menschen beginnen, sich global als aktive Subjekte zu bewegen, egal ob sie sich zu internationalen Protesten bewegen oder ob sie nach Europa ziehen, dann ist auf einmal Schluss mit der Bewegungsfreiheit und der Globalisierung.

Wir wurden als rückwärtsgewandt bezeichnet, es wurde gesagt, dass wir Angst vor Veränderung haben. Aber wir glauben nicht an ein Schweden außerhalb der EU, Nationalstaaten in all ihren Formen sind heutzutage verschmolzen mit den Interessen des Kapitals. Wir träumen nicht von irgend einem goldenen Wohlfahrtsstaat in der Vorzeit. Nur wenn das Kapital und die Staaten global werden, muss auch der Kampf der sozialen Bewegungen global werden, um Erfolg zu haben. Wir sind nicht gegen Globalisierung, aber wir glauben an eine Globalisierung von unten. Eine Organisierung sozialer Bewegungen, die auf internationaler Gegenkonferenzen und sozialen Foren (wie im brasilianischen Porto Alegre) stattfindet. Hier, in den globalen sozialen Bewegungen, sie sich ihrer eigenen Kraft bewusst werden, beginnt die Demokratie in der wahren Bedeutung des Wortes Gestalt an.

Heute merken wir, die wir die Proteste mitorganisiert haben, eine große Müdigkeit. Der Preis war hoch. Wir werden uns einige Wochen Urlaub leisten und dann nehmen wir neuen Anlauf auf das G8-Treffen in Genua und auf den globalen Aktionstag gegen Kapitalismus im Zusammenhang mit dem Treffen von IWF und Weltbank in Qatar im November.
Göteborg mag uns hart getroffen haben - aber die Ereignisse dieser Tage haben und Kraft und Hoffnung in Menschen auf der ganzen Welt gegeben, die globale Protestwelle weiterzutragen.

Alle Leute, die an den Protesten in Göteborg teilnahmen, egal was sie gemacht haben, verdienen einen großen Applaus. Ein großer Dank an das Bündnis Göteborgsaktionen und da besonders an all die Organisationen, die aktiv diese Zusammenarbeit möglich gemacht haben: SAC, Miljöförbundet Jordens Vänner, Rättvisepartiet Socialisterna, Socialistiska Partiet, AFA und Attac.
 

aus TATblatt Nr. +169 vom 29. Juni 2001
 
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