"Feuer oder Brot!"
Zur Logik der Revolten
hobo
"Hier überfällt die wegen der Kornteuerung erbitterte Bevölkerung die Märkte und teilt das Getreide zu einem Preis unter sich auf, den sie selbst festsetzt. Dort sind es Banden von Bettlern, die die reichen Bauern bedrohen, um Brot zu erhalten. Wieder anderswo lassen sich Übeltäter zu verbrecherischen Anschlägen gegen Getreidehändler und Müller hinreißen. Außerdem werden Brände gemeldet, die auf Böswilligkeit zurückgeführt werden", berichtet die französische Zeitung La Réforme am 13. Dezember 1846 über Unruhen, die das Land seit Mitte des Jahres heimsuchen.
Arbeitslosigkeit, Lohnkürzungen und eine prekäre Versorgungslage lassen 1846 in Frankreich (Land-)ArbeiterInnenkoalitionen entstehen, Streiks ausbrechen und Subsistenzunruhen losbrechen. Insbesondere der trotz der Ernährungskrise florierende Handel und die Spekulation mit Getreide lassen die aufgebrachte Bevölkerung immer wieder Getreidetransporte stoppen, das Getreide an Ort und Stelle zu einem selbst festgesetzten Preis verkaufen oder verteilen. Getreide solle die Region, in der es geerntet wurde, nicht verlassen dürfen, vielmehr verbilligt an die Bedürftigsten abgegeben werden, so eine verbreitete Forderung.
Bei den Unruhen ist die Beteiligung von Frauen auffällig hoch, wie auch zeitgenössische Kommentare wiederholt bemerken. In Nantes werden sogar Truppen gegen aufrührerische Frauen eingesetzt, die andernorts die Kontrolle über die Marktvorgänge übernehmen, die Steuereintreibung beim Getreidehandel überwachen und Spekulationen unterbinden. Stein des Anstoßes ist wiederholt auch das metrische Messsystem, das als Symbol der ökonomischen Zentralisierung gesehen wird, oder Dreschmaschinen, die die LandarbeiterInnen um ihre Arbeit bringen.
Als im Winter 1846/47 große Teile der französischen Bevölkerung von Verelendung betroffen sind, geraten die Subsistenzrevolten zu Massenphänomenen. Jedoch haben diese sozialen Bewegungen noch keine Organisation im politischen Sinn, wodurch ihre Aktionen in aller Regel auch unvermittelter auftreten, als das später der Fall sein wird. Die Organisation übernimmt zuerst einmal der noch junge Kapitalismus selbst, indem er die verarmte und oft vagabundierende Bevölkerung in Städten und Fabriken konzentriert. Erst damit werden die Bedingungen geschaffen für die Entstehung einer ArbeiterInnenbewegung, die soziale Frage wird bald als Arbeiterfrage übersetzt. Getragen werden die sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts von nun an von utopisch-sozialistischen Sekten, sozialrevolutionären Geheimgesellschaften, kommunistischen Geheimbünden. Der Bandbreite vorangegangener Revolten können diese aber nicht gerecht werden. Die Angriffe von unten, die noch der Industrialisierung und dem Lohnsystem an sich gegolten hatten, werden kanalisiert und interpretiert als der Kampf um die möglichst beste Beteiligung an diesem. "Den kommunitären Traditionen wurde eine Utopie entgegengesetzt, die den Widerstand gegenüber Zumutungen der Industrialisierung zu überwinden suchte. Die Angriffe auf das Lohnsystem und das Privateigentum von unten her wurden zur schönen neuen Welt der Arbeit und des Sozialismus umgebogen." (A.M.)
Die Auseinandersetzungen ob dieser Frage im "Bund der Gerechten" können als beispielhaft herangezogen werden. Dieser "Bund der Gerechten" war eine der frühen deutschen Handwerker-Arbeiterorganisationen, die in Paris gegründet wurde. Unter dem Einfluss von Marx und Engels sollte 1847 der "Bund der Kommunisten" daraus hervorgehen. Zuvor aber versuchte Wilhelm Weitling seinem Konzept von Kommunismus als revolutionäres Sofortprogramm für die nun verarmte und verelendete Bevölkerung zum Durchbruch zu verhelfen, und scheiterte an den Fraktionen, die auf die Aufklärung und Bildung der Arbeiter(Innen) bis zu einem späteren revolutionären Moment setzten. Während Weitling auf das revolutionäre Element der Pauperisierten und Verachteten zählte, sah sich die Mehrheit im "Bund der Gerechten" in einer Position, die es ihnen rechtfertigte, Generationen von ArbeiterInnen zu bilden und zu erziehen. Ein "ewiges Verschieben von heute auf morgen", wie Weitling kommentierte.
Als Ahlrich Meyers Artikel und Untersuchungen zu den sozialen Bewegungen im Frankreich des 19. Jahrhunderts, zu Wilhelm Weitlings sozialrevolutionären Konzepten, zu vormarxistischen Sozialisten und Kommunisten und anderen sozialen Utopien des 19. Jahrhunderts unter dem Titel Die Logik der Revolten, Studien zur Sozialgeschichte 1789-1848 in Buchform zusammengefasst wurden, stellten die Proteste gegen die Politik des IWF in den 80er Jahren den aktuellen Bezugspunkt her, um sich mit den vielschichtigen Kämpfen frühindustrieller Unterklassen gegen die Durchsetzung des Kapitalismus in Europa zu beschäftigen, wie das Vorwort betont.
Das Kind mag inzwischen einen neuen Namen haben und Globalisierung heißen, die weltweiten Proteste dagegen flammen auf alle Fälle immer wieder auf. Meyers Zusammenstellung, der Versuch, "die Verengungen des marxistischen, an der Formierung der Arbeiterklasse orientierten Geschichtsbildes aufzubrechen und die Autonomie und Logik der antikapitalistischen Subsistenzrevolten vor 1848 nachzuweisen", ist somit auch heute noch lesenswert.
Ahlrich Meyer
Die Logik der Revolten
Studien zur Sozialgeschichte 1789-1848
Assoziation Schwarze Risse/Rote Straße; 1999
320 Seiten; ca. 240.-
aus TATblatt Nr. +177 vom 15. November 2001
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