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Judenmord

hobo

Im Vorwort zu seinem aktuellen Buch erinnert Christopher R. Browning an die Tatsache, dass der Pionier der Holocaustforschung, Raul Hilberg, in den 50er und 60er Jahren weder einen Verlag für sein inzwischen zum Standardwerk gewordenes Buch The Destruction of the European Jews finden konnte, noch eine wissenschaftliche Zeitschrift, die sich um seine Untersuchungen annehmen wollte. Inzwischen haben sich die Zeiten doch geändert, Holocaustforschung als eine akademische Disziplin gibt es nun seit ca. 25 Jahren, und die Bandbreite der dazu erschienenen Titel ist umfassend.

Nun macht jedoch das Thema allein noch kein gutes Buch. In der Aufregung und den Diskussionen (auch innerhalb der Linken) ob Daniel J. Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker und den als Anti-Goldhagen präsentierten Norman G. Finkelstein (Die Holocaust-Industrie; s.dazu TATblatt +169) wurde wiederholt auf Christopher R. Brownings Untersuchung über die Beteiligung und Motivation Ganz normaler Männer des auch an Massentötungen beteiligten deutschen Reserve-Polizeibataillons 101 verwiesen. Diese Arbeit hatte die wichtigsten Schlüsse Goldhagens schon vorweg genommen, das Buch gilt allgemein als das an akademischen Prinzipien gemessen ausgereiftere. Mit seinen neuen Untersuchungen mit dem schlichten Titel Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter wird Browning seinem guten Ruf gerecht und erweitert sein Untersuchungsfeld um besonders aktuelle Fragestellungen.

Die Frage und Suche nach einem eindeutigen "Führerbefehl" Hitlers zur "Endlösung der Judenfrage" erweist sich als stiller Dauerbrenner der Zeitgeschichte. Versuche, eine punktuelle Entscheidung in dieser Frage festmachen zu können, sind immer für eine Schlagzeile gut, und bekanntlich wird das Fehlen einer solchen Entdeckung von ganz rechter Seite sogar für eine Art Reinwaschung Hitlers ins Feld geführt. Was von den Interpretationen des Forschungsgegenstandes dann bis in die Zeitungen gelangt, geht jedoch selten über eine Episoden-Forschung hinaus.

Auch Christopher R. Brownings neuestes Buch kreist wiederholt um die Frage nach einer zeitlichen Festlegung wenigstens eines "Grundsatzentschlusses" für die Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen. Allerdings finden sich Brownings Deutungen in eine umfangreiche Untersuchung der NS-Politik von den Plänen einer "ethnischen Säuberung" hin zum Plan der "biologischen Ausmerzung des gesamten Judentums in Europa" (Alfred Rosenberg) eingebettet. Die Beschreibung einer "dynamischen Entwicklung der nationalsozialistischen Judenpolitik" ermöglicht Browning, die offenkundigen Widersprüche in derselben und die oft verworrenen Wege zu den massenmörderischen Entscheidungen nachvollziehbar zu machen. Widersprüche können bestehen bleiben ohne die vorgelegten Forschungsergebnisse in Frage zu stellen, wenn sie als Produkte eines "dialektischen Interaktionsprozesses zwischen Zentralgewalt und lokalen Instanzen" gesehen werden, die "die gegenseitige Radikalisierung förderten".

Browning unterteilt die Entwicklung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik grob in drei Teile. Den Plänen von einer Vertreibung und Umsiedlung ganzer Bevölkerungen folgten die Fehlschläge beim Aufbau eines rassistischen Imperiums in Polen in den Jahren 1939-41. In dieser Zeit verortet Browning wichtige Weichenstellungen in Richtung "Endlösung". Zu verstehen sei die Entscheidung zur vollständigen Vernichtung aber erst im Zusammenhang mit den rassenimperialistischen Plänen eines Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion.

Die damit einhergehenden "Hungerpläne" der Nazis sahen die langsame Dezimierung der Bevölkerung vor. "Viele 10 Millionen von Menschen" sollten nach Plänen des Wirtschaftsstabes Ost sterben müssen, während die eroberten Gebiete als "Kornkammer des Reiches" dienen sollten.

Die Widersprüchlichkeit der nationalsozialistischen Politik und den Streit verschiedener Interessen auf dem Weg zur Massenvernichtung erläutert Browning anschaulich in einem Kapitel über jüdische Arbeitskräfte in Polen. Parallel zu Umsiedlungsplänen und der Errichtung von Ghettos blieb die Frage nach Ausnützung der jüdischen Arbeitskraft für die deutsche Kriegsindustrie oder aber die "Vernichtung durch Arbeit" ungeklärt. Beide Strategien warfen mitunter logistische wie ideologische Probleme auf, die zur Änderung und Rücknahme von Weisungen und Befehlen zwangen. Diesen Wirrungen allein haben viele der "Arbeitsjuden" ihr Überleben zu verdanken. Den Erinnerungen von Überlebenden des Arbeitslagers Starachowice ist ein eigenes Kapitel gewidmet.

Wie in seiner Untersuchung zu den ganz normalen Männern des Polizeibataillons 101 schließt Browning sein jüngstes Buch mit Hinweisen auf Verhalten und Motivation der "Vollstrecker des Judenmords". Unter Einbeziehung aktueller Forschungsergebnisse bestätigt er einerseits das Bild, das er von an der Vernichtung beteiligten Ordnungspolizisten in seinem früheren Buch gezeichnet hat, weist sehr wohl aber auch auf die durch Einsatzort und –zeitpunkt bedingten Unterschiede hin.

Einfache Schlüsse sind Brownings Sache nicht.

Brownings Buch besticht weiters durch den Umfang des verarbeiteten Quellenmaterials und sein Geschick zur Deutung und Einordnung von Zitaten. Der Verlag ist dem Autor durch eine aufwendige Gestaltung des Bandes nur gerecht geworden.

Eine Empfehlung.

Christopher R. Browning
Judenmord
NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter
S. Fischer Verlag, 2001
280 Seiten; ÖS 364.- (€ 26,44.-)

aus TATblatt Nr. +178 vom 29. November 2001

 
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