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Hitlers Österreich

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Im Vorfeld des Besuchs des deutschen Kanzlers Schröder in Wien im Mai dieses Jahres meldete sich der FPÖ-Generalsekretär Peter Sichrovsky zu Wort. Auf die Diskussionen rund um die Politik der Entschädigung für NS-Opfer Bezug nehmend meinte er, der deutsche Kanzler solle sich bei der österreichischen Regierung für die "Wiedergutmachung" an diesen Menschen bedanken: "Vielleicht sollte sich der deutsche Kanzler bei der (...) Regierung bedanken, dass sie mit österreichischem Steuergeld heute jene versucht zu entschädigen, die durch die Verbrechen der Deutschen zu Schaden gekommen sind." Das KZ Mauthausen sei "keine österreichische Erfindung", führte er weiter aus, und attackierte die angeblich vom deutschen Außenminister Fischer entworfene "Geschichtslüge, dass es eine gemeinsame Verantwortung von Deutschland und Österreich gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit gäbe" (zitiert nach Der Standard vom 11.05.2001). So kann das freilich auch gesehen werden.

"Es waren zwar lediglich acht Prozent der Bevölkerung des Großdeutschen Reiches Österreicher, dafür stellten diese aber 14 Prozent der SS-Mitglieder und 40 Prozent der an dem Massenmord beteiligten Schergen, vom Euthanasieprogramm bis hin zu Auschwitz", hält der amerikanische Historiker Evan Burr Bukey den Sichrovsky’schen Ausführungen entgegen. Dabei ist sich Bukey der beschränkten Aussagekraft statistischer Angaben durchaus bewusst. Für sein Buch Hitlers Österreich, "Eine Bewegung und ein Volk" durchstöberte er sodann bisher zum Teil nicht zugängliche Aktenbestände des NS-Sicherheitsdienstes, von Geheimdiensten und Diplomaten. Derart versuchte der Autor, eine "Volksstimmung" nachzuzeichnen, die er als die "kollektiven Einstellungen der Gesellschaft oder das, was gelegentlich auch zivile Moral genannt wird", als reaktive und unbewusste Verhaltensmuster und Gewohnheiten der Menschen, beschreibt.

Bukeys Thema sind die Freuden und Ängste, die Hoffnungen und Zweifel der großdeutschen ÖsterreicherInnen, die diese dem Naziregime entgegenbrachten. Das Studium und Bukeys Interpretationen der Aufzeichnungen des NS-Sicherheitsdienstes lassen einen intimen Blick auf die Mehrheit der ÖsterreicherInnen zu, die Hitlers Politik vom Anschluss bis zum bitteren Ende unterstützte, vor allem seine Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie die antijüdischen Maßnahmen bis zum Massenmord.

Den Antisemitismus analysiert Bukey dabei als "das unwiderstehliche Leitmotiv, das Millionen Menschen anzog, die andere Aspekte des Hitlerismus ablehnten". Diesen Antisemitismus der ÖsterreicherInnen und seine Besonderheiten verfolgt Bukey einleitend zurück bis zur Staatsbildung im 17. Jahrhundert und die Rekatholisierung des Landes. Im habsburgischem Vielvölkerstaat attestiert er dem Antisemitismus, zentrales Element des deutschen Nationalismus in Österreich gewesen zu sein, und beschreibt die wichtigsten antisemitischen Bewegungen und Parteien in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Die Untersuchung der Zwischenkriegszeit umfasst einige Kapitel und muss doch zu gerafft bleiben, wobei in diesem Abschnitt Bukeys Darstellungen allzu sehr an die sozialdemokratische Sichtweise der Ereignisse angelehnt bleibt. Eindeutig aber bleibt Bukeys Schluss: "Die Judenfeindlichkeit war in der österreichischen Psyche tief verwurzelt."

Die Nazis waren demnach nicht darauf angewiesen, den Antisemitismus in Österreich zu installieren. Nach dem bejubelten Anschluss stellte ein amerikanischer Beobachter fest: "Die Braunhemden in Nürnberg hatten die Naziparolen nie mit einer solchen Inbrunst gegrölt." Für viele Menschen bot der Anschluss nur die willkommene Gelegenheit, "die Judenfrage zu lösen", die antisemitischen Gewaltausbrüche wurden von den österreichischen NationalsozialistInnen und ihren KomplizInnen verübt, nicht von den deutschen. Nach dem Anschluss behaupteten rund 43 000 österreichische Nationalsozialisten, "alte Kämpfer" zu sein, die Hitler schon vor der Machtübernahme unterstützt hätten. Bei der Verteilung der Pfründe sahen sie sich aber bald in Konflikt mit bis zu 121 000 "Illegalen", die sich als die wahren Untergrundkämpfer sahen. Obwohl die Nazis der Ostmark die Lehren aus dem Altreich nie in Frage stellten, bestanden bald Animositäten gegen die Besetzung von Posten und Ämtern mit deutschen Parteigenossen. Ausgerechnet die österreichischen Nazis beklagten sodann eine "Prussifizierung" und sahen sich als "Eingeborene in einem eroberten Land". Behindert fühlten sich die österreichischen Nazis dabei vor allem bei den von ihnen im Eiltempo durchgeführten "wilden Arisierungen", die so brutal und rücksichtslos durchgeführt wurden, dass im Sommer 1938 in Wien SS-Patrouillen eingesetzt werden mussten, um die Ordnung wiederherzustellen.

"In Österreich hatten die Nationalsozialisten es nicht mehr nötig, die Industriearbeiter zu disziplinieren", leitet Bukey seine Untersuchung der Einstellung verschiedener sozialer Gruppen gegenüber den Nazis ein, "das hatte Dollfuß bereits im Februar 1934 für sie erledigt". Selbst ein Drittel der damaligen UntergrundkämpferInnen lief 1938 zu den Nazis über, der überwiegende Rest der organisierten ArbeiterInnen verhielt sich still.

Die katholischen Klüngel im Land (90,5 Prozent waren KatholikInnen; 36 bis 45 Prozent wählten vor 1938 Christlich-sozial) hatten wiederum so große Angst vor einer austro-marxistischen Diktatur, dass sie den Nationalsozialismus als das kleinere Übel sahen. Während die Nazis noch 1938 ihre antiklerikale Kampagne starteten, waren die Bischöfe immer um einen Ausgleich mit dem Regime bemüht. Als sie sich durch die antikirchlichen Maßnahmen endlich zu einem Protestbrief an Hitler genötigt sahen, in diesem aber die Lage der jüdischen Menschen mit keinem Wort erwähnten, bildete dies nach Bukey "den Gipfel ihres Versuchs, eine gemeinsame Grundlage mit (dem) Regime zu finden".

Neben der Struktur der NSDAP selbst, ihrer Mitglieder und FunktionärInnen, rückt Bukey auch die Bauernschaft und ihre Reaktion auf den Anschluss in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. Auch im dritten Teil, der die Stimmung gegenüber dem Regime während des Krieges analysiert, besticht Bukeys Befund durch seine Umsicht. Er differenziert zwischen Verhalten, das den ÖsterreicherInnen unter Bedrohung abgenötigt wurde, und vorauseilendem Gehorsam, das diese an den Tag legten. Lokale Unterschiede insbesondere zwischen Wien und den Bundesländern werden herausgearbeitet, und die Stimmungsschwankungen parallel zum wechselnden Kriegsglück betont. Feierte die deutsche Wehrmacht Erfolge an der Front, waren die ÖsterreicherInnen begeisterte Nazis, ließ sie das Kriegsglück im Stich, betonten sie gerne ihre österreichische Eigenständigkeit.

Unbeeindruckt von den Fehlschlägen und Niederlagen des Regimes blieben die ÖsterreicherInnen aber in ihrem Antisemitismus, der sich so grausam gebärdete, dass selbst Deutsche schockiert waren. Wenigstens zehntausend WienerInnen – von wohlhabenden Geschäftsleuten bis zu Arbeitern und Prostituierten – hatten sich an Pogromen beteiligt noch bevor die Nazis diese angeordnet hatten, und selbst in der inszenierten "Kristallnacht" war die Gewalt in Wien so grenzenlos wie in keiner anderen deutschen Stadt. "In Österreich bildete der Antisemtismus viel stärker als im Altreich das integrative Element für die NS-Herrschaft. (...) Durch die Beseitigung der Juden steigerte das Regime seine Beliebtheit, weil auf diese Weise die sozialen, ökonomischen und psychischen Bedürfnisse breiter Bevölkerungschichten befriedigt wurden", resümiert Bukey entlarvend.

Akte des Widerstandes gab es. Sie bleiben nicht unerwähnt, doch hält sie der Autor im Allgemeinen für überschätzt. Sorge bereiten ihm die Kontinuität der autoritären Denkweise und das Fortbestehen eines weit verbreiteten Antisemitismus in diesem Land.

Nachdem auch Daniel J. Goldhagen in seinem Buch Hitlers willige Vollstrecker die Situation in Österrreich praktisch nicht berücksichtigt hat, schließt Evan Burr Bukey mit seiner Untersuchung eine allzu lang klaffende Lücke. Unbedingt lesenswert!

 

Evan Burr Bukey
Hitlers Österreich
"Eine Bewegung und ein Volk"
Europa Verlag, 2001
412 Seiten; ÖS 354.- (Euro 25,73.-)

aus TATblatt Nr. +179 vom 14. Dezember 2001

 
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