Am
6. Mai wollten es zumindest einige "starke Arme", und so standen
zwar nicht alle, immerhin aber doch einige sehr wesentliche Räder still.
Was aber ist eigentlich "der Sozialstaat", für dessen Erhalt
da gegen die Regierung und ihre Pläne gestreikt wird? Eine Frage, die
auch die TATblatt-Redaktion nach Erscheinen der letzten Ausgabe quälte,
in der es doch so unerläutert hieß: "Da geht es nicht mehr
um ein paar Cent da und dort und um ein paar "Ersparnisse" zu
Gunsten eines leidenden Budgets, es geht vielmehr um die Zerschlagung eines
ganzen Systems sozialer Sicherheit." Und da, so meinten einige nicht
ganz zu Unrecht, stelle sich doch die Frage, ob es denn nicht auch genügend
Gründe gäbe, dieses "ganze System der sozialen Sicherheit"
in Frage zu stellen? |
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Die
BetreiberInnen des Sozialstaatsvolksbegehrens, das vor etwas mehr als einem
Jahr rund 700 000 ÖsterreicherInnen mit ihrer Unterschrift unterstützten,
hatten sich um die Antwort auf diese Frage mehr oder minder erfolgreich
herumgedrückt. Sie wollten lediglich die Passage "Österreich
ist ein Sozialstaat. Gesetzgebung und Vollziehung berücksichtigen die
soziale Sicherheit und Chancengleichheit der in Österreich lebenden
Menschen als eigenständige Ziele" als Erläuterung einer neu
zu schaffenden Staatszielbestimmung in der Bundesverfassung verankert wissen.
Und: "Die Finanzierung der Staatsausgaben orientiert sich am Grundsatz,
dass die in Österreich lebenden Menschen einen ihrer wirtschaftlichen
und sozialen Lage angemessenen Beitrag leisten." Formulierungen, die
mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten: Beiträge zu was genau sollen
denn da geleistet werden? Was heißt eigentlich angemessen? Und wer
legt eigentlich fest, wofür der Staat Geld ausgeben soll?
Jedenfalls
als wesentliche Bestandteile des Sozialstaats gelten Einrichtungen wie
die Pensionsversicherung, die Arbeitslosenversicherung, die betriebsrätliche
Mitbestimmung oder auch der Acht-Stundentag. Erstaunlich ist diese unvollständige
Aufzählung aus zweierlei Gründen. Zum einen, weil hier vier
Materien aufgezählt wurden, die gegenwärtig Ziel ganz erheblicher
Veränderungswünsche der Bundesregierung sind; zum anderen aber
- und damit nähern wir uns wieder ein wenig der einleitenden Fragestellung
an - weil diese Einrichtungen in Österreich den Jahren 1918 bis 1922
durchgesetzt werden konnten, und zwar nicht mit revolutionärer Energie,
sondern zur Verhinderung revolutionärer Entwicklungen...
Auch wenn
ex post (etwa angesichts der niedergeschlagenen Revolutionen in Bayern
und Ungarn 1919 und der wenig erfreulichen Entwicklung des "revolutionären"
Russland) durchaus in Frage gestellt werden darf, ob eine sozialistische
Revolution in Österreich 1918/19 Chance auf Erfolg gehabt hätte,
reichte die Angst der bürgerlichen Parteien vor radikalen ArbeiterInnen
doch so weit, dass sie der Einführung einer Pensionsversicherung,
Arbeitslosenversicherung, des Acht-Stunden-Tages, von Betriebsräten
(formalisierte Räte sollten revolutionären Räten das Wasser
abgraben) oder etwa auch der Arbeiterkammern zustimmte.
Und auch
nach 1945 waren sozialstaatliche Errungenschaften nicht wirklich Siege
radikaler WeltverbessererInnen. Einrichtungen wie die Sozialpartnerschaft,
aber auch etwa der Familienlastenausgleichsfonds (aus dem Kinderbeihilfen,
Freifahrten, Studienbeihilfen und seit zwei Jahren auch das Kinderbetreuungsgeld
bezahlt werden) gehen auf so genannte Lohn- und Preispakte zurück,
derer vier auf Anregung der Bundesregierung zwischen 1946 und 1950 zwischen
ArbeitgebervertreterInnen und Gewerkschaftsführung ausgehandelt wurden.
Und zwar in der Regel gegen den Willen der ArbeitnehmerInnen, die eben
die Schaffung des Familienlastenausgleichsfonds mit dem Verzicht auf Inflationsabgeltung
und Lohnsteigerung bezahlen mussten. Die große Freude der ArbeitnehmerInnen
über die Schaffung derartiger sozialstaatlicher Einrichtungen lässt
sich unter anderem in der großen Beteiligung am (von der Gewerkschaft
nicht unterstützten) Oktoberstreik 1950 gegen das 4. Lohn- und Preisabkommen
ablesen. Erst nach mehreren Streiktagen, dem Einsatz von Schlägertrupps
und der Diffamierung der Streikenden als kommunistische PutschistInnen
konnte die Ruhe wieder halbwegs hergestellt werden.
So richtig
geliebt wurden die Errungenschaften des Sozialstaats nie: Trugen Acht-Stunden-Tag
& Co. nach 1918 zur vorübergehenden Stabilisierung der politischen
Situation im geschrumpften und wirtschaftlich desaströsen Österreich
bei, wurden diese Errungenschaften von einen nicht unwesentlichen Teil
der radikalen SozialdemokratInnen nur als unzureichende Zwischenschritte
auf dem Weg zur Revolution (nach austromarxistischer Lesart jener mit
50% und einer Stimme) erachtet. Das weite Spektrum der rechten und rechtsextremen
Strömungen wiederum war sich zwar bezüglich der Ziele ihrer
Politik im Großen und Ganzen uneinig, sehr wohl aber einig, dass
es einer Beseitigung des "revolutionären Schutts" (Ignaz
Seipel) bedürfe. Und auch den betroffenen Menschen, denen die Ausweitung
sozialer Rechte die Existenz sichern sollte, profitierte nicht unbedingt
von diesen Regelungen: Wer scherte sich nach 1929 schon um einen Acht-Stunden-Tag
oder einen Betriebsrat, wenn gut ein Sechstel aller ArbeiterInnen keine
Arbeit hatten (in der ersten Republik sank die Arbeitslosigkeit nur zwischen
1927 und 1929 kurzfristig merkbar unter 10%). Und schließlich erlaubte
die Interpretation des Arbeitslosenrechtes die "Aussteuerung",
also die Streichung jeglicher Unterstützung.
Auch nach
1945 wurden sozialpolitische Einrichtungen von der Mehrheit der Menschen
nicht unbedingt als Fortschritt angesehen. Zu offensichtlich war es, dass
auf diese Weise die Privatwirtschaft gestützt (eben mit den Lohn-
und Preisabkommen) und eine politische Restauration betrieben wurde (ein
erheblicher Teil der für "Sozialpolitik" eingesetzten Mittel
diente etwa der Eingliederung aus dem Osten geflohener Nazis). Bereits
die erste "Konjunkturdelle" des Wirtschaftsaufschwungs Anfang
der Sechziger Jahre mündete daher nicht zufällig in der höchsten
Zahl an Streikstunden innerhalb eines Jahres im Jahr 1962 (da ging es
etwa auch darum, dass längere Krankheiten keinen Kündigungsgrund
darstellen können, also durchaus um sozialpolitische und arbeitsrechtliche
"basics"). Diese Streiks (MetallarbeiterInnen und Exekutive
- letztere ganze 18 Tage lang) hatten auch eine allgemeinpolitische Zielrichtung.
UnternehmervertreterInnen hatten nämlich erkennen lassen, zu einer
sozialpartnerschaftlichen Kooperation mit der Gewerkschaft nicht mehr
bereit zu sein.
Erst in
der Zeit der SPÖ-Alleinregierung, in der Studiengebühren abgeschafft,
Freifahrten eingeführt usw. wurden, entstand so etwas wie ein "Sozialstaatsbewusstsein".
Erstmals in der Geschichte Österreichs waren zumindest theoretisch
Begriffe wie "Chancengleichheit", "freier Zugang zu Bildung"
oder "soziale Sicherheit" unwidersprochen anerkannte Ziele staatlichen
Handelns. Dagegen formulierten radikale Linke Widerspruch. In Kritik etwa
eines Ausspruchs des damaligen SPÖ-Generalsekretärs Karl Blecha,
die SPÖ strebe nicht "Gleichheit vor dem Gesetz, sondern durch
das Gesetz" an, wurde der Ausbau staatlicher Sicherungssysteme als
Ausbau der Kontrolle über das Individuum angesehen (nicht zufällig
korrespondierte diese Kritik mit der Publikation und Übersetzung
von Werken Michel Foucaults, der die Ausbildung des modernen Staates einzig
als Ausbau der Kontrollinstanzen beschreibt). Und so kritisierten linke
Gruppen mit besonderem Engagement Modelle wie die vom damaligen Sozialminister
Alfred Dallinger ins Leben gerufene "Aktion 8000" (NGOs erhielten
2/3 der Kosten zur Schaffung von Arbeitsplätzen) als Versuch, kritisches
Potential in staatliche Abhängigkeit (oder zumindest in Abhängigkeit
von der SPÖ) zu bringen. Ähnlich formuliert wurde auch Kritik
etwa an der Neufassung von sozialstaatlichen Regelungen wie etwa dem Wiener
Sozialhilfegesetz, das sich zwar durchaus positiv von vergleichbaren Regelungen
anderer Bundesländer abhob (was etwa sogenannte Regressforderungen
an Verwandte oder das Niveau der Leistungen betraf), aber gleichzeitig
auch den institutionellen Druck auf konforme Lebensführung verstärkte
(etwa hinsichtlich der Reintegration am Arbeitsmarkt).
Doch damit
nicht genug: Die Entwicklung sozialstaatlicher Regelungen und Schutznormen
kam in der zweiten Hälfte der Siebziger Jahre mehr oder minder zum
Erliegen. Später geschaffene soziale Schutzinstrumente beschränken
sich auf das (wesentliche) Pflegegeld (das seit seiner Einführung
de facto nicht mehr dem Kaufkraftverlust entsprechend angepasst wurde)
und dem höchst fraglichen "Kinderbetreuungsgeld". Dieser
Stillstand hat tiefe Spuren im Sozialrecht hinterlassen: Noch immer lässt
der österreichische Staat "Normfamilien" der 70er den größten
sozialen Schutz zukommen: verheirateten Ehepaaren, in denen der Mann das
Haushaltseinkommen beisteuert und der Frau die Betreuung der Kinder obliegt.
Es ist nur zu offensichtlich, dass ein derartiges System seine Schutzwirkung
in dem Maße verliert, wie die gesellschaftliche Realität von
der Normfamilie Abschied nimmt. Alleinerziehende Eltern, Patchworkfamilien
oder gar gleichgeschlechtliche Paare werden von österreichischen
Sozialsystem kaum mehr ernsthaft geschützt (vor allem, weil auch
die Rahmenbedingungen nicht stimmen: AlleinerzieherInnen etwa, die nicht
ganztags arbeiten können, gelten als nicht uneingeschränkt arbeitswillig;
die gesetzliche Situation verweigert sich hier ganz offenkundig der gesellschaftlichen
Realität, die auch noch durch das Fehlen qualitativ hochwertiger
Betreuungseinrichtungen verstärkt wird: Hieß es früher
etwa, keine Frau soll im Falle der Berufstätigkeit ein schlechtes
Gewissen haben müssen, ist "schlechtes Gewissen" gegenwärtig
staatlich produzierte Realität).
"Hängen
geblieben" ist der österreichische Sozialstaat auch hinsichtlich
des Rechtsanspruchs auf soziale Absicherung. Sowohl in der Arbeitslosenversicherung
wie auch in der Sozialhilfe und in einer Vielzahl ergänzender Schutzbestimmungen
(auf Länderebene) sind Rechtsansprüche dem Gedanken der Almosengewährung
nachgeordnet. Und immer noch verhindern unzählige Einzelbestimmungen
auf Bundes-, Landes- oder Gemeindeebene den Zugang zum Recht: Es ist kaum
möglich, Kenntnis von allen Unterstützungen zu erhalten, die
Menschen eigentlich zustünden.
Kritik substantieller
Art hat sich aber auch in Folge der Orientierung auf Cultural Studies
ergeben: Maßnahmen der sozialen Sicherung zielen nämlich stets
auf primär chauvinistische Ziele und stellen daher auch auf chauvinistische
Kriterien ab: auf StaatsbürgerInnenschaft, Kontinuität hinsichtlich
Wohnort, Familie, anerkannte Ausbildung, Sozialprestige oder gesellschaftliche
Normen ab (so gibt es etwa in Wien Unterstützung beim Kauf größerer
Fahrzeuge für Mehrlingsfamilien, nicht jedoch Unterstützung
bei der Miete passenden Wohnraums) und zwingen betroffenen Menschen, so
sie Leistungen in Anspruch nehmen wollen, politisch erwünschte Verhaltensweisen
auf. Nicht ganz unzutreffend sind daher Vorwürfe, wonach Sozialstaatsmodelle
(siehe auch die Kritik an der Sozialpolitik der SPÖ in der "Kreisy-Ära")
nichts anderes sind als die Konstruktion einer "Volksgemeinschaft".
Nicht unerwähnt
darf jedoch bleiben, dass die politischen Absichten der gegenwärtigen
Regierung fast deckungsgleich sind mit jenen der Regierungen der Zwischenkriegszeit:
dass sowohl die Angriffspunkte (Arbeiterkammern, Notstandshilfe,...) als
auch die Ziele (Reduktion des staatlich garantierten Schutzniveaus) fast
ident sind. Es macht daher durchaus Sinn, sozialstaatliche Einrichtungen
auch dann zu verteidigen, wenn sie sowohl hinsichtlich ihres Schutzniveaus
wie auch ihrer Ausrichtung fragwürdig sind. Ein Blick etwa nach Großbritannien
zeigt nämlich, dass einmal zerschlagene Schutzsysteme auch von späteren
sozialdemokratischen Regierungen nicht wiederhergestellt werden (das SPÖ-Modell
zur Pensionsreform etwa unterscheidet sich auch nur marginal von jenem
der Regierung). Die Unterstützung des Streiks und begleitender Aktionen
sind daher wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, das österreichische
Sozialsystem aus dem Mief des vergangenen Jahrhunderts zu holen und eine
intensive Diskussion über soziale Rechte zu etablieren.
Der Beweis
des Gegenteils ist jedenfalls bereits mehrfach gelungen: Die Zerschlagung
sozialer Sicherungssysteme (wie etwa im Austrofaschismus) zerschlägt
auch widerständische Strukturen und eröffnet Tore in ganz andere
Richtungen. Verelendungstheorien (also Standpunkte, die davon ausgehen,
dass es den Menschen nur schlecht genug gehen muss, damit sie "Revolution
machen") haben sich noch immer als falsch herausgestellt. Oder wie
es etwa der Sozialwissenschafter Paul Lazarsfeld (Co-Autor der Studie
"Die Arbeitslosen von Marienthal") 1930 formulierte: "Eine
beginnende Revolution muß die wirtschaftlichen Verhältnisse
auf ihrer Seite haben; eine siegreiche Revolution braucht vor allem Ingenieure;
eine erfolglose Revolution bedarf der Psychologie".
Psychologische
und psychotherapeutische Unterstützung soll, so es nach den Plänen
der Bundesregierung geht, in Zukunft übrigens wesentlich teurer werden...
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