tatblatt.net __

 

     
     
Buch-Rezension:

Georges Simenon.
Der Präsident.
Diogenes Verlag.
Neuausgabe 2003 (Original 1958).
176 Seiten.
Euro 8,20
  Der Präsident.

Der gealterte Karrierepolitiker sitzt in seinem Landhaus und hängt Träumen von vergangenen Machtspielen nach. Noch einmal will er in das politische Geschehen eingreifen und seinen ehemaligen Ministersekretär daran hindern, Ministerpräsident zu werden.
Während der Vierten Republik im Jahre 1957 verfaßte Georges Simenon ein Sittenbild über Macht und Ohnmacht, wie es auch im nachhinein besehen nicht nur für Frankreich typisch ist. Fernab von Idealen, allenfalls einem abstrakten Gemeinwohl verpflichtet, hat sich der ehemalige Ministerpräsident durch Intrigen, Verrat, Korruption und politische Krisen hindurchgearbeitet. Leider mußte er als ehemaliger Innenminister Kompromisse eingehen und auf streikende Arbeiter schießen lassen, was ihm aber immer noch weniger geschadet hatte als der Verrat seines Sekretärs an den Interessen der Nationalbank. Doch auch diese Krise hatte er überstanden und nun wartet er darauf, daß ihn ebendieser Sekretär noch einmal ersucht endlich Ministerpräsident werden zu dürfen. Letztlich bleibt das jedoch Illusion, die schon längst durch Intrigen und Bespitzelung von der Realität überholt wurde.
Auch wenn die innenpolitischen Krisen der nunmehrigen Fünften Republik Frankreichs nicht mit jenen der Vierten Republik, als durch Generalstreiks und galoppierende Inflation eine Regierung nach der anderen an- und abtrat, vergleichbar sind, hat Simenon ein epochenübergreifendes Sittenbild über Macht an der Spitze entworfen, das sich auch in den Biografien späterer Machthaber, und nicht nur französischer, widerspiegelt.
Der Präsident agiert in einer Sphäre von Kalkül und Zynismus, das sich weitgehend mit Politikerbiografien und deren Begründungen für Entscheidungen, gleich welcher Art, deckt. Es ist zu erkennen, daß der spätere Präsident Francois Mitterand einen ähnlichen Politikstil verfolgte, und daß auch sein Beginn der Karriere, ganz zu Anfang als Beamter der Vichy-Regierung in Bordeaux und damit als Kollaborateur Deutschlands, und in weiterer Folge als Kolonialminister während des Algerien-Krieges, als auf höchste staatliche Anordnung Leute wie Le Pen folterten, dem von Simenon gezeigten Muster gleicht.
Sicherlich konnten 1957 die Verhältnisse nicht so deutlich benannt werden. Die sich über Jahrzehnte hinziehende Affäre um den ehemaligen Polizeipräfekten von Paris und späteren Minister, Maurice Papon, der nicht nur ein Kollaborateur der Nazis war, sondern auch in Paris in den 50er Jahren eine Demonstration von AlgerierInnen mit 200 Toten durch Schusswaffeneinsatz zerstreute, ist eine Spätfolge der Biografie Mitterands, der Papon posthum vernichtete.
Und auch die Präsidentschaft Mitterands, der Jacques Chirac als damaligem Ministerpräsidenten öffentlich zu demütigen pflegte, wobei ihm die französische Verfassung noch dazu alle Möglichkeiten bot, bestätigt den von Simenon entworfenen Stil.

Simenon versteht es jedoch nicht nur, dem Präsidenten eine politische Dimension zu geben. Das Milieu spiegelt eine unglaubliche emotionale Kälte wider, ein emotionales Vakuum. Es ist eine reine Männergesellschaft. Frauen bewegen sich darin nur als emotional neutralisierte Megären, die autoritär aber machtlos für Gesundheit und Haushalt zuständig sind, oder als nur kurzfristig interessante Sexualobjekte, die "genommen werden". Funktionalität ist oberstes und einziges Gebot, menschliche Zuneigung ein Fremdwort. Diese absolute Entfremdung bricht erst mit der Erkenntnis der verlorenen Macht in sich zusammen.

Simenon hat mit diesem Buch alle weiteren Biografien von Politikern vorweggenommen. Besonders schöne Beispiele in diese Richtung sind etwa der finnische Landespatriarch Urho Kekkonen, der das Land zwei Jahrzehnte absolutistisch regierte und Absprachen allenfalls mit dem Kreml respektierte, während politische Entscheidungen von ihm in der Männersauna an die Regierungsmitglieder dekretiert wurden, oder auch der gegenwärtige Präsident Frankreichs, Jacques Chirac.

Die Lektüre von Simenon läßt erahnen, wie der menschliche Werdegang von Ernst Strasser als Ziehsohn Erwin Prölls, von Michael Häupl als Emporkömmling unter Ex-Vizebürgermeister Mayr und die Karriere Wolfgang Schüssels im Wirtschaftsbund verlaufen ist, bis sie zu dem wurden, was sie heute sind.

Georges Simenon.
Der Präsident.
Diogenes Verlag.
Neuausgabe 2003 (Original 1958).
176 Seiten.
Euro 8,20

     

aus TATblatt Nr. +205 Dezember 2003.

>>TATblatt-Homepage  

©TATblatt, 2003
Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck, auch auszugsweise, nur in linken alternativen Medien ohne weiteres gestattet (Quellenangabe und Belegexemplar erbeten)!

In allen anderen Fällen Nachdruck nur mit Genehmigung der Medieninhaberin (siehe Impressum).